Wir Ostpreußen, Folge 14 vom 20.07.1950

Seite 2   Die Volksabstimmung vom 11. Juli 1920

Einige Ereignisse am Rande

Der Blumenregen


Bei bitterer Februarkälte traf die Interalliierte Kommission in Allenstein ein. Das polnische Volk, durch etwa zwei Dutzend Männlein und Weiblein vertreten, hatte sich vor dem Bahnhof eingefunden, um ihre Befreier geziemend im Sonntagsstaat mit Blumen zu begrüßen. Um nach langer Nachtfahrt schnell das Bett zu erreichen, stieg die Hohe Kommission eiligst in die zum Empfang bereitgestellten Wagen. Unter begeisterten Zurufen ergoss sich über das erste Gefährt (mit preußischer Dienstflagge) ein Blumenregen. Es war der vorausfahrende - Botenmeister im Dienstwagen des Allensteiner Regierungspräsidenten.

 

Die Erfinder des Korridors

Mitunter verzögerte sich die Post aus Frankreich nach Allenstein. Exzellenz Couget glaubte, die deutschen Dienststellen verantwortlich machen zu müssen. Es wurde ihm bedeutet, dass polnische Korridorsperren die Ursache seien. Bei neuerlicher Verzögerung entfuhr der ergrimmten Exzellenz der Ausruf: „Ich möchte den Idioten kennenlernen, der den Korridor erfunden hatl"

 

Der Jäger Rennie

Sir Ernest A. Rennie, der britische Oberkommissar in Allenstein, war ein leidenschaftlicher Angler und Jäger. Als oberster Chef eines Gebietes mit umfangreichen und hervorragenden fiskalischen Jagden stand es ihm nach deutschem Brauch frei, in den Staatswaldungen um Allenstein zu jagen. Er wandte sich aber an den deutschen Bevollmächtigten Freiherr von Gayl, und dieser wies den Oberforstmeister an, ihm einen guten Bock freizugeben und dafür zu sorgen, dass er zum Schuss käme. Der zuständige Förster führte Rennie mehrfach, ohne dass der Oberkommissar Erfolg hatte.

 

 Eines Tages hatte sich Rennie in Begleitung des Försters endlich an einen starken Bock herangepirscht. In diesem Augenblick trat zwischen ihm und dem Bock ein starker Hirsch aus, den er auf sichere Entfernung härte erlegen können. Er hatte schon den Finger gekrümmt, als ihm einfiel, dass er mit dem Oberforstmeister nur den Abschuss eines Rehbocks, aber nicht den eines Hirsches verabredet hatte. Infolgedessen setzte er ab. In diesem Augenblick sprang der langgesuchte Bock ab. Der Förster war des Lobes voll über diese anständige Zurückhaltung des allmächtigen Oberkommissars. Es dürfte nicht viele passionierte Waidmänner geben, die in einer Stellung, wie Rennie sie damals bekleidete, so vornehm gedacht und gehandelt hätten. Er bekam den Bock später doch.

 

Wie Du mir ...

Mit den englischen Soldaten gab es im allgemeinen ein gutes Auskommen. In dem Oftizier musste man den Gentleman sehen, aber man musste auf gleicher Haltung von der englischen Seite bestehen. Dann waren die Engländer entgegenkommend. — Der neue englische Polizeiinspekteur, Oberst H., machte bei dem Reichskommissar Besuch. Mit Mantel, Mütze auf dem Kopf und Reitpeitsche in der Hand begrüßte er freundlich Freiherrn von Gayl, setzte sich sofort auf eine Ecke des Schreibtisches und klagte, dass es sehr kalt sei. Gayl bestätigte das, ließ sich Mantel und Hut bringen, bekleidete sich entsprechend und setzte sich auf die andere Ecke des Tisches. Bei immer freundlicher Unterhaltung, bot Gayl ihm einen Stuhl an und wählte selbst eine normale Sitzgelegenheit. Oberst H. legte, immer freundlich lächelnd, Mütze, Mantel und Peitsche ab. G. rief die Ordonnanz und befahl: „Nehmen Sie die Sachen des Herrn Oberst und meine mit in die Garderobe. Es ist wieder warm geworden." Beide haben sich seitdem immer gut verstanden.

 

Die Republik Klyn

Die Grenzgegend um Gilgenburg war bei der Abstimmung eine Wetterecke. Bei der vorläufigen Grenzziehung vor der Abstimmung blieb die Bahnlinie Osterode - Gilgenburg bis etwa drei Kilometer hinter Gilgenburg auf deutschem Gebiet. In der nächsten Nähe von Gilgenburg wohnte auf seinem Gut Bergling einer der energischsten und einflußreichsten Polenführer, Dr. Wilemski, der fast täglich den Besuch des französischen Kreisoffiziers Major Stoll empfing. Neben Bergling lag die Kolonie Klyn. Sie war um die Jahrhundertwende von einem Nachbargut abgezweigt und mit Kolonisten besiedelt worden, die nur wenige Morgen Land besaßen und als Zeitarbeiter auswärts ihr Brot verdienten. Bei der vorläufigen Grenzziehung war Klyn Niemandsland geworden und bildete fast ein Jahr hindurch die selbständige Republik Klyn, die sich allein regierte, keine Steuern zahlte und ein glückseliges Eigendasein führte. Wenn auch die Bürger dieser Republik treudeutsch dachten, so verschmähten sie es doch nicht, für Geld und gute Worte allerhand Volk bei sich aufzunehmen, das die Statistik in ungünstiger Weise beeinflusste. Klyn blieb nach der Abstimmung, ohne seine Volksmeinung kundgetan zu haben, dem deutschen Vaterlande erhalten. Während des russisch-polnischen Krieges wurde Klyn vorübergehend von den Russen besetzt.

 

Nach dem Siege

Am 12. Juli 1920 teilte Freiherr von Gayl der Interalliierten Kommission in Allenstein die Ergebnisse der Volksabstimmung in Ostpreußen mit. Der britische Oberkommissar gratulierte formell, die anderen Vertreter schwiegen. Der französische Gesandte Chevally machte ein betretenes Gesicht. Nach längerer Pause schüttelte der Marquese Fracassi, der Vertreter Italiens, sein weißes Haupt und murmelte vor sich hin: „Wo bleiben die Sachverständigen von Paris?" Die polnischen Vertreter waren nicht erschienen.

 

Die polnische Boljuwka

Für Rößel, Allenstein - Land, Ortelsburg, Neidenburg und Osterode sowie für die westpreußischen Kreise Stuhm und Rosenberg wurde von den Polen sogenannte Bojuwkas (Kampfscharen) eingerichtet und unter dem Deckmantel von Sokol-, Gesang-, Arbeiter- und Schützenvereinen getarnt. Sie bestanden zum größten Teil aus arbeitsunlustigen und zu Gewalttätigkeiten neigenden Jugendlichen. Die Werbung erfolgte in ganzen Abstimmungsgebiet, aber auch in Warschau und im eigentlichen Polen. Die Angeworbenen wurden jedoch nur den oben genannten Kreisen zugeteilt. An der Spitze der getarnten Vereine standen polnische Offiziere. Oberster Führer im Abstimmungsgebiet war der polnische Hauptmann Niemierski in Allenstein, der dem polnischen Komitee zugeteilt war und die Abteilung „Militaria" leitete. Unter seinem Befehl standen Stoßtrupps von 150 bis 170 Mann, die in Untergruppen von zwölf Mann eingeteilt waren. Als Reserve wurde zuletzt eine aus Warschauern, Posenern und Westpreußen bestehende Truppe von 300 bis 400 Mann gebildet. Ferner bestanden Pläne, eine polnische Volkswehr und eine Miliz aufzustellen; es fanden sich aber im Abstimmungsgebiet keine Männer dafür. Dagegen bestand die auf 2000 Mann aufgefüllte Bojuwka bis in den Juli 1920 hinein. Die Mannschaften erhielten monatlich tausend Mark Gehalt und entsprechende Zulagen und waren zum größten Teil mit Pistolen bewaffnet trotz des Waffenverbots der Interalliierten Kommission. Die erforderlichen Waffenscheine stellten französische Kontrolloffiziere unter der Hand aus.

 

Die Bojuwkas sollten wie die entsprechenden Polenverbände in Oberschlesien in den Grenzbezirken örtliche Unruhen hervorrufen, um den Polen Anlass zu geben, mit irregulären Truppen in die Grenzgebiete einzufallen und deutsche Gebietsteile gewaltsam zu besetzen. Dass es in Ostpreußen nicht dazu kam, ist in erster Linie auf den russisch-polnischen Krieg zurückzuführen, der in der Abstimmungszeit sich an der ostpreußischen Südgrenze entlang zog. Als man den Mitgliedern der Bojuwka Ende Juni 1920 von polnischer Seite mitteilte, dass man ab Mitte Juli auf ihre Dienste verzichten wollte, versammelten sich ihre Vertreter im Hotel Copernikus in Allenstein und beschlossen einhellig, ihre wertvollen Dienste nunmehr den - Deutschen anzubieten, vorausgesetzt, dass man sie anständig bezahlen würde. Es wurde sogar der Gedanke erwogen, in geschlossenem Zuge zum deutschen Reichskommissar zu ziehen und ihm eine Huldigung darzubringen. Doch nahm man davon Abstand. Einige der gekündigten Bojuwka-Leute suchten auf eigene Hand mit dem Deutschen Heimatdienst Fühlung zu nehmen und brüllten in den letzten polnischen Versammlungen den von Worgitzki geprägten Schlachtruf: „Ermland den Ermländern! und „Raus mit den Warschauern!" begeistert mit. So zerfiel die stolze Kampfschar noch unmittelbar vor der Entscheidung. Die nationallitauische Zeitung „Balsas" in Memel bemerkte dazu: „Die Polen schufen bewaffnete Haufen und schüchterten die Menschen so ein, dass schließlich nicht einmal die Polen von den Polen etwas wissen wollten."

 

Frau Maria Lehmann

Im Kreise Rößel fand sich kein geeigneter Mann als Kreisstellenleiter des Heimatdienstes. Da sprang eine mutige und sehr energische Frau, Maria Lehmann, ein und übernahm diese schwere Aufgabe. Für ihre ersten Fahrten über Land in die entlegenen Dörfer fand sie zunächst keine Begleiter. So musste sie sich selbst eine kleine Schutzgarde bilden. Es waren rauhe und mitunter etwas fragwürdige Gestalten, die sich ihr anboten, aber sie schützten ihre Führerin. Die Polen hassten sie wütend, und der französische Kreiskontrolleur hätte sie gern ausweisen lassen, wagte es aber nicht, weil sie das unbedingte Vertrauen ihrer Kreisinsassen besaß. Er brachte aber seine Anschuldigungen bei der Interalliierten Kommission in Allenstein vor. Frau Maria Lehmann sollte sich verantworten. Der Reichskommissar verschaffte ihr Gelegenheit, ihre Sache selbst zu verteidigen. Aus Ihrer in fließendem Französisch vorgetragenen Verteidigung wurde eine temperamentvolle Anklage gegen die polnischen Umtriebe und den französischen Kreiskontrolleur, so dass der französische Gesandte sie mit dem ehrenden Beinamen „Jeanne d' Are de Bischofsburg" auszeichnete, der sie mit der bekannten Jungfrau von Orleans in Verbindung bringen sollte. Aber noch einmal empfangen wurde sie in Allenstein nicht.

 

Seite 3   Einigkeit und Recht und Freiheit!

Dr. Schreiber auf der Abstimungsfeier in Lübeck 

Auf der Abstimmungsgedenkfeier in Lübeck am 16. Juli 1950 hielt der Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen, Staatssekretär Dr. Schreiber, die folgende Rede:

Sehr verehrte Gäste, Lübecker Bürger und meine lieben ostdeutschen Landsleute!

Der Herr Bundeskanzler hat mich beauftragt, Ihnen zu sagen, dass er Ihnen dafür dankt, dass Sie durch Ihre Einladung ihn in die Gemeinschaft dieser Feierstunde haben aufnehmen wollen, und er hat mich beauftragt, Ihnen zu sagen, wie sehr er es bedauert, dass die Folgen seiner Krankheit, von denen Sie ja Kenntnis haben, ihn verhindern, hierher zu kommen; er hat mich beauftragt, Ihnen seinen herzlichen Gruß zu übermitteln und Sie seiner Teilnahme an unserer Feierstunde zu versichern. Wir wissen aus Gelegenheiten, bei denen er unter der hohen Verantwortung seines Amtes gesprochen hat, wie er die Dinge sieht, die uns heute hier zusammengeführt haben. Er hat in seiner Regierungserklärung bei der Übernanhme seines Amtes gesagt: „Wir können uns daher unter keinen Umständen mit einer von Sowjetrussland und Polen später einseitig vorgenommenen Abtrennung dieser Gebiete abfinden. Diese Abtrennung widerspricht nicht nur dem Potsdamer Abkommen, sie widerspricht auch der Atlantik-Charta. Wir werden nicht aufhören, in einem geordneten Rechtsgang unsere Ansprüche auf diese Gebiete weiter zu verfolgen", und er hat zusammen mit seiner Bundesregierung, dem Bundesrat und der überwältigenden Mehrheit des Bundestages zu dem kürzlichen Abkommen von Warschau in feierlicher Form im Plenum unserer Volksvertretung erklären lassen: „Niemand hat das Recht, aus eigener Machtvollkommenheit Land und Leute preiszugeben oder eine Politik des Verzichts zu betreiben." Soeben ist sinngemäß diese gleiche Erklärung zu dem Prager Abkommen über das Sudetenland wiederholt worden. Sie sehen daraus, dass er in dieser Stunde unter uns weilt.

 

Und nun darf ich als Sprecher unserer Landsmannschaft Ostpreußen und zugleich im Sinne der Sprecher aller anderen deutschen Landsmannschaften, die vorgestern zusammen waren, versuchen, Ihnen das zu sagen, was ich für den Kern und das eigentliche Wesen dieser Stunde halte, die bedeutsam ist durch die Zeit, in der sie stattfindet, und bedeutsam durch den Ort, an dem sie stattfinden darf. Es hat nicht damit sein Bewenden, dass wir heute wieder sagen, was wir alle wissen und worin wir übereinstimmen: dass wir unsere Heimat zu Recht besaßen, und dass wir unsere Heimat lieben, und dass wir unsere Heimat niemals aufgeben dürfen. Es ist noch etwas anderes.

 

Als ich vor dreißig Jahren vom Rhein nach meiner Geburtsstadt Marienburg fuhr und damals mit vielen anderen meine Stimme in die Urne legte, da war dieser Tag für mich ein Erlebnis,- nicht deshalb, weil ich eine Pflicht erfüllte, die mir selbstverständlich war, sondern weil ich erleben durfte, dass diese gleiche Pflicht Zehntausenden von anderen ebenso selbstverständlich war. Und das Erlebnis dieses Tages war das Bewusstsein der Gemeinschaft, der gleichen Pflichterfüllung und der gleichen Pflichtauffassung. Es war das Erlebnis der Gemeinschaft im Bekenntnis zu unserem Lande und zu unserem Volke, das damals zerschlagen und zertreten war.

 

Die Frage, die der dreißigste Jahrestag dieses Ereignisses heute aufwirft, eine Frage,

 

die zunächst an unser deutsches Volk geht, ist die, ob wir uns damals in der Voraussetzung einer größeren deutschen Gemeinschaft geirrt haben oder nicht. Die Frage dieser Stunde an die deutsche Gemeinschaft ist die, ob wir zu ihr gehören wollen, und zwar ganz und gar mit allen Rechten und mit allen Pflichten, oder ob man uns einer fast zwangsläufigen naturrechtlichen Entwicklung aussetzen will, die sich etwa so ausdrücken lässt, dass auf die Dauer, wenn eine Minderberechtigung praktisch geübt wird, auch das Gefühl einer Minderverpflichtung in dem Minderberechtigten wachsen muss. Wir haben die Entwicklung unseres Schicksals nach der Austreibung in geduldigen Jahren miterlebt und erst seit kurzer Zeit begonnen, sie mitzugestalten. Im Zuge dieser Entwicklung stehen wir in einem bedeutsamen Abschnitt. Wenn man die Krankheit, unter der unser Volk leidet, mit Worten kennzeichnen will, dann drängt sich immer wieder die Feststellung auf: wir waren eine staatliche Gemeinschaft; wir wollen eine staatliche Gemeinschaft sein. Eine staatliche Gemeinschaft kann nur bestehen, wenn sie die Menschen aneinander bindet. Sie setzt voraus, dass die echten Bindungen der menschlichen Gemeinschaft lebendig sind. Die Entwicklung dieser letzten Jahrzehnte aber ist ein ununterbrochener Angriff auf die echten menschlichen Bindungen. Sie hat, nachdem die Bindung der Familie in langsamerer Entwicklung schweren Gefahren ausgesetzt gewesen ist, eine wesentliche Bindung des Menschen, die an seine Heimat, jäh und brutal zerrissen, so dass heute die Frage aufgeworfen ist: welche Bindungen, welche echten und lebendigen Bindungen stehen uns heute denn noch zur Verfügung, um die staatliche Gemeinschaft aufrechtzuerhalten? Und es kann nach meiner Meinung keine größere Sorge geben, als die zerrissenen Bindungen jeder Art aufs sorgfältigste wieder zu knüpfen und sie da, wo sie schwach werden, wieder zu stärken. Und diese Bindungen werden schwach, wo der Glaube der Vertriebenen an ein gemeinsames deutsches Schicksal gefährdet wird.

 

Ich sagte, wir stehen an einem bedeutsamen Augenblick dieser Entwicklung, denn man kann vieles proklamieren und versprechen und verkünden. Aber einmal kommt der Tag, an dem der Wille zur Tat sich bewähren muss; und ein bedeutsamer Prüfstein für das, was an Gemeinschaftsbewusstsein in uns allen lebendig ist, wird die Entscheidung über den Lastenausgleich sein. Ich denke hier nicht an das Wirtschaftliche, sondern ich denke daran, dass bisher, soweit mir bekannt, ist, noch niemand öffentlich und klar gesagt hat, wir leugnen das Recht der Vertriebenen auf einen solchen Ausgleich; sondern jeder hat erkannt: jawohl, es ist eine Pflicht, es ist eine sittliche Pflicht, diesen Ausgleich des Schicksals im Rahmen des Möglichen herbeizuführen. Aber das genügt nicht. Das genügt insbesondere nicht, wenn solche Erklärungen einen der grundlegenden Berulsstände unseres Volkes nicht hindern, auszusprechen, dass eine höhere Belastung als ein Prozent pro Jahr für ihn nicht tragbar ist. Man wird wissen müssen, dass, wenn die Vertriebenen von einem Ausgleich sprechen, sie auch wirklich einen Ausgleich meinen, (Lebhafter Beifall.)

 

Ich habe gesagt, ich spreche heute nicht vom Wirtschaftlichen. Denn diese Stunde und das, was in dieser Stunde unter uns lebendig ist, das ist viel mehr. Aber ohne die wirtschaftliche Seite des Lebens können wir nun einmal nicht das leisten, was zu leisten wir geboren sind. Es ist ein eigentümlicher Zusammenhang, dass, als einmal vor Jahrhunderten unsere Heimat deutsches Land wurde, dieses Geschehen die Antwort Europas auf eine lebenswichtige Frage war. Europa musste sich entweder dem ständig wachsenden Angriff des Ostens aussetzen und damit auf seine Zukunft verzichten, oder es musste den Entschluss fassen, im Osten die Abwehr wachsen zu lassen. Diese Abwehr ist geschaffen; sie ist gewachsen; wir haben ihre Aufgabe getragen, solange das Schicksal unserer Frauen und Kinder und auch unser eigenes uns die Möglichkeit dazu gab. Jetzt, wo wir vertrieben sind, stellt sich heraus, dass unser Schicksal von neuem eine Wegmarke ist, an der sich grundsätzliche und wesentliche Entscheidungen Europas und sogar der Welt vollziehen werden.

Von einem Punkt sprach ich schon. Es wird sich an unserem Schicksal entscheiden, ob das deutsche Volk eine Schicksalsgemeinschaft ist und bleiben will. Es wird sich aber mehr entscheiden an unserem Schicksal. Wir haben unsere Zukunft nicht auf Gewalt gestellt. Wir stellen unsere Zukunft auf den Glauben daran, dass, je mehr die Welt zu einer Welt zusammenwächst, um so mehr das Recht der Maßstab für die Ordnung werden muss, und dass dieser Maßstab des Rechtes nur die Rechte des Menschen sein können, zu denen die ganze Welt sich in der feierlichsten und verpflichtendsten Form bekannt hat und bekennt.

 

Und wenn ich sage, dass unser Schicksal eine Wegemarke in dieser Entwicklung ist, dann meine ich das so: wenn nicht die Welt sich dahin verständigt, dass an diesem unserem Schicksal die Herrschaft des Rechtes über die Macht, die Herrschaft der Menschenrechte über andere Machtbestrebungen zum Siege kommt, dann verzichtet sie auf die sittlichen Grundlagen, auf die sie ihre eigene Zukunft aufbauen will. Dass heisst, wenn sie unsere Zukunft endgültig vernichtet, vernichtet sie damit die eigene Zukunft einer nach den Menschenrechten geordneten Welt.

Sie mögen denken, das liegt so weit von uns, was kann ich einzelner zu diesen großen Entwicklungen tun? Nun, meine Freunde, manch einer wird unter Ihnen stehen, der früher einmal auf seinem Grundstück aus Gründen der Vernunft und aus Gründen des Zusammenlebens freiwillig einen Privatweg gestattet hat. Er hat dann sorgfältig darauf geachtet, dass diese Tafel, die den Weg als Privatweg bezeichnet, ja nicht unterging, damit nicht allmählich durch die Gewöhnung und durch die Verjährung seines Rechtsanspruches auf seinem eigenen Weg Boden verloren ging. Die Welt und das Völkerrecht kannten lange das Recht des Eroberers, und das Völkerrecht hat sich in den letzten Jahrzehnten ganz zielstrebig in der Richtung entwickelt, dieses Recht des Eroberers, wenn nicht ganz abzuschaffen, so doch einzuschränken. Es gibt Entwicklungen, durch die nachträglich die vollzogene Tatsache der Eroberung Recht werden kann, dann nämlich, wenn der Betroffene zustimmt, wenn der Betroffene den Einspruch unterlässt, und dann, wenn etwa durch Gewöhnung oder durch einen verjährungsähnlichen Vorgang die Übereinstimmung der Allgemeinheit den Rechtstitel des Eroberers anerkennt.

 

Wir dürfen also nicht müde werden. Wir müssen die Tafel mit dem Anspruch auf unser Eigentumsrecht immer wieder errichten. Wir müssen, wenn durch die Gewöhnung oder durch gutes und schlechtes Wetter die Inschrift unleserlich wird, sie immer wieder erneuern und die Tafel dahin stellen, wo sie als ständige Bekundung unseres einmütigen Willens gegen den Willen des Eroberers weithin sichtbar ist.

 

Darum ist jede Zusammenkunft unserer Schicksalsgemeinschaft, die diesem Ziele dient, ein Baustein, der ein Fundament baut oder es doch gegen den Verfall sichert, auf dem, wie wir hoffen, die Entwicklung der Zukunft beruhen wird.

 

Ich weiß, es wäre vergebens, und niemand könnte diese Kräfte wieder zusammenfassen, wenn es nötig wäre, uns zur Einigkeit zu mahnen. Diese Einigkeit, die unter uns besteht, wollen wir bewahren. Wir wollen unablässig und unermüdlich nach unserem Recht rufen, und wir wollen glauben und vertrauen, dass der Wille zur Freiheit, der die freie Welt trägt, uns nicht ausschließen kann, wenn er sich nicht selbst aufgeben will.

 

Und so wollen wir auf Einigkeit und Recht und Freiheit unseren unerschütterlichen Glauben an die Zukunft aufbauen auch mit dem Erlebnis dieser Stunde. Und wir wollen in dem Gebet, das nun seit dreißig Jahren die immer wieder gefährdeten ostdeutschen Menschen in den politischen Kundgebungen ihrer Heimat begleitet, in den Worten des Niederländischen Dankgebetes, all diesen Willen, all diesen Glauben, all dieses Vertrauen und alle unsere Liebe zusammenfassen, in dem Lied und in dem letzten Aufschchrei und Gebet: Herr, mach uns frei!

 

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