Wir Ostpreußen, Folge 12 vom 20.06.1950

Seite 5   Johanni – Zeit der hellen Nächte

 

Wintersonnenwende - Sommersonnenwende: beides tiefe Einschnitte im Ablauf des Jahres. Dort die dunkelste Zeit, in der sich das Menschenherz ganz auf sich selber zurückzieht, ganz nach innen. Hier aber die hellste Zeit, ein Höhepunkt des Blühens und Reifens. Wie von einem Rausch erfasst, dringt der Mensch hinaus in die Weite, in die Felder und Fluren. Was bedeutet eine Stube, ein Wohnhaus in diesen Tagen? Räume können den Menschen nicht halten, er will sich mit einordnen in das große Geschehen dort draußen.

 

Seit Jahrhunderten ist die Sommersonnenwende mit dem Geburtstage Johannes des Täufers verbunden. Johanni! Aber es ist doch ein echtes Naturfest über den biblischhistorischen Namen hinaus. Etwas Geheimnisvolles webt und wittert durch Feld und Flur und durch die ganze bräutliche Natur dieser gesegneten Zeit.

 

In Ostpreußen hatten wir es im Winter sehr dunkel und im Sommer sehr hell. Diese starken Gegensätze unterstrichen die Bedeutung der Sonnenwende. Und Johanni - das war hell! Die hellen nordischen Nächte flammten am Himmel unserer Heimat, die Sonne wollte wohl gar nicht mehr untergehen, und wenn sie selbst auch für kurze Zeit verschwand, ihr Leuchten blieb und lagerte sich in einer feinen Dämmerung über das Land, über Ströme und Haffe, über die Spiegelweite des Meeres. Ja, auf dem Wasserspiegel schien sich der Glanz der Sonne bis zum Wiederbeginn des neuen Tages erhalten zu wollen. Ein mattes Strahlen lag wie eine zarte Erinnerung an die Schönheit des Junitages nachtüber auf der Fläche der ostpreußischen Wasser und ließ die Mummelblätter und Seerosen, die Kala und das Schuf wie hauchfeine Konturen auch noch um Mitternacht erscheinen.

 

Johanninachtl Hell und warm, voller Duft, voller einschmeichelnder Lust und Behaglichkeit, wie es nur das sichere Ruhen im Schoße der Heimat erzeugen kann, so stehen die vielen Johannisnächte, die wir dort oben an Haff und See erleben durften, in unserer Erinnerung. Aus den Gärten duftete es voll und betäubend. Der kurze Frühling Ostpreußens drängte alles Blühen auf einen kurzen Zeitraum zusammen. Darum wirkte er so überwältigend, so rauschhaft und so unvergesslich.

 

Die Bauerngärten blühen. An den Zäunen duftet der Jasmin, und in der hellen Johanninacht sieht es aus, als wären tausend Schmetterlinge plötzlich auf ihrem Fluge erstarrt. Auch der Schneeball blüht und zeigt seine weißen Köpfe wie leuchtende Signale in der Nacht. Die Rosen beginnen sich zu öffnen, der Rotdorn blüht und die Heckenrose verschönt einsame Wege und Raine. Der Holunder und der Faulbaum streuen ihren zarten Duft in die Nacht. Die Nachtigallen schlagen unermüdlich in den Büschen. Der Leute behaupten, es wären „nur" Sprosser gewesen, aber für uns waren es eben Nachtigallen, und schöner konnten sie gar nicht singen. Auch die Frösche in den Teichen hatten es uns angetan. Auf dem Dach durchträumte der Storch die kurze Dämmerung. Er gehört zum Bilde der Johanninacht. Auch die weidenden Kühe auf den Wiesen, in den Roßgärten, und die Pferde gehörten dazu.

 

Und dann noch eine Erinnerung für die Feinschmecker. Um diese Zeit gab es die ersten richtigen Sommeraale, geräucherte Flundern, gezuckerte Erdbeeren, Glums mit Schmand, dicke Milch.

Aber die Johanninacht ist nicht eine Nacht wie andere. Freilich, die alten Sitten und Gebräuche, wie sie in früheren Jahrhunderten vielleicht ausgeprägter in Erscheinung getreten sind, die waren zu unserer Zeit schon langsam am Absterben. Da Ostpreußen von allen deutschen Stämmen besiedelt worden ist, so hatten wir auch kultische Erinnerungen aus allen deutschen Landschaften bei uns.

Vor allem das Sonnwendfeuer.. Die Jugend hatte ein Teerfass in Brand gesteckt und brachte damit das Dorf in Wallung. Sogar die Alten kamen langsam herausgepilgert, auf den Acker, oder an den Strom und sahen dem lustigen Treiben der Jugend zu. Kinder schleppten Holz herbei, denn das Feuer sollte recht lange und haushoch lodern. Der Rauch hatte heilende Kräfte für Mensch, Tier und Acker. Die Jungen sprangen herüber und hinüber, holten sich Beifall. Liebespärchen versuchten es gemeinsam. Wenn so ein Sprung über die Flamme gelang, warum sollte er denn nicht ins volle Menschenleben hinein und gemeinsam gelingen? Es wurde auch getanzt, gesungen, es wurden Reigen aufgeführt und Feuersprüche gesprochen. Ehe man sich versah, war ein kleines dörfliches Fest daraus geworden.

 

In den Städten machten die Gastwirte ihr Johannisfeuer und verbanden dabei das Angenehme mit dem Geschäftlichen. Ausflüge waren sehr beliebt. Im nördlichen Ostpreußen fuhr man zu Johanni beispielsweise gern auf die Kurische Nehrung, nach Nidden und Schwarzort.

 

Blühendes Farnkraut suchen gehen, - das war eine schwere Aufgabe für junge Mädchen. Wer es fand, der fand auch bald einen Geliebten und hatte Glück für ein ganzes Leben. Und wer wollte das nicht? Aber - blüht Farnkraut überhaupt? Das Johanniskraut und der Beifuß sind magische Kräuter, die man gleichfalls in der Johanninacht suchen sollte.

 

Und dann das Heu! Wie duftete es um die Johanninacht und wie bestimmte es mit seinem Geruch jene Tage! In den Niederungen des Memelstromes, am Haff, im Pregeltal, am Frischen Haff und überall sonst da, wo das Land tief lag. Um Johanni zogen die Bauern von der Höhe in die Wiesen hinein, um das Heu zu ernten. Knechte und Mägde, Bauernsöhne und Bauerntöchter feierten die Johanninacht bei Gesang und Tanz. Eine Schifferorgel ertönte, und die Wagenlaternen waren die Lampions, bis ein früher Morgen wieder zur Arbeit rief, die aber in diesen gesegneten Tagen mehr Lust als Anstrengung bedeutete. Bei der Nachhausefahrt, wenn der hochbeladene Heuwagen durch die stillen Dörfer schwankte und der Junimond schien, konnte man dann schlafen, wenn die Nacht nicht zu lau war und man lieber offenen Auges in die heimatliche Landschaft hineinträumen wollte.

Die Heuhaufen waren überall ein beliebtes Wanderziel in der Johanninacht. Dort auf dem Rücken zu liegen und den Sternhimmel der Mittsommernacht zu beobachten, das war etwas Feierliches.

 

Dass Liebespärchen in den Dörfern und den kleinen Städten sich gern die Heuhaufen zu einem Schäferstündchen aussuchten, ist wohl nicht allein eine Sitte der Johanninacht. Aber gerade in dieser Nacht wurden sie oft unliebsam von herumstreunenden Halbwüchsigen gestört, die sich einen Spaß daraus machten, sie „aufzulauern und aufzuschichern." Ein paar derbe Späße muss man in einem bäuerlichen Lande eben gut vertragen, auch in den zartbesaiteten Stunden der Verliebtheit.

 

Die Bauern richteten sich bei verschiedenen Landarbeiten sehr nach Johanni. Dieses muss vor Johanni fertig sein, und jenes durfte erst nach Johanni in Angriff genommen werden. Das war in manchen Gegenden ungeschriebenes bäuerliches Gesetz.

 

So schwand die Johanninacht. Für die Jungen mit Gesang und Tanz, für die Alten mit Nachdenklichkeit. Aber für alle nur kurz, wie ein tiefes Atemholen der Natur, die sich vom Rausch des Blühens und Verschwendens nun mählich der Reife zuwandte.

 

Foto: Das Gutshaus Zöpel im Oberland. Es stellt ein schönes Beispiel eines modernen ostpreußlschen Gutshauses dar. Der Entwurf stammt von Architekt Prof. Kurl Frick, Königsberg.

 

Seite 6   Sommersonnenwende auf dem Galtgarben

 

Er war keiner unter den großen Bergen, aber im Sarnland überragte er weithin sichtbar die anderen Höhen und stand mitten in der Landschaft als ihr großer Gebietiger: der Galtgarben-Schädel mit seinem Bismarckturm. Von Marienhof her zogen von Norden die Hügelwellen des „ Alk-Gebirges" idyllisch auf ihn zu, von Medenau streckte sich im Süden ihm dunkler die „Hölle" entgegen. Hügel und „Hölle" und die breiten Hänge des Galtgarbens selber bis zum Gipfel hinauf grünten im Sommer reich und voll von dem Laub ihrer Wälder. Wer den Turm bestieg, gewann von seinen Zinnen einen großartigen Umbilde, der ihn frei in die Weite führte: über helle Wiesen und reifende Felder, über Wege und Dörfer zu den Küsten im Norden und im Westen des Samlands und hinaus auf die schimmernde Feme des Meeres, zu der im Dunst schon verschwimmenden Fläche des Haffes im Süden, zu den Türmen von Königsberg und im Osten in den langgebreiteten Wald der Fritzener Forst hinein. Der hohe Himmel unserer Heimat überspannte diese Landschaft der Saat und der Ernte, dieses alte Prussenland, mit seinem segnenden Licht.

 

An alte Zeit und langen Bestand erinnerte uns viel um den Galtgarben her. Seine Wälle und Gräben verrieten ihn als Fliehburg des Prussenvolkes, das sidi hier im Samland, wie uns die zuständigen Forscher wissen lassen, in dem körperlichen Typ, in charakteristischen Zügen rein bis in unsere Tage erhielt. Wir sahn von diesem Berge nach Palmnicken hinüber, nach dem Ort, an dem aus der blauen Erde im Tagebau der uralte Bernstein gelöst wurde. Wir fanden bei Rudau das Feld der Schlacht, in der die Deutschen Ritter in den Tagen der Hochblüte ihres Ordensstaates den Ansturm der Litauer für Jahrzehnte brachen, in der ein Hans von Sagan die Fahne zum Siege trug, in der der Ordensmarschall Henning Schindekop die Wunde empfing, an der er auf dem Heimweg nach Königsberg starb. Wir verloren uns in Gedanken gewiss auch in Bilder, in denen wir die Boote der Wikinger sahen, die über See an die Küsten dieses Landes kamen. Doch dies alles war Vergangenheit. Es grünte und reifte rings um uns her. Es war Sommer, die Zeit, in der Erfüllung uns wurde.

 

Der Galtgarben sprach uns mit geheimem Zauber an. Schneeschuhfahrer, die im Winter zu ihm zogen, spürten ihn kaum. Doch in den grünen Tagen, wenn der Wald mit seinen vollen Wipfeln ihn umrauschte, wurde er mächtig. Und es war, als ob der Geist versunkener Zeiten hier noch einmal aufstand, dass wir nah ihn fühlten. Sein hoher Tag war der Junitag der Sommersonnenwende. Dann fuhren und wanderten in vielen Jahren Scharen von jung und alt zu ihm hin. Dann sammelten sie sich auf der großen Wiese zu den Füßen des Gipfeis zu Spiel und Tanz. Wenn die Dämmerung sank, ein leiser Schleier, der in diesen Tagen in unserer Heimat hell und weiß blieb durch die ganze Nacht, ordnete sich der lange Zug, der kurz vor der Mitternacht den Anstieg begann. Auf dem Platz vor dem Turme, zwischen alten, schweren, grünen Wipfeln, brannte ein großer, hoher Stoß von Reisern auf. Es wurden Sprüche gesprochen und Lieder gesungen. Und die Flamme stieg an und ihr lohender Schein leuchtete weit in das Land hinaus. Von den Zinnen des Turmes grüßten Feuer. Wir haben sie gesehn bis zum Wachbudenberg, der sein Haupt bei dem Fischerdorf Klein-Kuhren erhob. Sie winkten herüber bis zum Adalbert-Kreuz auf der Heide bei Tenkitten. Und es wehte uns mitten im 20. Jahrhundert ein Hauch aus dunkler Ferne an, ein Raunen aus der Tiefe einer unbezwungenen Erde, und wir blickten durch die hohe, helle Nacht, und es war uns, als führen durch sie die Götter der alten Prussen mit ihren Bernsteinkronen hin.

 

Wir denken heute bewegt an jene Feuer zurück, an den Berg, auf dem sich einmal, vor mehr als 120 Jahren, die Studenten aus Königsberg mit anderen jungen Männern des Landes zusammenfanden, um in ernster Feier der Befreiung zu gedenken, die sie und ihre Väter gegen Napoleon errangen, für sich und, wie sie glaubten, für die Zukunft dieses Landes und derer, die nach ihnen hier säen und ernten sollten.

 

Seite 6   Drei Ostpreußen begegnen sich …

Drei Ostpreußen, drei Schicksale, jedes anders und doch so gleich. Gertrud Uszkurat, Otjikondo (S.W. Africa).

 

Ganz von weitem hörte ich Stimmen, die mir bekannt vorkamen, aber ich konnte nicht darauf kommen, wer es sein könnte, der dort sprach. Die Stimmen verschwanden. Dann fing ich wieder einige Gesprächsfetzen auf:„Und so kalt auf dem offenen Lastwagen und die Russen schon ganz dicht am Stadtrandl"

 

War das nicht schon lange her, oder erlebte ich es jetzt erst? Es fiel mir ungeheuer schwer, meine Gedanken zusammenzufassen. Wenn ich meinte, ich hätte den Faden zu dem Gespräch gefunden, das ganz in meiner Nähe geführt wurde, hatte ich schon wieder den Zusammenhang verloren. Ich hatte das Gefühl, meine Augenlider wären gegen Bleideckel ausgetauscht worden und meine Beine spürte ich überhaupt nicht.

 

Stand ich noch auf dem Bahnsteig in Königsberg und wartete auf den Zug, der erst hereinkommen sollte, um uns in Sicherheit zu bringen? Oder lag ich auf der harten Bank des Bahnhofsbunkers in Stettin?

 

Irgendwie musste ich das Gewicht von meinen Augen bekommen. Mit aller Gewalt riss ich sie auf. Ich lag in einem Bett, und die Sonne schien auf die Wand, an der es stand. Richtig, ich war im Krankenhaus und kämpfte noch mit den Nachwirkungen der Narkose. Hatte ich die Bruchstücke der Gespräche nun wirklich gehört oder nur geträumt? Mühsam drehte ich meinen Kopf auf die andere Seite. In dem zweiten Bett, das in dem freundlichen, sonnigen Krankenzimmer stand, lag eine junge blonde Frau, die mich sogleich fragte, wie es mir ginge und ob ich mich schon wieder wohl fühle.

 

Ja, das war eine der Stimmen, die ich gehört hatte, als ich wieder zu mir kam. Und jetzt wusste ich auch, warum sie mir so bekannt vorgekommen war. Nicht die Stimme selbst kannte ich, aber der Klang war mir vertraut. Es war der leichte Anklang der ostpreußischen Mundart, der in mir das Gefühl des Bekanntseins aufkommen ließ.

 

Die Besitzerin der zweiten Stimme war nicht zu sehen. Nur die Schwester kam jetzt ins Zimmer, legte mir die Kissen zurecht, und ich schlief wieder.

 

Als ich danach aufwachte, war mein Kopf wieder klar, und ich konnte mit vollem Bewusstsein meine Umgebung und meine Zimmergefährtin in Augenschein nehmen. Und nun erfuhr ich, dass die zweite Stimme einer jungen Schwesternhelferin gehörte, die an meinem Bett gesessen hatte, bis ich aus der Narkose erwacht war. Beide waren Ostpreußen, beide Vertriebene wie ich. Meine Zimmergefährtin stammte aus dem Kreise Pr. Eylau. Sie war es, die davon erzählt hatte, dass sie auf einem offenen Lastwagen von Pr. Eylau Richtung Pommern in der größten Kälte geflohen war. Die junge Schwesternhelferin stammte aus dem Kreise Gerdauen. Ihr Fluchtweg war noch mühseliger gewesen.

 

War es nicht ein eigenartiger Zufall, der uns drei an einem Tag in das gleiche Krankenhaus, in das gleiche Krankenzimmer führte?

 

Nichts besonderes, wenn es in Schleswig-Holstein, in Westfalen oder in Bayern gewesen wäre, aber wir trafen in einem Krankenzimmer zusammen, das tausende von Kilometern von Deutschland entfernt war, in Südwest-Afrika!

 

Die Tage vergingen wie in jedem Krankenhaus. Die deutschen katholischen Schwestern, die schon jahrelang im Lande waren, verabreichten die Medikamente und Spritzen. Junge deutsche Schwesternhelferinnen, Farmerstöchter, brachten uns das Essen, machten die Betten, legten das Fieberthermometer auf den Nachttisch. Der deutsche Arzt, der uns behandelte, verfolgte bei seinen täglichen Visiten die Fortschritte unserer Genesung.

 

Es war heiß. Die Sonne strahlte Tag für Tag vom HimmeL Am frühen Nachmittag setzte meistens der Regen ein, aber bald danach lachte wieder die Sonne. Blütenzweige schlugen an unser Fenster und lockten mit ihrer vielfarbigen Pracht.

 

Abends jedoch sprachen wir oft noch lange über das, was wir erlebt hatten. Wieder standen wir in eisigem Schneesturm, dicht umdrängt von Menschen, die wie wir nur den einzigen Wunsch hatten, noch rechtzeitig wegzukommen, bevor die Lawine aus dem Osten uns überrollte. Wir hörten das Weinen der Kinder und das Rufen der Mütter. Wir sahen bei unserer Flucht nach Westen die kleinen ostpreußischen Dörfer und Städte zum letzten Mal an uns vorbeifliegen.

 

Genau fünf Jahre waren inzwischen darüber vergangen, aber alles stand noch so lebendig vor unseren Augen, als seien wir immer noch mitten drin. Die Schwesternhelferin war noch ein Kind, als sie die Heimat verlassen musste, meine Bettnachbarin ein junges Mädchen, und ich hatte schon meinen Jungen an der Hand, als wir den Weg nach Westen einschlugen, der uns erst in Deutschland von einem Zufluchtsort zum anderen führte und schließlich in Afrika endete.

 

Seite 7   Ein Adler grüßte uns

 

Am 17. August 1939 wurde ich in Bienert-Wiese bei Alt-Christburg zum Kriegsdienst eingekleidet. Am 17. August 1946 durchschritt ich das Tor des russischen Gefangenenlagers 184 zur Entlassungsfahrt nach Westdeutschland. Auf einer einsamen Bahnstation zwischen Wilna und Kowno entschied es sich an einem Nachmittag, ob wir über Wilna und Warschau fahren würden oder über Kowno und dann durch Ostpreußen. Sollte ich mir das letztere wünschen und noch einmal meine ostpreußische Heimat wiedersehen? Voller Spannung sahen wir dem Augenblick entgegen, in dem sich die Maschine vor den Zug legte. Es hing ja nicht nur diese eine Entscheidung davon ab. Bei einer Fahrt über Wilna drohte uns eine Nachuntersuchung. Die Maschine kam und zog uns nach Kowno. Es ging also durch Ostpreußen, und unser Herz war voll Bangigkeit. Stumm hockten wir auf dem Kownoer Bahnhof in der Abenddämmerung in unsern Waggons, deren Türen nun weit geöffnet waren. Der russische Kapitän ging von Wagen zu Wagen und hieß uns singen und lustig sein. Das sei keine Stimmung von Heimkehrern. Einige sangen jetzt. Danach fuhren wir die Nacht hindurch und hielten gegen Mittag in Insterburg auf dem Personenbahnsteig. Hier endete die Breitspur, und zunächst waren keine Normalspurwagen für uns da. So sahen wir dem Leben und Treiben auf dem Bahnhof zu. Schon eineinhalb Jahre lang rollte ein Zug nach dem anderen mit demontierten Fabrikeinrichtungen hier an. Gefangene Kameraden bedienten mehrere Kräne, die die in riesige Kisten verpackten Maschinenteile auf die russischen Wagen luden. Um die Vesperzeit gab man uns einen Zug. Wir bauten die Liegegestelle um. Obwohl wir 1100 Mann nur eine Säge zur Verfügung hatten, waren wir bis zum Abend damit fertig und schliefen den Schlaf, den wir immer zur Verfügung hatten, wenn es gut war, über nichts mehr nachzudenken. Als an einem wolkenlosen Tag die Sonne aufging, verließ unser Zug den Insterburger Bahnhof. Jetzt kam das Ostpreußen, das ich genauestens kannte.

 

An den Bahnhöfen bis Gerdauen standen noch immer die landwirtschaftlichen Maschinen, die zum Abtransport zusammengefahren waren. Sie bedeckten weite Flächen. Beifuß, Wermut, Disteln und anderes Unkraut wuchsen zwischen ihnen so hoch, dass kleinere Maschinen darin untertauchten. Der Bahnhof Gerdauen war der letzte, dessen Name in russischen Buchstaben geschrieben war. Hier mussten wir auf dem Bahnsteig antreten, denn die Grenz-GPU verlas unsere Namen und durchsuchte noch einmal unsern Zug, ehe wir in das polnisch verwaltete Gebiet hinüberwechselten. Zur Verlesung traten wir auf dem Bahnsteig an. Das wiederholte sich noch einmal. Ich stand etwa eine Stunde dort, bis endlich auch mein Name gerufen wurde. Gewiss hatte ich sehr darauf aufpassen müssen, und ich bin auch wie alle anderen in einer ziemlich großen Sorge gewesen, ob die Liste in der Hand des Russen wohl auch meinen Namen enthalten würde. Das ganz gewiss. Aber außerdem machte mir dieser Bahnsteig viel zu schaffen. Wir haben einige junge, glückliche Jahre in dem Forsthaus Nordenort gewohnt, das in der Marschallsheide südlich von Nordenburg lag. Wenn wir mit unserm kleinen Kind, das nun auch nicht mehr lebt, zu unsern Eltern reisten, dann stiegen wir in Gerdauen um. Und wir trafen uns hier jedesmal mit unserer Schwester, die aus Friedland von der Aufbauschule kam. In der Erinnerung sah ich nun dieses Ankommen,

 

Begrüßen und Abfahren ganz deutlich, sah darüber hinaus ungezählte ostpreußische Menschen auf und ab wogen, sah Friedensjahre voll Segen und Glück und konnte diese Bilder, die so übermächtig in mir aufstiegen, nicht mit dem Gegenwärtigen zusammenbringen, mit dem Stationsnamen in russischer Sprache, den russischen Offizieren, die von einem leeren Waggon herab unsere Namen verlasen, und den ausgemergelten Kameraden mit den geschorenen Köpfen, den armseligen Litewken und den Fußlappen in den Holzschuhen. Unfasslich war mir dieser Bruch, und unfasslich wird er mir immer bleiben.

 

Schon um die Mittagszeit durften wir weiterfahren. Am Ausgange des Bahnhofes zweigte früher die Strecke Gerdauen-Königsberg ab. Jetzt waren die Gleise abgebaut und fortgebracht. Dann überfuhren wir die Chaussee Gerdauen - Barten. Wir hielten gleich darauf auf freier Strecke. Wo sich nämlich vor Langmichels eine Brücke mit einem Feldweg über die Strecke wölbt, war die Grenze der beiden Verwaltungsgebiete. Sie war querfeldein durch hohe Stacheldrahtzäune mit Wachtürmen gekennzeichnet. Es gab hier wieder kurze Übergangsformalitäten, dann fuhren wir weiter. Bald tauchte zwischen Bäumen und Gebüsch das Schloß Willkamm des Grafen Rautter auf. Es war instand, und es wohnte ein militärisches Grenzkommando darin. Dann kam das Vorwerk Fritzendorf. Es war das einzige Dorf zwischen Insterburg und Deutsch-Eylau, das bewohnte Häuser und bestellte Felder hatte. Es rauchte sogar ein Schornstein, und das Storchennest auf der Eiche war gut zu sehen. Ich sah auch das Giebelstübchen in der Schule, das einst ein Freund von mir bewohnt hat.

Wir fuhren in den Bahnhof Skandau ein. Er trug einen polnischen Namen. Während nämlich die Russen die deutschen Ortsnamen im allgemeinen beibehalten und nur in ihre Schriflzeichen gebracht hatten, hatten die Polen allen Orten im deutschen Ostpreußen polnische Namen gegeben. Der Bahnhof war, wie fast alle Bahnhöfe, von wenigen jungen Polen besetzt. Nach längerem Warten rückte die Maschine unsern Zug aus dem Bahnhof auf die freie Strecke. Wir wussten es nun schon, was es heißt, wenn eine Hauptstrecke nur eingleisig ist. Das zweite Gleis war natürlich auch demontiert. Wir standen nun also wieder einmal auf freiem Felde, allerdings in der wunderbaren Sonne eines letzten Augusttages. Den Zustand unserer einst so blühenden Provinz kannten wir schon: Distelfelder, die wie graue, abgeblühte Heide aussahen, bis zum Horizont, leere Dörfer, eingegrünte Wege, selbst noch die einsamen Bahnwärterhäuschen ausgebrannt oder ausgeschlachtet, das ist allen Inventars, selbst der Türen und Fensterflügel beraubt, also auch mit öden Fensterhöhlen, in denen das Grauen wohnt.

 

Dieses verwüstete Land hatten wir auch hier wieder vor Augen. Aber für mich selbst war dieser Anblick hier noch viel erschüttender und bitterer. Von links zog ein Landweg in die Felder hinaus, der Weg von Skandau nach Sansgarben. Rechts stand der Große Lipan mit seinem Damwildgehege. Und zwischen den Bäumen des Landweges und den Bäumen des Waldes in einem kleinen Durchblick ragten in der Ferne zwei Dächer aus dem Grün: das große rote Dach der Bartener Ordensburg und das kurze stumpfe Dach des Bartener Kirchturms. „Liebe, kleine Stadt", flüsterten meine Gedanken, und es war wie ein Streicheln über die eiskalten Wangen einer geliebten Toten. Sehnsüchtig suchten meine Augen immer wieder diese beiden roten Dächer in der Ferne. Und mein Herz quoll über von der Erinnerung. Die Kameraden, die wortlos auf das zertretene Land sahen, hörten zu, wie ich von diesem Raum hier erzählte: .Dort in der kleinen Stadt bin ich sechs Jahre lang Lehrer gewesen. Und hier auf diesen Feldern zwischen uns und der Stadt und in den vielen kleinen Wäldchen, die wir vor uns sehen, bin ich unendlich viel umhergestreift, um Tiere zu beobachten und zu fotografieren. Dort drüben bei Althagel standen im Frühjahr die Wildgänse in großen Scharen auf den Feldern. Dort drüben bei Arklitten gab es einen kleinen schönen See mit vielen Wasservögeln. Fast in jedem Feldgehölz nisteten Turmfalken und Waldohreulen. Auch Adler hat es hier gegeben. Es waren Schreiadler, nahe Verwandte des Steinadlers, zwar viel kleiner als dieser, aber doch auch schöne und kühne Tiere. Ein Paar horstete drüben in der Mintwiese, ein Paar in der Solke bei Willkamm, und zwei Paare waren im Sansgarbener Wald heimisch." Ich zeigte auf diese Wälder und tat damit einen tiefen Schnitt, einen Schnitt in mein Herz. Viel bittere Wehmut floss daraus. Ich sah nun meine jungen Jahre vor mir. Ich sah mich umherstreifen. Ich sah mich die Horste besteigen und den Adlern gegenüber sein, sah reiches Erleben und frohes Schaffen. Eine Fülle von Gedanken und Empfindungen überfiel mich, und alles um dieses Land und seine Adler! Im Augenblick hatte ich nur eine Furcht: der Zug könnte weiterfahren und mich aus diesem Stück Heimat reißen. O ihr Felder, ihr Wege, ihr Wälder, ihr Dörfer, du liebe, kleine Stadt, - es war fast, als betete ich dieses alles an!

Ehe noch der Zug anrollte, hörte ich einen Ruf. Es war nur die Andeutung eines Rufes und darum gar nicht einmal sicher, ob nicht überhaupt mein heftig erregtes Hirn eine Täuschung geschaffen hatte. Da wiederholte sich dieser Ruf, - nun schon weit deutlicher. Es klang einsilbig „kjück". Und nun sah ich auch gleich den Adler. Ich geriet außer mir. Ich rief es in den Waggon: Ein Adler kommt! Alle drängten zur Tür, um ihn zu sehen, und einige sprangen hinaus. Fast ohne die breiten, bandartigen Schwingen zu rühren, schwebte der Adler heran, gerade auf uns zu. Er war nicht hoch, und wir konnten ihn herrlich sehen. Jetzt rief er viel und zog einige Runden über uns, ohne Furcht vor uns Menschen. Und dann glitt er in derselben Richtung wieder davon, aus der er gekommen war.

In der Abenddämmerung fuhren wir in den Bahnhof Korschen ein. Wir empfingen dort unser Abendessen. Danach legten wir uns auf den Holzgestellen zum Schlafen hin. Alle waren sehr müde und keiner sprach etwas. Zwischen Wachen und Schlafen war in mir nur ein Gedanke: Ein Adler hat uns gegrüßt

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