Ostpreußen-Warte, Folge 12 vom Dezember 1957

Ostpreußen-Warte

Folge 12 vom Dezember 1957

 

Seite 1   Weihnachtsabend: Holzschnitt von Bodo Zimmermann

 

Seite 1   „… die guten Willens sind“

Wieder geht ein Jahr seinem Ende entgegen. Wir können nicht sagen, dass wir dem Frieden nähergekommen sind. Die Fronten haben sich verhärtet. Die Grenzen schneiden noch immer durch unser Vaterland und trennen Bruder von Bruder, und überall gehen diese Grenzen. Überall sind Menschen von Menschen getrennt.

 

Es ist das dreizehnte Mal nach dem Kriege, dass die Weihnachtsglocken die alte Botschaft ins Land hinausläuten vom Frieden unter den Menschen. Aber die Zukunft liegt heute dunkler denn je vor uns. Das so hoffnungsvoll begonnene Jahr ist uns in der Richtung auf eine weltweite, internationale Entspannung alles schuldig geblieben, das müssen wir uns in diesen Tagen der Bilanz eingestehen, so bitter es auch sein mag. Und es fällt uns schwer, in dieser Erkenntnis noch einmal den Glauben und die Hoffnung auszupflanzen.

 

Es gab hoffnungsvollere Weihnachten unter diesen letzten zwölf Jahren, 1945, 1948 und dann nach Genf. Die Enttäuschungen waren entsprechend. Wir sollten also die Schatten, unter denen unsere Zeit steht, getrost sehen. Weisen wir sie nicht vor die Schwelle, wenn wir die Kerzen am Tannenbaum anzünden. Und gerade dann — geben wir diesen düsteren Gedanken Hausrecht in dieser Stunde. Denn nur so, glaube ich, wenn wir alle die Wunden unserer Zeit sehen, spürbar in uns selbst brennen fühlen, ist uns überhaupt eine Heilung möglich.

 

Es hieße, die Augen verschließen vor den Realitäten. Aber es ist so, viele sind schon wieder zu träge geworden, im Herzen träge. Kommt noch hinzu, dass Weihnachten wie kein anderes Fest das Fest der Familie ist, und die Gefahr liegt daher nahe, uns aus der Zeit auf die persönlichste Insel zu retten, alles, was vor unserer Tür ist. beim Schein der Kerzen auszuschließen. Und in diesen persönlichsten Bereichen sieht es heute bei vielen nicht mehr ganz so grau aus wie vor einigen Jahren, als die Not des Landes zugleich auch die Not eines jeden einzelnen war.

 

Lassen wir einen Spalt breit, unsere Türen offen. Immer noch sind Menschen auf den Straßen, die unserer Liebe bedürfen, und zu unserer Zeit vielleicht mehr als je zu einer anderen. Der Flüchtlingsstrom ist nicht abgerissen. Die Lager sind überfüllt. Not steht allenthalben an den Straßen. Denken wir daran, wenn wir das „Stille Nacht, heilige Nacht" anstimmen. Und bedenken wir auch, es ist nicht die Not irgendeines fremden Menschen aus seiner Schuld, sondern es ist die Not aller und aus aller Schuld, auch aus der deinen, weil wir allesamt in dieser Zeit versagt haben.

 

Die göttliche Botschaft auf Erden zu erfüllen, sollten wir daher weniger von einem Wunder erhoffen als viel mehr von der heilenden, helfenden Hand eines jeden einzelnen von uns. Wie Gott immer nur mit dem Menschen denkbar, sind auch seine Wunder an unseren Glauben und unsere tätige Liebe gebunden.

 

Was unserer Zeit so dringend not tut, ist Menschlichkeit.

 

Wenn wir also um etwas bitten in der Stunde der offenen Herzen, lasst es dies sein: den Menschen menschlicher werden zu lassen! Es schließt die Vernunft ein, die wir von den maßgebenden verantwortlichen Politikern in Ost und West im Namen des Menschen erwarten und fordern. Möge in allen ihren Entscheidungen vor dem Kampf um die eigene Macht die Frage nach der Existenz des Menschen an sich stehen. Nur so wird es niemals zu dem verhängnisvollen Hebelgriff, der wie eine Wolke der Bedrohung über der ganzen Menschheit dieser unserer Tage steht, kommen, und der die Welt in ein Morden von nie gekanntem und nicht vorstellbarem Ausmaße stürzen würde.

 

Diese Hoffnung lasst uns aus der Dunkelheit unserer Tage gewinnen. Lasst uns glauben, dass der Mensch an der Alternative Sein oder Nichtsein, die nie so nackt und offensichtlich vor aller Augen lag und noch niemals von den Menschen so konsequent gefordert wurde als heute im Zeichen der Atom- und Wasserstoffbomben, der Fernraketen und künstlichen Gestirne, sich für das Sein entscheidet. Dass er die Ergebnisse von Wissenschaft, Forschung und Technik für den Menschen und nicht zu seiner Vernichtung anwendet.

Angesichts der schrecklichen Folgen, die ein atomarer Krieg über die Menschheit bringen würde, dürfen wir — und das glaube ich fest — mehr als zu einer anderen Zeit hoffen, dass der Frieden auf Erden endlich Wirklichkeit wird.

Was jeder für sich dazu tun kann, ist dies, über seinen engsten persönlichen Bereich hinaus an der Verständigung beizutragen, auf der das neue Zeitalter gegründet sein muss. Jeder ist aufgerufen, über alles Trennende hinweg, über Dogmen und Parteiprogramme, über die Grenzen hinaus, vor allem aber von Bruder zu Bruder in unserem geteilten Vaterland Brücken der Liebe zu bauen. Keiner darf heute an seiner Stelle versagen.

Und nur so dürfen wir hoffen. Zündet die Lichter an.

 

Seite 2   Ostdeutsche Glocken läuten zur Weihnacht. 108 ostpreußische Glocken in westdeutschen Kirchen.

Wenn in diesen Tagen aus unseren Domen, Türmen und Dorfkirchen Glocken läuten, so ist ihr Klang untermalt von dem Geläut hunderter ostdeutscher Glocken. In allen Provinzen von Schleswig-Holstein bis nach Bayern hängen Glocken aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße in unseren Gotteshäusern. Manche unserer Kirchen hätte noch nicht wieder ein eigenes Geläut, wenn vor einigen Jahren nicht die ostdeutschen Glocken von den Glockenfriedhöfen freigegeben worden wären.

 

Als während des Krieges in allen deutschen Gemeinden die Glocken abgeliefert werden mussten, schien, das eine Drohung für ihren Fortbestand zu sein. Wollte man sie doch — insgesamt an die 50000 Glocken — einschmelzen und ihr Metall der Rüstungsindustrie zur Verfügung stellen. Es war ein großes Glück, dass nicht alle Kirchengeläute verhüttet wurden. Nach Kriegsende fanden sich noch Tausende von ihnen. Als sie an die Heimatgemeinden zurückgegeben waren, blieben 1300 Glocken übrig — sie stammten aus Kirchen, die seit 1945 unter polnischer Verwaltung in Ostdeutschland stehen. Diese Glocken waren somit durch den Krieg dem Verlust entgangen. Es bedurfte langwieriger Verhandlungen, um die Geläute freizubekommen und sie ihrer Bestimmung zurückzugeben. Heute läuten sie in westdeutschen Patengemeinden ostdeutscher Städte.

 

Während aus Pommern und Brandenburg nur wenige Glocken der Vernichtung entgingen, konnten aus Ostpreußen 108 Geläute auf den Glockenfriedhöfen geborgen werden. Heute läuten Glocken aus der Königsberger Probsteikirche in Aachen und Köln. Glocken des Königsberger Doms befinden sich heute in kleinen Kirchen wie Ahlen-Falkenburg bei Hamburg, Bursfelde bei Hannover und Schloss Burg an der Wupper. Drei Glocken aus Braunsberg haben im Münsterschen Ordinariat Zuflucht gefunden und in Kirchen von Hannover ertönt das Geläut von Glocken aus Königsberg, Insterburg und Rastenburg. Andere ostpreußische Glocken findet man in Hildesheim, Wolfenbüttel und Ostfriesland.

 

Die meisten der geretteten ostdeutschen Glocken hingen bis zum Kriege in schlesischen Kirchen. 245 Glocken stammen aus oberschlesischen und 780 aus niederschlesischen Gotteshäusern. Sie fanden in allen Teilen der Bundesrepublik eine neue Heimat. Mit der einen Domglocke aus Königsberg läutet heute die Glocke der Breslauer Jakobikirche zusammen in Schloss Burg an der Wupper, wo sich die Ostdeutsche Gedenkstätte befindet. Die vielen ostdeutschen Glocken in der Bundesrepublik sind Mahnung und Verpflichtung, die Provinzen hinter Oder und Neiße nicht zu vergessen. Es ist symbolisch, dass die ostdeutschen Glocken bei uns nur leihweise läuten.

 

Seite 2   Fast die Hälfte der Pakete

Das polnische Hauptzollamt in Warschau gab einige aufschlussreiche Zahlen über den Päckchen- und Paketeingang im Laufe der ersten sechs Monate d. J. bekannt. Von den insgesamt 1 648 000 verzollten Sendungen stammte fast die Hälfte aus West- und Mitteldeutschland. Die erhobenen Zollgebühren betrugen 222 Millionen Zloty! Die Höhe des Zolls für einzelne Artikel betrug im Durchschnitt — laut Warschauer Angaben — zwischen 20 und 35 Prozent, Zollsätze von 100 - 150 Prozent des Kaufwertes gehörten jedoch (besonders bei neuen Kleidungsstücken) nicht zu den Ausnahmen. In der Hauptsache wurden von privaten Empfängern in Polen und den polnisch verwalteten deutschen Ostgebieten verzollt: 1372 655 kg Wäsche aller Art, 723 247 Paar Schuhe sowie 105 000 Seiden- und Wolltücher. Nach polnischen Berechnungen dürfte die im zweiten Halbjahr 1957 zu verzeichnende Gesamtzahl der Päckchen und Pakete bedeutend höher liegen als in den ersten sechs Monaten dieses Jahres.

 

Seite 2   Abwanderung unter Strafe gestellt. Bislang keine fruchtbaren Ergebnisse — Das Brachland wächst.

Aus Berichten der polnischen Presse geht hervor, dass die Abwanderung der polnischen Neusiedler aus den Oder-Neiße-Gebieten und überhaupt die Aufgabe von zugeteiltem Land unter Strafe gestellt worden ist. Ein diesbezügliches Dekret wurde bereits am 9. Februar 1957 erlassen. Danach werden denjenigen, „die sich der Bewirtschaftung des eigenen Bodens entziehen", verschiedene Strafen angedroht, und zwar „Besserungsarbeiten", Geldstrafen und Haft bis zu drei Jahren.

 

Wie die Warschauer Zeitung „Trybuna Ludu“ berichtet, sei dieser Erlass herausgegeben worden, weil „sich die Fläche des bewirtschafteten Landes immer mehr verminderte und das Brachland vermehrte", wie auch „die Wohn- und Wirtschaftsgebäude in Massen devastiert worden seien. In dem polnischen Bericht, der insbesondere die Verhältnisse in Ostpommern schildert, wird betont, dass das Dekret „keine fruchtbaren Ergebnisse" gezeitigt habe, doch wird sodann behauptet, dass sich nichts desto weniger „das Bild völlig verändert" habe, indem man nun geradezu von „Landhunger" sprechen könne. Die Ansiedlung werde jedoch „durch den Mangel an Baumaterialien gehemmt".

 

Seite 2   100000 Zloty für einen Reisepass

Unter dem Titel „Für Geld ist alles zu haben" berichtet der Warschauer Rundfunk von einem Schmuggler- und Fälscher-Zentrum in Danzig, dem man durch die Verhaftung eines

Graphikers auf die Spur gekommen ist, das aber bisher noch nicht ausgehoben werden konnte. Angefangen bei gefälschten Personalausweisen bis zu Blutkonserven könne man für Geld alles in Danzig kaufen, wovon sich der „einfache Sterbliche nicht einmal etwas träumen" lasse. In dem Funkbericht wird besonders das Danziger Hafengebiet als ein „Eldorado lichtscheuer Elemente" geschildert. Die angebotenen Waren, stammten sowohl aus dem Inland als auch aus dem Ausland. Die höchsten Preise erzielten gefälschte Reisepässe, man müsse für einen Pass 80 000 – 100 000 Zloty anlegen; ungeachtet dessen würden monatlich 30 - 50 Pässe an den Mann gebracht.

 

Seite 2   Mangel an „Verbundenheit"

In Stettin erfolgte die Gründung des Zweigverbandes der „Gesellschaft für die Entwicklung der Westgebiete" für die „Wojewodschaft" Stettin. Nach siebenstündiger Debatte wurde auf der Gründungsversammlung gefordert, es müsse vor allem „die gesellschaftliche Initiative geweckt“ werden. Außerdem gelte es, „die Verbundenheit der Bewohner mit den Westgebieten zu verstärken".

Liebstadt

Aus dem sowjetisch besetzten Teil Ostpreußens trafen Eisenbahnfachleute in Liebstadt ein. Sie prüften die Bedingungen für eine Wiederaufnahme der eingestellten Eisenbahnlinie von Liebstadt nach Mohrungen. Die Polen haben um Überlassung der Schienen gebeten, die demontiert und nach Nord-Ostpreußen geschafft worden

 

Seite 2   „Friedland-Hilfe" gegründet

Im Grenzdurchgangslager Friedland bei Göttingen ist am 12. November die „Friedland-Hilfe" ins Leben gerufen worden. Bundesvertriebenenminister Oberländer, der zum zweiten Vorsitzenden gewählt wurde, bezeichnete die Organisation als eine „Zweckhilfe auf Zeit". Sie soll solange bestehen, wie „Aussiedler" aus den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie in die Bundesrepublik kommen. Ziel der Aktion ist es, gegen die „Trägheit der Herzen" in Westdeutschland anzukämpfen, zu werben und freiwillige Spenden zusätzlich zu den staatlichen Leistungen zu sammeln.

 

Förderschule für Spätaussiedler-Kinder

Das Sozialwerk der Ackermann-Gemeinde e. V., ein Selbsthilfewerk heimatvertriebener Katholiken, hat in der Vertriebenensiedlung Neutraubling bei Regensburg eine Förderschule für „spätausgesiedelte" Kinder aus Oberschlesien und Jugoslawien eingerichtet. Die Kinder sollen ein Jahr lang im Heim bleiben und dort ihre deutschen Sprachkenntnisse vervollständigen bzw. neu erlernen.

Das Sozialwerk der Ackermann-Gemeinde unterhält außer dieser Förderschule noch Heimeinrichtungen in Flüchtlingslagern sowie ein Lehrlingswohnheim.

 

Ost-West-Gespräch

In der Evangelischen Akademie Loccum fand vom 10. bis 12. November das „Vierte Internationale West-Ost-Gespräch" statt, das das Generalthema „Abrüstung und Sicherheit" trug. Zu den Referenten gehörten u. a. der französische Botschafter in Bonn, M. Couve de Murville, Bundesminister Lemmer und Angehörige der amerikanischen und britischen Botschaft. Besondere Beachtung fand ein Vortrag des bekannten Atomphysikers, Prof. Dr. von Weizsäcker (Hamburg), um den die Aussprache im Wesentlichen kreiste.

 

Neues Institut für Ostrecht

Am 1. Oktober dieses Jahres hat das von interessierten Persönlichkeiten der Universität München, der Hochschule für politische Wissenschaften, des Osteuropa-Instituts, der Vereinigung freiheitlicher Juristen, der Justiz- und Anwaltschaft gegründete Institut für Ostrecht seine Tätigkeit in München aufgenommen. Seine satzungsgemäße Aufgabe ist es, das Rechtssystem in der Sowjetunion, in den sogenannten Volksdemokratien und in der sowjetischen Besatzungszone zu erforschen und die Forschungsergebnisse in der Bundesrepublik und im Ausland zu verbreiten.

 

Seite 2   Der letzte Monat

Die Sowjetunion halte eine weitere Mitarbeit in den Ausschüssen der UN-Abrüstungskommission für zwecklos, da alle Versuche, bei der gegenwärtigen Zusammensetzung eine produktive Arbeit zu leisten, erschöpft seien, erklärte der stellvertretende sowjetische Außenminister Kusnetsow vor dem politischen Ausschuss der UN-Vollversammlung.

 

Im Mittelpunkt der großen Moskauer Militärparade zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution stand eine Schau der sowjetischen Raketenwaffen. Es wurden 38 verschiedene Arten vorgeführt.

 

Im Laufe der mehrtägigen Warschauer Unruhen im Oktober sollen nach einem Bericht des Kommandeurs der Miliz mehr als 100 Angehörige der Miliz und 86 Zivilisten verletzt worden sein.

General Norstad erklärte vor Pressevertretern, dass die Kampfmittel, die dem NATO-Oberkommando heute zur Verfügung stehen, weitaus bedeutender seien, als es sich die Öffentlichkeit vorstellt, sie reichten aus, um einen Angreiferstaat zu vernichten. Das militärische Kampfverhältnis zwischen Ost und West werde allein von den Atomwaffen bestimmt.

 

England hat trotz schärfster Proteste seitens Japans seine H-Bombenversuche im Gebiet der Weihnachtsinsel im Pazifik erneut aufgenommen.

 

Bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg gelang es der SPD zum ersten Male nach dem Kriege, die absolute Mehrheit zu erreichen. Max Brauer löste Dr. Sieveking als Bürgermeister ab.

 

Zu einer Regierungskrise kam es im Lande Niedersachsen, die mit der Bildung eines zweiten Kabinetts Hellwege beendet wurde. Der neuen Koalition gehören die DP/CDU und die SPD an.

 

Der tschechoslowakische Staatspräsident Zapotocky ist im Alter von 72 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Zapotocky trat sein Amt im März 1953 als Nachfolger des damals verstorbenen Präsidenten Gottwald an. Zum neuen Staatspräsidenten wurde der Erste Sekretär der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei, Novotny gewählt.

 

Mitte des Monats kündete Präsident Eisenhower in einer Rede in Oklahoma City ein Ansteigen der Rüstungsausgaben an. Demgegenüber sollen aus dem Staatshaushalt einige Zivilausgaben drastisch vermindert oder ganz eingestellt werden. Die militärische und wirtschaftliche Auslandshilfe soll jedoch von den Einsparungsmaßnahmen nicht betroffen werden.

 

Bundesverteidigungsminister Strauß gab in Bonn bekannt, dass die Bundeswehr demnächst mit Raketenwaffen ausgestattet werden soll. Es handelt sich um vier verschiedene ferngelenkte Raketentypen, die für die Panzer- und Luftabwehr sowie für den taktischen Einsatz auf dem Boden vorgesehen sind. Sie sollen zunächst nicht mit Atomsprengköpfen ausgerüstet sein.

 

Südtirol erlebte die machtvollste Kundgebung der Nachkriegszeit. Auf Burg Sigmundskron, unweit von Bozen, versammelten sich etwa 85 000 Südtiroler einem flammenden Protest gegen die Italisierung des Landes. Sie forderten eine echte Landesautonomie für Südtirol.

 

Ein Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag wurde anlässlich des Italien-Besuchs von Bundespräsident Heuss in Rom von den Außenministern von Brentano und Pella unterzeichnet.

 

Radio Moskau warnte vor der Ausrüstung der westdeutschen Bundeswehr mit Atom- und Raketenwaffen. Dieses von den USA geplante Geschenk könne sehr leicht der Funke werden, der das westdeutsche Atompulverfass in die Luft fliegen lässt. Zur gleichen Zeit tagten Wissenschaftler aus 17 Staaten, darunter die USA, England, Kanada und Indien, in Moskau auf einer Konferenz über atomphysikalische Fragen.

 

Ein Ostkirchen-Institut wurde von Bischof D. Dibelius an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Münster eröffnet. Es ist in eine soziologisch-kirchenkundliche und eine theologisch-historische Abteilung aufgeteilt und soll das kirchliche und religiöse Leben des gesamten osteuropäischen Raumes jenseits Oder und Neiße erforschen und beobachten.

 

Der weltberühmte Tenor Benjamins Gigli ist im Alter von 67 Jahren in Rom an einer Lungenentzündung gestorben.

 

Dänemark und Norwegen, die ebenso wie die Bundesrepublik der NATO angehören, wollen die Annahme von amerikanischen Raketenwaffen mittlerer Reichweite sowie Atomsprengköpfe für Kurzstreckenraketen ablehnen, ist aus dänischen Regierungskreisen bekannt geworden.

 

George Kennan, der amerikanische Russlandsachverständige und frühere Botschafter in Moskau, warnte davor, die westeuropäischen Staaten mit amerikanischen taktischen Atomwaffen auszurüsten. Eine derartige Ausrüstung müsse die militärische Spannung in Europa ernsthaft verschärfen und die Lösung des Problems der deutschen Wiedervereinigung weiter erschweren.

 

Indonesien drängt weiter darauf, Holland zur Freigabe von West-Neuguinea zu bewegen. Nach einer Regierungsverlautbarung in Djakarta müssen die in Indonesien lebenden 50 000 Holländer das Land in Etappen verlassen. Die sieben noch in Indonesien bestehenden holländischen Konsulate müssen schließen.

 

Zu dem Kennan-Vorschlag, die sowjetischen Truppen aus Mitteldeutschland und die westlichen Truppen aus der Bundesrepublik abzuziehen, erklärte Chruschtschow, dass die Sowjetunion bereit sei, einen derartigen Plan zu unterstützen. Über Einzelheiten müsste man sich selbstverständlich noch einigen.

 

Die Trägerrakete, die den amerikanischen „Mond" ins Weltall befördern sollte, explodierte beim Abschuss. Damit ist der nach 28-monatiger Vorbereitungszeit unternommene erste Startversuch eines amerikanischen Erdsatelliten gescheitert Zur gleichen Zeit hatte Sputnik I zum 952. Male. Sputnik II zum 467. Male die Erde umkreist.  Nach Aussagen von Fachleuten ist mit einem neuen Startversuch nicht vor Januar zu rechnen.

 

Seite 2   Pressespiegel

Die ewige Waage

Wieder, wie bisher immer, wollen die beiden Weltblöcke erst „gleichziehen", bevor sie zu Verhandlungen kommen, und diesmal ist es der Westen, der sich im Hintertreffen wähnt und gleichziehen will. — Auf welcher Apothekerwaage aber lässt sich heute oder morgen feststellen, ob die Gewichte nun wirklich gleich verteilt sind, so dass damit jener Sättigungsgrad der Rüstungen eingetreten ist, der den Krieg auf beiden Seiten ausschaltet und politische Verhandlungen möglich macht? Die amerikanischen Generale versichern uns, sie seien auch heute noch überlegen. Macht man daran den kleinen Abstrich, dass sie zumindest gleich stark sind und dass die russischen Fernraketen durch die amerikanischen Stützpunkte für das Bomberkommando und die Mittelraketen aufgewogen werden, so wäre dies wohl ein Ausgangspunkt für Verhandlungen. Begnügt man sich damit nicht, sondern will man erst die Interkontinentalraketen abwarten, so dürfte es vielleicht noch drei bis fünf Jahre dauern. Aber dann werden es wahrscheinlich wieder die künstlichen Monde oder die Raumstationen sein mit denen man erst gleichziehen muss, bevor man Politik treiben kann“. Die Welt, Hamburg.

 

Vaterlandsliebe ein Naturgesetz

„Die Vaterlandsliebe", erklärt Papst Pius XII., geht unmittelbar aus dem Naturgesetz hervor, wie es in dem überlieferten Text der Gottesgebote niedergelegt ist: „Du sollst Vater und Mütter ehren, auf dass es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden. — Es kann also nicht das Ziel sein“, so fuhr der Papst fort, „die Vaterländer willkürlich zu vermischen“. — Die Feststellung wurde umso mehr beachtet, als sie bei dem Empfang der Mitglieder der europäischen Versammlung für Kohle und Stahl in Caslelgandolfo erfolgte. — Wie schon in den früheren Reden, bejahte der Papst rückhaltlos die Bildung der europäischen Gemeinschaft. Aber er wollte zum Ausdruck bringen, dass man kein guter Europäer sein kann, ohne zugleich ein guter Italiener, Franzose, Deutscher oder anderer Landsmann zu sein“. Deutsche Saar, Saarbrücken.

 

Revisionsklausel verbaut

„Beinahe ohne Aufheben vollziehen sich in Westdeutschland Fakten, die es in Zukunft immer schwieriger machen werden, die im westdeutschen NATO-Vertrag für gewisse Fälle vorgesehene berühmte Revisionsklausel je anrufen zu können. So beginnt in diesen Tagen in Nordwestdeutschland das große Bauprogramm der NATO-Luftbasen anzulaufen. Bei Husum entsteht eine NATO-Luftbasis von 360 Hektaren Umfang, bei Rendsburg und zwischen Schleswig und Flensburg entstehen zwei große NATO-Basen speziell für Düsenjäger. Wesentlich ist, dass alle diese Flugplätze an das Pipeline-System der NATO angeschlossen werden, wobei die Ölleitung aus Dänemark (Frederikshaven) kommt. Das Ineinandergreifen der Infrastrukturen der NATO über die Ländergrenzen hinweg ist zweifelslos militärisch gesehen das einzige Richtige aber es macht aus der Bindung Westdeutschlands, die noch der NATO-Vertrag als revidierbar erklärte, ein Definitivum, das mit jedem Jahr unrevidierbarer wird“. Die TAT, Zürich.

 

Falsche Weiche

„Niemand kann wissen, ob der von der Opposition vorgeschlagene Weg zur Überwindung der deutschen Spaltung und Ost-West-Spannung je zum Ziele geführt hätte. Dass aber die Weichen der bundesdeutschen Außenpolitik seit 1952 so gestellt sind, um uns von der Wiedervereinigung immer mehr zu entfernen, das lässt sich wohl mit einiger Gewissheit sagen. — Statt diplomatische Beziehungen mit Warschau und Prag aufzunehmen, hat Bonn jetzt die diplomatischen Beziehungen zu Belgrad abgebrochen. War es die einzige mögliche Antwort auf Titos Anerkennung von Pankow? Wäre es nicht zweckmäßiger gewesen, u. a. unsere Wiedergutmachungszahlungen wenigstens anteilmäßig einzustellen, da Jugoslawien ja nunmehr auch das Pankower Regime als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches anerkennt? — In der besonderen Lage, in der sich das deutsche Volk — nicht zuletzt durch die Schuld der Westmächte — gegenüber seinen östlichen Nachbarn befindet, sollten wir demonstrative Gesten lieber unseren Partnern von der WEU und NATO überlassen“. Der Fortschritt, Düsseldorf.

 

Kein Grund zu Verhandlungen

„Man muss wohl sagen, dass in der Frage der Verhandlung mit den Russen die amtliche amerikanische Stellungnahme niemals aufgehört hat, negativ zu sein. Wenn der Westen stärker ist, nimmt man das Argument Adenauers auf und erklärt, dass kein Grund zu Verhandlungen vorliegt, da man doch in einigen Monaten oder Jahren noch mehr erzielen könne. Ist der Westen gerade unterlegen, ist ein Gespräch nicht möglich, bevor der Westen seinen Rückstand aufgeholt hat“. Le Monde, Paris.

 

Britischer Stoßseufzer

„Deutschland hat immer einen hohen wissenschaftlichen Standard eingehalten. Es besteht kein Grund für die Annahme, dass es hierzu auch heute nicht in der Lage sei. Ist es unter diesen Umständen dann klug und fair, dass die deutschen Wissenschaftler sich auf friedliche und wirtschaftlich nutzbringende Tätigkeiten konzentrieren dürfen, während sich ihre britischen Kollegen auf neue Waffen konzentrieren müssen?" Manchester Guardian

 

Seite 3   Foto: Ortelsburg, das neue Rathaus, das auf dem Fundament der alten Burg erbaut worden ist. (Aus „Masuren in 144 Bildern“, Verlag Gerhard Rautenberg, Leer)

 

Seite 3   Ortelsburg – wie es sich heute zeigt. Von Abbruchaktionen verschont geblieben / Die öffentlichen Gebäude blieben erhalten.

Die ostpreußische Kreisstadt Ortelsburg in Masuren gehört zu den Städten Ostdeutschlands, über die nach Kriegsende nur sehr wenig bekannt geworden ist. Auch in den zehn Monaten relativer Pressefreiheit unter Gomulka vom Herbst vergangenen Jahres bis zum Sommer 1957 beschäftigten sich die polnischen Journalisten nicht mit dieser Stadt. Erste umfassende Berichte sind jetzt erst möglich, nachdem aus diesem Teil Masurens die Schilderungen von Umsiedlern und ausländischen Ferienreisenden vorliegen. In diesem Jahr nämlich kamen nach Masuren einige kleinere Reisegruppen aus skandinavischen und westeuropäischen Staaten.

 

Ortelsburg unterscheidet sich heute in vielem von anderen Städten Süd-Ostpreußen. Zwar vernichteten Krieg, Brandschatzungen und Abbruchaktionen auch hier weite Teile der Stadt, aber dennoch kam es in Ortelsburg nicht zu jener sonst vielfach zu beobachtenden Atmosphäre von völliger Niedergeschlagenheit und Trostlosigkeit. Das lag zum Teil an dem Präsidium des Volksrates der Kreisstadt, der zeitweise von vernünftigen Leuten geleitet wurde. Und zum anderen war es günstig, dass in der Stadt mehrere Hundert deutscher Familien geblieben waren.

 

Wenn wir an dieser Stelle auf einige polnische Maßnahmen eingehen, so wollen wir selbstverständlich kein Loblied der polnischen Verwaltung in Ortelsburg singen. Andererseits aber gebietet es die Wahrheit, über Vorgängezu berichten, die sich wohltuend von dem Geschehen in anderen südostpreußischen Städten unterscheiden. So legte z. B. der Volksrat in dieser Kreisstadt nie Wert auf großsprecherische Propaganda, sondern er versuchte in der Praxis die entstandenen Schäden zu beseitigen und neue zu verhindern.

 

Aus der Nachkriegszeit sind drei Punkte zu nennen, die Ortelsburg zu einer schnelleren Normalisierung als anderswo verhalfen. Erstens wandte sich der Volksrat energisch gegen die Demontagen von Industrie- und Handwerksbetrieben, als ein Sägewerk ausgeschlachtet wurde und dieses Schicksal auch anderen Betrieben drohte. Konnte auch die Demontage des Sägewerkes nicht verhindert werden, so blieben doch die anderen Betriebe erhalten. Zweitens hat der Volksrat bis heute mit der Miliz versucht, den sinnlosen Abbruch heiler oder nur leicht beschädigter Häuser aufzuhalten. Gelang das in dem Allgemeinen ostpreußischen Chaos auch nicht vollständig, so wurden aber doch im Verhältnis zu anderen Städten derselben Größe viele Gebäude durch diese Maßnahme gerettet. Und drittens schließlich gingen vom Volksrat immer Initiativen zum Wiederaufbau aus, die sogar in einigen Fällen Erfolg hatten. Wer unsere großen Städtebilder auf dieser Seite über andere Städte der Heimat gelesen hat, weiß, dass derartige Vorhaben und Maßnahmen wie die drei genannten sehr selten sind.

 

Auch die näheren Umstände, die die Lokalpolitik bestimmten sind uns jetzt bekannt. Die Polen erinnerten sich nämlich, dass diese Stadt bereits im Ersten Weltkrieg zerstört und danach von Grund auf wieder aufgebaut worden war! Während der Tannenbergschlacht raste schon einmal die Kriegsfurie über Ortelsburg, so dass in den zwanziger Jahren – nach dem Abstimmungssieg auch hier — ein großzügiger Wiederaufbau begann. Er wurde drei Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mit dem Bau des neuen Rathauses auf dem Fundament der alten Burg abgeschlossen. Als 1945 wieder das Unheil über Ortelsburg hereinbrach, traf der Krieg eine junge, nach neuzeitlichen Erfordernissen erbaute Stadt, die von 1918 bis 1939 um rund 5000 Bürger angewachsen war.

 

An diesen Wiederaufbau erinnerten sich wie gesagt auch die Polen und unternahmen Anstrengungen, die Reste des modernen Ortelsburg zu erhalten und wiederaufzubauen. Der Zweite Weltkrieg hatte Ortelsburg die Vernichtung von 985 Häusern gebracht, so dass es in allen Stadtvierteln Trümmer gab. Die größten Schäden waren jedoch in der Innenstadt um den straßenähnlichen Marktplatz herum entstanden.

 

Die Trümmerräumung konzentrierte sich anfangs auf völlig zerstörte Straßenzüge. Aus der Kaiserstraße und der Schlachthofstraße wurden gewaltige Trümmerberge fortgeschafft. In beiden Straßen war jeweils nur ein Haus verschont geblieben. Noch schlimmer sah es in der Wiener Straße aus, wo nicht ein Gebäude der Zerstörung entgangen war.

 

An vielen Stellen Ortelsburgs begannen nun Einebnungen. Die Straßenfront vom „Berliner Hof“-Hotel bis zum Gerichtsgefängnis wurde zu einem einzigen großen freien Platz, auf dem nur noch zwei Häuser wie Inseln herausragen. Hier hat man inzwischen Grünanlagen angelegt, weil an dieser Stelle noch keine Neubauten vorgenommen werden können. Dafür ist die gegenüberliegende Seite etwas besser davongekommen. Dort stehen noch einige Gebäude. Die entstandenen Lücken will man durch einstöckige Bauten schließen.

 

Wiederaufbauarbeiten wurden schon bald nach Kriegsende am Gebäude der ehemaligen Reichspost vorgenommen. Heute sieht die Post fast so aus wie früher. Weitere Wiederaufbauarbeiten erfolgten an der Hindenburgschule, die wieder Gymnasium ist, aber kein Internat mehr hat. Auch das Ortulf-Lyzeum ist in mehreren Bauabschnitten wieder hergestellt worden. Beide Lehranstalten bieten den gewohnten Anblick, wenn auch noch Teile der Inneneinrichtung fehlen.

 

Neubauten und Reparaturen wurden auch in der Passenheimerstraße vorgenommen. Die Ecke zur Marktstraße ist stehengeblieben, musste aber renoviert werden. Das zum Wiederaufbau des Hindenburg-Gymnasiums benötigte neue Dachgeschoss entnahm man einigen halbzerstörten Gebäuden aus dieser Gegend. In mehreren Fällen weigerte sich der Volksrat mit Erfolg, dass zu viel Baumaterial aus Ortelsburg nach Kongresspolen und Warschau abtransportiert wurde.

 

Das Wiederaufbaukomitee wandte sich auch den Außenbezirken zu. Während die Kasernen — die weitgehend unzerstört geblieben sind — von den polnischen Streitkräften übernommen und repariert wurden, entstanden unweit davon einige kleine neue Siedlungshäuschen für die inzwischen in staatliche Regie übernommene Ziegelei. Viele Mittel mussten aufgewendet werden, um das bekannte Ortelsburger „Schützenhaus“ wieder herzurichten. Das Gebäude überstand zwar den Krieg und die brandschatzenden Russen, aber es wurde im Innern böse durch Plünderer zugerichtet. Das meiste wurde zerschlagen oder fortgeschleppt. Seit einiger Zeit wird das „Schützenhaus" jedoch wieder benutzt. Andere Gebäude aber in der Umgebung des „Schützenhauses" sind verschwunden.

 

Um- und Ausbauten erfolgten auch an der Fednerschen Villa und am „Café Schiller". Beide Gebäude werden heute von den Polen als Kinderheime benutzt. Es wurden neue Umfriedungen angelegt und einige Gebäudeteile erweitert. Im Großen und Ganzen hat sich hier aber nur wenig verändert.

 

Außer den schon genannten öffentlichen Gebäuden blieben erhalten: das Rathaus, die evangelische- und die katholische Kirche sowie die Grundschule (früher katholisch). Alle diese Bauten sind in gutem Zustand und werden, wenn Schäden auftreten, sogar ausgebessert. Der Volksrat von Ortelsburg bemüht sich immer wieder, Regierungsgelder für derartige Arbeiten zu erhalten. Die Zuteilung der Mittel ist oft nur deswegen möglich, weil andere ostpreußische Städte Wiederaufbaugelder einfach nicht in Anspruch nehmen. Es fehlt ihnen an Materialien, Arbeitern und an gutem Willen, so dass die Verwaltungen besser planender Städte davon profitieren.

 

Weiter ist aus Ortelsburg zu berichten, dass die frühere deutsche Landwirtschaftsschule den Krieg einigermaßen gut überstanden hat. Das Gebäude wurde etwas umgebaut und beherbergt heute ein polnisches Altersheim. Es werden aber auch alte Deutsche aufgenommen, falls sie nicht umsiedeln wollen oder können. Nicht unbekannt ist, was aus dem Falkenhof und der Daumschen Brauerei geworden ist.

 

Obwohl die Stadt über Kasernen und über den benachbarten Flugplatz von Groß-Schiemanen verfügt, macht sich das Militär nur wenig in Ortelsburg bemerkbar. In der Yorck-Straße gibt es ein Lokal, in dem Soldaten verkehren – das ist aber auch schon alles. Im Übrigen erhalten die Soldaten nur wenig Ausgang. Es kam nicht einmal zu dem mehrfach projektierten Bau eines polnischen Ehrendenkmals am Melchior-Platz! Auch daran wird der Unterschied zu anderen süd-ostpreußischen Städten sichtbar, die lieber russische oder polnische Ehrenmale als Häuser bauten.

 

Die Friedhöfe sind ebenfalls in besserem Zustand, als wir sonst zu hören gewöhnt sind. Allerdings musste der protestantische Friedhof von Beutnerdorf an die katholische Gemeinde abgegeben werden. Die evangelischen Deutschen und Polen begraben ihre Angehörigen jetzt auf dem Gottesacker bei den Kasernenanlagen. Wie wir erfahren, ist dieser Friedhof in würdigem Zustand. Das gilt auch für viele evangelische Gräber in Beutnerdorf. Allerdings werden hier ältere deutsche Gräber eingeebnet und mit der Zeit an Polen vergeben. Trotzdem reicht hier der Platz für die zahlreiche katholisch-polnische Gemeinde nicht aus, so dass sie für sich auch noch den Waldfriedhof an der Straße nach Sabiellen hinzunahm. Nach hier werden auch Tote aus dem Ortelsburger Krankenhaus gebracht, das wieder seinem alten Zweck dient und über eine große Bettenzahl verfügt.

 

Die Lage der Ortelsburger Wirtschaftsbetriebe ist als für polnische Verhältnisse zufriedenstellend zu bezeichnen. Die Demontage des einen Sägewerkes wurde inzwischen durch Vergrößerungen anderer holzverarbeitender Betriebe wieder wettgemacht. Die ebenfalls auf Holzbasis arbeitenden Fabriken „Fechner" und „Anders" sind in Betrieb und haben in ihrer Leistung nicht wesentlich nachgelassen, wenn man an die Qualität denkt. In der Quantität dürfte sogar der Ausstoß höher sein als zu unserer Zeit, da die Einschläge in den großen Forsten des Kreisgebietes gewaltig sind und durch keinerlei forstwirtschaftliche Bedenken auf einem erträglichen Stand gehalten werden. So muss gesagt werden, dass es teilweise in den Wäldern zu umfangreichen Kahlschlägen gekommen ist. Allerdings ist die Ortelsburger Forstverwaltung der Polen bestrebt, durch Aufforstung diese Einschläge wieder wettzumachen, was auch längst nicht überall in Ostpreußen der Fall ist.

 

In Betrieb sind auch wieder die Hanfwerke, die wie früher Ballen herstellen und zur Weiterverarbeitung fortschicken. Diese Fabrik erfährt zurzeit eine Vergrößerung, um sie wieder auf den Vorkriegsstand zu bringen. Der Volksrat hat dazu staatliche Mittel erhalten, so dass eine Reihe neuer Arbeitsplätze geschaffen werden konnte. Etwas schlechter ist es um die Ziegeleien von Grzella bestellt, die keinen sehr hohen Ausstoß haben. Hier fehlt es vor allem an Arbeitskräften, die man nun durch die erfolgte Ansiedlung polnischer Heimkehrer aus der Sowjetunion zu gewinnen hofft.

 

Oft musste die Arbeit in der Ortelsburger Baracken- und Leisten-Fabrik unterbrochen werden, weil die Arbeiter mehrfach schon zur Reparatur der Ortelsburger Wasserleitungen eingesetzt werden mussten. Zurzeit sind die Verhältnisse auf diesem öffentlichen Versorgungsgebiet noch immer nicht als normal zu bezeichnen. Weiter hat diese Fabrik wie die Sägewerke (alle diese Betriebe unterstehen einer Wirtschaftsverwaltung in Lyck) vor kurzem durch Einspruch des Ortelsburger Volksrates die Auflage erhalten, an mehreren Tagen im Monat nur Aufträge der privaten Landwirte auszuführen. Auch dadurch wird die kontinuierliche Produktion gehemmt, wenn auch die Landwirtschaft dringend auf Dienstleistungen dieser Betriebe angewiesen ist.

 

Zum Schluss sei noch gesagt, dass in Ortelsburg etwa 65 Prozent so viel Menschen wie zu deutscher Zeit wohnen. Der Verkehr ist gering, und nur an den beiden wöchentlichen Markttagen am Kleinen Haussee herrscht Betrieb in der Stadt. Die Polen sind nicht? (? ich denke Schreibfehler) deutschfeindlich eingestellt und bemühen sich, mit den letzten Deutschen in Frieden zusammenzuleben.

 

Seite 3   Unsere Heimat heute.

Arnsdorf.

Durch unsaubere Kinder der Polen sind in die Schule von Arnsdorf Flöhe und Läuse eingeschleppt worden. Der Unterricht musste unterbrochen werden, um die Lehranstalt vom Kammerjäger reinigen zu lassen. Das hatte jedoch nur wenig Zweck, da die Eltern auch nach diesem Vorfall ihre Kinder und sich selbst nicht ordentlich hielten. Einige Tage nach Schulbeginn begannen Lehrer und Kinder sich wieder zu jucken ... Die Kosten für eine erneute Desinfizierung werden nicht freigegeben, weil dies Übel in den Elternhäusern sitzt und dort noch nicht ausgemerzt werden kann.

 

Allenstein.

Die Allensteiner Gesundheitsverwaltung hat an den medizinischen Universitäten Kongresspolens mit einer Werbung unter den kurz vorm Examen stehenden Ärzten und Apothekern begonnen, um sie nach Allenstein und in das Ermland zu ziehen. Zurzeit fehlen allein in der Regierungsbezirkshauptstadt 42 Ärzte und 29 Apotheker. Im gesamten Ermland müsste die Zahl der Mediziner und Pharmazeuten verdoppelt werden, um eine geregelte Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Die Gesundheitsverwaltung bietet Hinzuziehenden aus diesen Berufen Wohnungen und Existenzkredite.

 

Bartenstein

Von der arbeitsfähigen männlichen Bevölkerung in Bartenstein üben Hunderte keinen ordentlichen Beruf aus, sondern beschäftigen sich mit illegalem Handel. Das stellte die Leitung des Arbeitsamtes fest und verwies darauf, dass die Landwirte es durch die vielen von Ort zu Ort fahrenden Händler nicht mehr nötig hätten, in die Stadt zum Bauernmarkt zu fahren. Man kaufe ihnen auf den Höfen schon das ab. Dadurch sparten wohl die Bauern die Fahrten zur Stadt, aber die Aufkäufer böten die billig angekauften Waren in den Städten zu höheren Preisen als sonst die Bauern auf ihren Märkten an.

Fleming

Im bergigen Gebiet um Fleming nördlich von Allenstein sind polnische Jagdkommandos unterwegs, um für den Export Wild zu schießen. Die Tiere werden in eingefrorenem Zustand in das Ausland verkauft. Auch die Bundesrepublik wird Rotwild und Hasen von den Polen kaufen. Die in Ostpreußen jagenden Förster werden wöchentlich nach dem Aufkommen der Strecke bezahlt. Aus den Dörfern an der Alle werden Staatsgutsarbeiter als Treiber eingesetzt.

 

Allen Lesern und Mitarbeitern unseres Heimatblattes ein recht frohes Weihnachtsfest und ein glückliches neues Jahr. Ostpreußen-Warte. Verlag. Redaktion

 

Seite 4   Wiedersehen mit der sächsischen Heimat. Erzählt von Karl Rauch.

Vor neun Jahren habe ich die Vaterstadt Leipzig verlassen — verlassen müssen. Über die Gründe braucht nichts gesagt zu werden. Nun war ich Anfang Dezember des vorigen Jahres zum ersten Male wieder dort. Zu Besuch — am Krankenbett meiner alten Mutter. In den Jahren dazwischen ist sie öfters zu uns herüber gekommen, hat uns am neuen, hiesigen Wohnsitz besucht und von der Heimat berichtet, von Freunden, Bekannten und Nachbarn erzählt. Bis ins vergangene Jahr hinein hat sie die Strapazen der Fahrt im Interzonenzug trotz ihres hohen Alters noch auf sich genommen, um Kinder, Enkel und Urenkel zu besuchen und an ihrem Leben teilzuhaben, ihre Sorgen zu teilen, ihnen allen mit erfahrenem Rat und praktischer Hilfe beizustehen, wie eine Mutter das ihr Leben lang tut. Nun also war sie schwer krank und konnte nicht mehr reisen. Nicht einmal schreiben konnte sie mehr. Sie musste fest liegen und ihre rechte Hand war gelähmt ...

 

Da gab es freilich kein überlegen: jetzt war es an mir, sie zu besuchen. Und so bin ich gefahren. Es war winterlicher Sonnentag an dem ich fuhr. Als der Zug die Grenze passiert hatte und nach Thüringen hineinfuhr, änderte sich der Glanz der Sonne in keiner Weise. War das überhaupt Grenze? Landschaftlich bestimmt nicht. Im Dämmerschein fuhren wir im Leipziger Hauptbahnhof ein. Ein Wirbel von Frauen und Kindern riss mich während der nächsten Minuten in der Nikolai-, Peters- und Grimmaischen Straße in sich hinein. Nur schwer konnte ich mich daraus lösen: — Leipziger Kinderwelt begrüßte den Weihnachtsmann. Am ehemaligen Augustusplatz wurde der Weihnachtsmarkt eröffnet. Ich fuhr aus dem Trubel heraus ins stille Heimatdorf, saß am Bett der Mutter. Wir umarmten uns ...

 

Anderntags bin ich durchs Dorf gewandert. Das war nun wie im Traum. Ich ging überrascht und erregt buchstäblich durch ein Stück eigener Vergangenheit. „Ist die Zeit stehen geblieben?" so habe ich mich da gefragt. Bin ich wirklich fort gewesen oder war's nur ein Traum, der mich geplagt hat? — Denn alles war äußerlich unverändert so, wie es vor zehn Jahren gewesen ist. Kein Stein hatte seinen Platz verändert, kein Haus, kein Stall, kein Stück Zaun war erneuert worden. War die Zeit wirklich stehen geblieben?

 

Doch nicht, wie ich beim näheren Hinsehen feststellte, nichts war repariert, nichts ausgebessert worden, an allen nagte der Verfall, die langsame Zerstörung ...

 

Und danach schaute ich wieder von den Sachen und Dingen zurück auf die Menschen. Bekannte und Freunde waren älter geworden. Neun Jahre sind eine lange Zeit, sie hinterlassen ihre unverkennbaren Spuren mit Falten und Fältchen, mit gebogenem Rücken und ergrautem oder weiß gewordenem Haar. Und wie überall gab es junge Menschen. Heranwachsende und Kinder. Was mir an ihnen auffiel, war häufig Schmächtigkeit und Blässe. Immer noch bekommen die Kinder in Mitteldeutschland nicht genug Milch. Es hat aber keines deswegen geklagt.

 

Ich habe in den paar Tagen im alten Elternhaus allerlei Besuch empfangen und habe selber manches Haus besucht, bin, bei Freunden und Nachbarn eingekehrt, bei Menschen unterschiedlichen Alters, in Professoren- und Arzthäusern, bei Lehrern, Handwerkern und Arbeitern. Nein, offen geklagt hat im Grunde über äußere Mängel und Nöte kaum jemand, aber die Bücher, Bilder und Kunstpostkarten, die ich mitgebracht hatte, erregten bei Alten und Jungen Bewunderung und lösten Freudenrufe aus, wo ich das eine oder andere verschenkte. Beim Abschied habe ich gefragt, was die einzelnen sich wünschen, was ich ihnen vom Westen aus schicken sollte. Alle hatten Bücherwünsche – ausnahmslos. Das fand ich nun wirklich erstaunlich. Und weil sehr viele bei uns im Lande viel zu wenig von drüben wissen, darum habe ich das aufgeschrieben. Ein gutes Buch gehört bei unseren Verwandten und Freunden in Sachsen und Thüringen, in der Mark und in Mecklenburg zu den begehrtesten Dingen. Geistige Kost wird innig ersehnt ... Nur soll man keine politische Literatur schicken, sondern Geistiges, menschlich Aufrichtendes, Tröstendes, auch Heiteres aller Art. Es besteht richtiger Hunger danach. Jeder sollte beitragen, ihn zu stillen.

 

Seite 4   Neue Kalender und Jahrbücher.

Der redliche Ostpreuße. Ein Hauskalender für 1958. Herausgegeben von Martin Kakies. Verlag Gerhard Rautenberg, Leer. 128 S., 2,-- DM.

Wer die früheren Jahrgänge dieses ostpreußischen Kalenderbuches gesammelt hat, sollte sich auch diese neue Ausgabe nicht entgehen lassen! Heimatkundliche Beiträge, Erzählungen und Geschichten, Anekdoten und Späßchen, Fotowiedergaben und Zeichnungen machen ihn zu einem liebenswerten Begleiter durch das Jahr. Unter den Mitarbeitern finden wir wieder Agnes Miegel, Hansgeorg Buchholtz, Walter von Sanden, Toni Schawalla und viele andere. Der Kalender sollte in keiner ostpreußischen Familie fehlen.

 

Danziger Hauskalender 1958.10. Jahrgang. Herausgegeben von Siegfried Rosenberg. Danziger Verlagsgesellschaft P. Rosenberg, Oldenburg i. O., 128 S., 2,80 DM.

Dieser Kalender, der die Tradition des Danziger Heimatkalenders (25. Jahrg.) fortsetzt, kommt in diesem Jahr in einem neuen Gewande zu seiner Lesergemeinde. Größer im Format und mit farbenprächtigem Umschlag. In einer Chronik, die dem Kalendarium beigegeben ist, werden die Ereignisse des Jahres 1938 lebendig. Der Kalender ist reich illustriert mit Wiedergaben von Fotos aus Danzig von einst und jetzt, dazwischen Wiedergaben von Gemälden, alten Stichen und Stadtkarten. Kurz: ein Kalender, wie man ihn sich als Hausfreund wünscht.

 

Westpreußen-Jahrbuch 1958. Herausgegeben von der Landsmannschaft Westpreußen. Verlag Gerhard Rautenberg, Leer. 160 S., 4,-- DM.

Ein ausgezeichnetes Jahrbuch, das muss man in jedem Jahr wiederholen. Wenn auch der Sinn eines Jahrbuches von dieser Anlage bleiben muss, vornehmlich heimatkundliche Arbeiten in den Mittelpunkt zu stellen, bewahrend und hütend, so freut sich der Rezensent doch feststellen zu können, dass in diesem Jahr der Erzählung breiterer Raum eingeräumt worden ist. Das Buch erfährt dadurch eine willkommene Auflockerung, lässt es volkstümlicher werden.

 

Denk an mich. Ein Hausbuch zum Vormerken von Gedenktagen. Gräfe u. Unzer Verlag, München, 128 Seiten schweres Schreibpapier, zweifarbig illustriert. Leinen mit Kassette 7,50 DM.

Wer mit dem Buch schenken keine glückliche Hand hat, sollte auf diesen Band zurückgreifen. Er wird von jedem Empfänger in der gleichen Weise mit Freude begrüßt werden, von der Braut, wie dem Opa, von Bruder und Freund. Es soll nämlich erst vom Besitzer selbst geschrieben werden. Zwar nennt es der Verlag ein Hausbuch zum Vormerken von Gedenktagen, es ist daneben aber auch für knappe Tagebuchaufzeichnungen wie geschaffen. Jedem Tag des Jahres ist eine Spalte eingeräumt, die mehrere Eintragungen zulässt. Die Monate sind in Kapitel zusammengefasst, denen eine hübsche, zweifarbige Zeichnung voransteht. Auch die Tierkreiszeichen sind gegeben. Eingestreute Seiten mit Glückwünschen vervollständigen den sorgfältig zweifarbig gedruckten feinen Leinenband, der außerdem in einem schönen farbigen Schuber steckt. Ein apartes und praktisches Geschenk.

 

Schlesischer Kalender 1958. Gräfe und Unzer Verlag. München. Format DIN A 5. 3,75 DM.

Der Kalender, nun bereits im vierten Jahrgang, ist rasch zum lieben Jahresbegleiter unzähliger schlesischer Familien geworden. Wie bisher mit 24 Blatt mit Fotopostkarten und Beiträgen bekanntester schlesischer Autoren auf seinem Kunstdruckkarton.

 

Seite 4   Wir gratulieren!

Diamantene Hochzeit

Eheleute Friedrich Puy und Frau Karoline, Puy geb. Braun, aus Brunau (Westpr.) am 14. November? 1957 (vielleicht Schreibfehler, Dezember?) in Groß-Ellershausen bei Göttingen in Rüstigkeit und Frische.

 

85. Geburtstag

Jeanne Gräfin zu Eulenburg-Wicken, geb. von der Burg, geboren in Nancy, wo ihr Vater seinerzeit Chef des Generalstabes des Feldmarschalls v. Manteuffel bei der Deutschen Besatzungsarmee war, am 18. Dezember 1957 in Lindau (Bodensee)-Äschach, Hochbucher Weg 49.

 

83. Geburtstag

Eduard Schischke, ehemals Lokführer der Haffuferbahn Elbing-Braunsberg, am 15. Dezember 1957 in Seesen/Harz, Bornhäuserstraße 4, bei bester Gesundheit.

 

82. Geburtstag

Frau Emma Graetsch, geb. Rohde, aus Insterburg, Kasernenstraße 29, am 23. Dezember 1957, bei ihrer Tochter in Wuppertal-Elberfeld, Grifflenberg 87. Die Jubilarin ist noch sehr rüstig und rege und nimmt lebhaften Anteil an allem, was die geliebte Heimat betrifft.

 

80. Geburtstag

Georg Samel, aus Prökuls, Kreis Memel, am 13. Dezember 1957 in Berlin-Wilmersdorf, Bundesallee 55.

 

70. Geburtstag

Frau Berta Hecht, aus Auxhallen, Kreis Insterburg, am 23. Dezember 1957 in Seesen/Harz, Lautenthaler Straße 66.

 

Dezember-Geburtstagskinder in Flensburg

Helene Anders, aus Angerburg am 1. Dezember 1957, 82 Jahre;

 

Marie Kollex, aus Königsberg am 2. Dezember 1957, 79 Jahre;

 

Elise Neumann, aus Königsberg am 3. Dezember 1957,87 Jahre;

 

Helene Dagott ,aus Rantau, Kreis Samland, am 3. Dezember 1957, 73 Jahre;

 

Meta Link, aus Königsberg am 4. Dezember 1957, 75 Jahre;

 

Josef Erdmann, aus Königsberg am 5. Dezember 1957, 76 Jahre;

 

Ida Pfeiffenberger, aus Kreuzingen am 6. Dezember 1957, 75 Jahre;

 

Julius Golloch, aus Ortelsburg am 6. Dezember 1957, 87 Jahre;

 

Anna Kunz, aus Tilsit am 6. Dezember 1957, 85 Jahre;

 

Maria Mussel, aus Elchwerder am 6. Dezember 1957, 83 Jahre;

 

Hermann Streich, aus Schippenbeil am 9. Dezember 1957, 75 Jahre;

 

Käte Witt, aus Königsberg am 10. Dezember 1957, 83 Jahre;

 

Auguste Ludszuweit, aus Duden, Kreis Pillkallen, am 14. Dezember 1957, 86 Jahre;

 

Anna Breuer, aus Königsberg am 16. Dezember 1957, 79 Jahre;

 

Henriette Isanowski, aus Labiau am 17. Dezember 1957, 75 Jahre;

 

Hugo Friederici, aus Königsberg am 23. Dezember 1957, 70 Jahre;

 

Friedrich Doering, aus Elbing am 26. Dezember 1957, 84 Jahre;

 

Adolf Müller, aus Königsberg am 27. Dezember 1957, 77 Jahre;

 

Otto Schwellnus, aus Sangen, Kreis Heydekrug, am 30. Dezember 1957, 78 Jahre;

 

Anton Hernau, aus Braunsberg am 30. Dezember 1957, 75 Jahre.

 

Das Heimatblatt der Ost- und Westpreußen, die „Ostpreußen-Warte", wünscht allen Jubilaren recht viel Glück und auch weiterhin beste Gesundheit.

 

Seite 4   Danzig-Film

Im Auftrage der Vertretung der Freien Stadt Danzig ist ein Tonfilm über Danzig hergestellt worden, und zwar in Normalbreite wie auch in der Breite von 16 mm zur Vorführung auf Heimatabenden. Er zeigt Bilder der alten Hansestadt in ihrer früheren Schönheit und wird durch den Begleittext fesselnd erläutert. Der Film lässt den Verlust erkennen, der durch die Zerstörung Danzigs sowohl an unersetzlichen Kulturschätzen wie auch an einem einzigartigen Stadtbild entstanden ist.

 

Seite 4   Auszeichnung für Fred Thieler

Der 1916 in Königsberg geborene Maler Fred Thieler erhielt den bedeutendsten internationalen Preis für abstrakte Malerei, den „Lissone-Preis" in Höhe von DM 100 000 Lire, für „junge internationale Malerei". Der in Gröbenzell in Bayern lebende Künstler ist u. a. Mitglied der ZEN-Gruppe, der mehrere bedeutende ostdeutsche Maler angehören.

 

Seite 5   Die Kogge. Jugend- und Kinderbeilage der Ostpreußen-Warte. Nummer 12. Dezember 1957.

Wie alt ist die Weihnachtskerze?

Wenn wir uns auch in diesem Jahre am milden Schimmer der Weihnachtskerzen erfreuen, dann werden wir uns vielleicht auch Gedanken darüber machen, wie lange der Brauch, den Weihnachtsbaum mit Kerzen zu schmücken, schon besteht. Sehr alt ist dieser Brauch noch nicht. Goethe kannte zwar schon den Weihnachtsbaum, nicht aber die Weihnachtskerze. Forschungen haben ergeben, dass zur Zeit Goethes die ersten lichtergeschmückten Weihnachtsbäume in reichen Familien zu sehen waren. Goethe selbst aber hat noch keine Bekanntschaft damit gemacht.

 

Wie alt die Kunst der Kerzenherstellung ist, hat sich nicht ganz genau klären lassen. Das Altertum kannte zwar schon das Bienenwachs aber nicht die Wachskerze. Bei den alten Griechen wurden kerzenartige Gebilde aus dem ölgetränkten Mark von Schilfpflanzen, die man mit Dochten aus Flachsfasern versah, hergestellt. Sie brannten verhältnismäßig lange, entwickelten jedoch einen beizenden Rauch. Weitere künstliche Lichtquellen waren Öllampen und Pechfackeln.

 

Wenn die dürftigen geschichtlichen Quellen nicht trügen, gab es im Byzanz des 4. Jahrhunderts die ersten Wachskerzen. Die Kirchen sollen in der Heiligen Nacht mit Tausenden von Öllampen und Wachskerzen erhellt worden sein. Normalerweise wurde das Wachs damals zur Konservierung von Leichen verwandt. Später wurde das Verfahren der Wachskerzenherstellung wieder vergessen, so dass die Erfindung noch einmal gemacht werden musste.

 

Unter Karl dem Großen nahm in Europa die Bienenzucht und damit die Wachsgewinnung einen großen Aufschwung. Allerdings waren die Wachslichter damals noch so teuer, dass sie nur zu kultischen Handlungen Verwendung fanden. Die Häuser wurden mit dem Kienspan erleuchtet. In besonderem Maße widmeten sich die Klöster der Bienenzucht und der Wachsgewinnung.

 

Die heute noch gebräuchlichen Wachsstöcke scheinen erstmals im 17. Jahrhundert in Venedig hergestellt worden zu sein. Und einige Jahrhunderte hindurch wurden die Kerzen auf die gleiche primitive Art und Weise gezogen, wie die venezianischen Kerzenzieher es lehrten.

 

Da Kerzen nach wie vor teuer waren, wurden sie nur zur Beleuchtung von Kirchen und Schlössern herangezogen. Luther berichtet zum Beispiel, dass in der Schlosskirche zu Wittenberg jährlich 35 000 Pfund Kerzen abgebrannt wurden, was ungeheure Summen verschlang. Die größte Verschwendung auf diesem Gebiete leisteten sich aber auch hier die Fürsten. So wird berichtet, dass für ein einziges Hoffest am Dresdener Hof 14 000 Kerzen gebraucht wurden.

 

Heute sind Kerzen nicht mehr so teuer wie im Mittelalter und in der Rokokozeit, doch heute brauchen wir sie nicht mehr zur Beleuchtung unserer Wohnungen, wenn nicht gerade ein Kurzschluss das elektrische Leitungsnetz lahmlegt. Dafür aber erfreuen wir uns Jahr für Jahr an dem warmen Schimmer der Advents- und Weihnachtskerzen.

 

Seite 5   Weihnachten. Von Barbara Lind.

Die laute Zeit hält ihren Atem an,

als lauschte sie geheimnisvollen Tritten.

Das alte Jahr verhallt in müden Schritten

und schmiegt sich enger an die Nächte an.

 

Die blassen Tage, sie erwachen spät,

wie kleine Kinder, die noch schlafen wollen,

die Stunden, die an uns vorüberrollen,

sind wie in sanfte Dämmerung gesät.

 

Du aber möchtest wie die Stille sein,

die durch den dunklen Raum der Nächte geht,

und ein Frohlocken, tief wie ein Gebet,

ein leises Freuen will zu dir hinein,

denn die Gedanken knien vor einem Kind,

vor dessen Schlummer wir wie Brüder sind.

 

Seite 5   Christkindels Postamt. Allerlei Wissenswertes aus der Geographie.

Es ist kein Märchen, dass Christkindl ein Postamt, um die Weihnachtszeit sogar ein Sonderpostamt hat. Christkindl ist ein Dorf in Oberösterreich. Im Dorfgasthaus hat die österreichische Bundespost jedes Jahr um die Adventszeit ein Sonderpostamt eingerichtet. Eltern, die ihren Kleinen eine besondere Freude machen wollen, schicken den Kinderwunschzettel nach Christkindl und legen dem Brief gleich eine Rückantwort bei. In Christkindl werden nun die Antwortbriefe in neue Umschläge gesteckt und an die Kinder zurückgeschickt. Das gibt eine Überraschung, wenn dann ein Brief mit dem Poststempel „Christkindl“ ankommt und auf dem großen Stempel richtig ein Christkind mit dem Weihnachtsbaum abgebildet ist. So hat die Zufälligkeit eines Ortsnamens zu einem schönen Brauch geführt.

 

Es gibt aber noch mehr solche weihnachtliche Namen in Karten und Atlanten. Wusstet ihr schon, dass es auch ein richtiges Weihnachtsland gibt? Es liegt an der Südostküste Afrikas. Halt, ehe ihr im Atlas sucht, lasst euch noch verraten, dass das Weihnachtsland dort Natal heißt und eine Provinz der Südafrikanischen Union ist.

 

Vor 455 Jahren, am 22. November 1497 umsegelte der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama mit zwei Dreimastseglern und einem Frachtschiff das Kap der Guten Hoffnung, um den Seeweg nach Ostindien zu suchen. Das Weihnachtsfest feierte der Seefahrer mit seinen Mannschaften vor der Südostküste Afrikas auf der Höhe der heutigen Stadt Durban. Zur Erinnerung an den „dies natalis Domini" (Geburtstag des Herrn) nannte Vasco da Gama diesen Küstenstreifen „terra natalis" und das bedeutet so viel wie „Weihnachtsland".

 

In Südamerika gibt es auch noch ein Natal. Dieser Hafenplatz an der Mündung des Rio Grande soll ebenfalls an einem Weihnachtstag von spanischen Seefahrern entdeckt worden sein. Heute ist dieses Natal die Hauptstadt der brasilianischen Provinz Rio Grande do Norte.

 

280 Jahre nach der weihnachtlichen Natal-Fahrt Vasco da Gamas feierte der englische Weltumsegler James Cook mit den Mannschaften seiner Schiffe „Resolution" und „Discovery" ein einsames Weihnachten in der stillen Bucht einer Koralleninsel. Weder Menschen noch Wasser gab es auf diesem ungastlichen Eiland inmitten der polynesischen Inselwelt. Kapitän James Cook nannte die Insel „Christmas Island", das heißt Weihnachtsinsel. Übrigens gibt es noch eine zweite, kleinere Weihnachtsinsel im Indischen Ozean südlich von Java. Vermutlich hat sie ihren Namen auch anlässlich ihrer Entdeckung um die Weihnachtstage bekommen.

 

Seite 5   Für unsere Leseratten.

Das sagten wir ja schon in der letzten Ausgabe, dass wir vor Weihnachten nur schöne, interessante und — für die Jungen vor allem — spannende Bücher aus unserer Bordkiste greifen wollen. Es sind diesmal wieder zwei Jahrbücher dabei, das eine für Jungen, das zweite für Mädchen. Hier also das erste:

Männer, Fahrten, Abenteuer. Das Jahrbuch für richtige Jungen. Wilhelm Andermann Verlag, München. 188 Seiten, 16 Kunstdrucktafeln, mit vielen Zeichnungen im Text. DM 6,80.

Dieses Jahrbuch liegt bereits im 5. Jahrgang vor. Es ist eines der preiswertesten Bücher dieser Art. Dabei sehr gepflegt und solide in der Ausstattung: roter Ganzleinenband, mehrfarbiger Schutzumschlag, reich illustriert und zahlreiche Kunstdrucktafeln. Man blättert gern darin. In vielen Einzelbeiträgen, Erzählungen aus aller Welt, Heiteres und Ernstes, Bastel- und Fototipps. Tiergeschichten und Berichten aus der Technik findet der Junge nicht nur einen unterhaltsamen, sondern auch sehr lehrreichen Lesestoff. Niemals schulmeisterlich belehrend, sondern stets flott und spannend erzählt, auch da, wo es sich um die Vermittlung von technischem Wissen handelt. Ein empfehlenswertes Jungenbuch für den Weihnachtstisch!

 

Das gleiche gut auch für den Parallelband

Glückliche Jahre,  Das Jahrbuch für junge Mädchen. Ebenda. 206 Seiten, 16 Kunstdrucktafeln, mit vielen Zeichnungen im Text. DM 6,80.

Auch dies ist die fünfte Folge des beliebten Mädchenjahrbuches. Ein Jahresbegleiter, der Unterhaltung und Freude schenken will. Anregungen und Ratschläge und der von all den Dingen erzählt, die, junge Mädchen beschäftigen und interessieren. Auch dies ist ein schönes Geschenkbuch für den Weihnachtstisch.

 

Und hier wieder ein Buch für Jungen (aber nicht nur für Jungen, auch die Eltern werden es gern lesen):

Albert Kropp: Jörg wird Copilot. Theodor Oppermann Verlag Hannover. 156 Seiten, Halbln. DM 5,40.

Hier wird das Leben eines Jungen unserer Tage erzählt. Es könnte Dein oder Dein Leben sein. Jörg stammt aus Ostpreußen, verlor seine Eltern im Kriege und wurde von seinen Schwestern auf der Flucht aus der Heimat getrennt. Er packt das Leben mit seinen kleinen Händen und meistert es. Er schlägt sich nach Bayern durch, versucht dieses und jenes, um Geld zu verdienen. Nach seiner Maschinenschlosserlehrzeit kommt ihm ein Glücksfall zur Hilfe: eine amerikanische Familie nimmt sich seiner an und holt ihn in die Staaten. Hier kann er die Grand Flying School besuchen und erreicht schließlich sein Ziel, Flugpilot zu werden. Ein nicht alltägliches Leben, und dennoch eine Erzählung, die das Leben selbst beschrieben haben könnte, so lebensecht ist alles.

 

Und wieder zwei Schneider-Bücher, und dass dies immer etwas Besonderes ist, das wisst Ihr ja inzwischen.

Zunächst dies:

Erich Kloss: Die Försterkinder vom Alpsee. Franz Schneider-Verlag, München. 128 Seiten, DM 3,80.

Auch die Försterkinder sind Euch nicht mehr neu. Hier nun wird von ihren Erlebnissen am Alpsee erzählt. Die winterliche Landschaft des Hochgebirges ist der Hintergrund. Gemsen und Hirsche flüchten vor der Kälte zu Tal. Gerhard und Ingrid stapfen mit den Försterkindern durch den Schnee, um den vierbeinigen Freunden zu helfen. Und von den Fischen der Gebirgsbäche wird erzählt, den munteren Forellen, und von den Gefahren, die ihnen aus der Tierwelt und von Menschenhand drohen. Sausende Fahrten auf den Skiern durch die weiße Wunderwelt und eine zünftige Silvesterfeier auf der Skihütte; das alles ist spannend erzählt. Ein richtiges Buch für die langen Winterabende, für Jungen und Mädchen in gleichem Maße lesenswert (ab acht Jahren).

 

Und auch die Kleinsten sollen vor Weihnachten nicht vergessen sein. Hier ein gemütvolles und heiteres Geschichtenbuch:

Sophie Reinheimer: Liebe kleine Welt. Von vielen Dingen, die Freude bringen. Franz Schneider Verlag, München. 144 Seiten, Halbl., mehrfarbiger Glanzeinband, DM 6,80.

Diese gemütvollen und heiteren Geschichten erzählen von lauter Dingen, denen das Kind täglich begegnet: Uhr und Telefon, die Glocken auf dem Kirchturm und der Wegweiser an der Landstraße werden lebendig. Und die vielen kleinen Erlebnisse, Spiele, Märchen und Träume gewinnen Sinn und Wert durch Sophie Reinheimers anmutige Erzählkunst.

 

Schließlich möchten wir noch alle DJOler — und ein jeder, Junge und Mädchen, sollte Mitglied der DJO sein — auf die Anzeige des Bogen-Verlages auf dieser Seite hinweisen, die auf den neuen DJO-Taschenkalender für das Jahr 1958 aufmerksam machen will. Es ist höchste Zeit, ihn zu bestellen!

Wenn Ihr jetzt noch nicht im klaren seid, was Ihr Euch zu Weihnachten wünschen sollt, dann nehmt doch noch die letzten „Koggen" zu Hilfe. Ihr findet dann bestimmt etwas, und hoffentlich bringt es dann auch der Weihnachtsmann. Und das wünschen Euch Gert und Ute.

 

Achtung! DJO-Taschenkalender 1958

Erstmals erscheint In diesem Jahr der DJO - Taschenkalender als ein zur Gänze eigenes Erzeugnis unseres Bundes. Bei rund 200 Seiten Umfang, in flexiblem Einband, Format 10,5 X 15 cm, enthält er viele Beiträge, die allen unseren DJO - Gruppen und jedem DJO-Mitglied von Nutzen sind.

Der Preis für den DJO-Taschenkalender 1958 beträgt DM 2,50 einschl. Versandkosten.

Es sei darauf hingewiesen, dass unser Taschenkalender von nun ab nur im Bogenverlag - München 2, im ??? (??? = unlesbar) erscheint und auch nur dort, oder bei unserer Rüstkammer, Stuttgart, Pfizerstraße 8, bestellt werden kann.

Kalender, die von anderen Stellen angeboten werden, können keine DJO - Kalender sein. — Der DJO-Taschenkalender erscheint im Auftrag der Deutschen Jugend des Ostens, Bundes-Führun.

 

Seite 5   Von Albert Schweitzer.

Wieviel wäre schon gewonnen,

wenn wir alle nur jeden Abend

drei Minuten zu den unendlichen

Weiten des gestirnten Himmels

emporblickten!

 

Seite 6   Gedenkblatt des Monats.

Adalbert Matkowsky. Zu seinem 100. Geburtstag.

„So toll er auch überschäumt, so ist doch meinem Verständnis nach die ganze Erscheinung des Herrn Matkowsky für unsere Hofbühne etwas wie eine Offenbarung: eine starke Persönlichkeit, in der dichterische Flammen lodern, hat den Mut und auch die Kraft, sich rückhaltlos zu geben wie sie ist, und findet mitten unter viel rasselndem und prasselndem Theaterfeuer wie unbewusst die Wahrheit und das Herz", so urteilt ein Zeitgenosse über Adalbert Matkowsky, den ungekrönten König der deutschen Bühne um die Wende des Jahrhunderts, will man von Josef Kainz absehen.

 

Matkowsky (er hieß eigentlich Matzkowsky) wurde am 6. Dezember 1857 als Sohn einer Näherin in Königsberg geboren. Mit neun Jahren siedelte er mit seiner Mutter nach Berlin über. Er besucht die Realschule, macht sein Einjähriges, ist unentschlossen in der Berufswahl; er versucht es als Lehrling, kehrt aber bald wieder an die Schule zurück. Da wird ein Theaterbesuch entscheidend für sein ganzes Leben. Er muss Schauspieler werden! Er nimmt Schauspielunterricht, und bald schon hat er — knapp zwanzigjährig — sein erstes Engagement am Dresdner Hoftheater.

 

Matkowsky ist ein Naturtalent, ein Vollblutostpreuße, ein Hüne von Gestalt, und er ist stolz auf sich, seine physische Kraft, seine Schönheit, seine Bärennatur, und er ist ein fröhlicher Zecher. Nach zweimaligem Vertragsbruch erhält er Spielverbot, und nach dieser unfreiwilligen Pause erhält er ein Engagement in Hamburg (1886 - 1889) und schließlich am Berliner Hoftheater. Hier entwickelt er sich zu seinen größten Leistungen, vor allem im klassischen Stück, das sein eigentlicher Bereich ist. Gastspielreisen führen ihn bis nach New York, nach Petersburg und u. a. auch in seine Geburtsstadt Königsberg.

 

Er erliegt am 16. März 1909 einem Herzschlag.

 

Über sein künstlerisches Wollen gibt ein Brief aus dem Jahre 1901 beredten Aufschluss:

 

„Mein lieber Herr Stein;

Welcher Kunstanschauung ich folge, möchten Sie erfahren. Aber Sie wissen ja selbst, ich bin kein Theoretiker und folge keiner Kunsttheorie. Bei all meinem künstlerischen Schaffen folge ich nur einer Losung, dem jung erhaltenden Wort Euphorions: immer höher muss ich steigen, immer weiter muss ich schauen.

 

Welche Rollen über mein jetziges Repertoire hinaus ich spielen möchte, will ich Ihnen gerne verraten. Ich möchte den alten Faust des zweiten Teiles spielen und mit ihm sagen dürfen: „Dem Tüchtigen bleibt diese Welt nicht stumm". Ich möchte den Gabriel Borkmann spielen und den Bildhauer Ruvak und einmal zeigen, wie ich den Stil in Ibsens Höhenkunst auffasse. Ich möchte Hauptmanns Florian Geyer spielen — vor allem aber möchte ich vor neue große Aufgaben mich gestellt sehen, die noch von keinem anderen gelöst worden sind. Nur allzu selten freilich sind derartige Aufgaben, doch ich hoffe immer wieder.

 „Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag!"

Mit herzlichen Grüßen Ihr Adalbert Matkowsky.

 

Seite 6   Wunder der Heiligen Nacht. Ein Märchen unserer Tage.

Da liegt inmitten der weiten Heide, weit entfernt von den Mauern der großen Stadt, ein alter vergessener Schafstall. Hier wohnt seit dem letzten Kriege eine arme Flüchtlingsfrau mit ihren beiden Kindern, Inge und Thomas. Es wäre nicht der schlechteste Platz auf Erden, den man sich zum Wohnen wünschen kann. Denken wir nur: im Sommer, wenn die Heide blüht! Dann ist alles rings um den alten Schafstall ein einziges Purpurmeer, aus dem wie grüne Inseln die zerzausten Wachholderbüsche ragen. Auch die Armut wäre das schlimmste nicht, an dem die Kinder leiden. Zwei Ziegen geben fleißig Milch. Thomas hat für sie auch die saftigen Plätzchen in der Nachbarschaft ausgekundschaftet, wo sie vom zeitigen Frühjahr bis spät in den Herbst ausreichend ihr Futter finden: Gras und Blätter und vor allem die besten Kräuter. Im Sommer pflücken Thomas und Inge Heidel- und Preißelbeeren und suchen Pilze. Wenn das Heidekraut blüht, winden sie Kränze und flechten kleine purpurne Körbchen. Und oft kommen fremde Wanderer vorüber, die ihnen ihre kleinen Schätze abkaufen. Wie stolz sind dann die beiden, wenn sie der Mutter, die tagsüber beim Hinrich-Bauer auf dem Felde arbeitet und abends müde nach Hause kommt, ein oder zwei Mark auf den Tisch legen können. Das ist sehr viel. Mutter tut es in die Sparbüchse, und wenn die kältere Jahreszeit kommt, kauft sie den Kindern dafür warme Strümpfe, Hemdchen und Handschuhe.

 

Wir sehen, es sind sehr brave Kinder, Thomas und Inge, an denen die Mutter ihre Freude hat.

Wenn nur der weite Weg zur Schule nicht wäre! Das Dorf liegt eine gute Dreiviertelstunde entfernt. Im Sommer, da geht es noch; aber wenn es regnet und der zerfahrene Heideweg ganz aufgeweicht ist, dann ist es ein schlimmer Weg für die beiden Kinder. Und im Winter erst, wenn der Schnee hochliegt und der Wind entgegengebraust kommt. Hu, da bliebe man gern zu Hause.

 

Aber auch das ließe sich ertragen. Woran sie am meisten leiden, ist, dass sie keinen Vater haben, wie die anderen Kinder im Dorf. Zwar erzählte ihnen Mutter oft, dass auch sie einen Vater hätten, dass er aber, als sie noch ganz klein waren, in den Krieg musste. Auch er wird wieder zurückkommen, wie die anderen Männer im Dorf, daran zweifelte Mutter keinen Augenblick, wenn auch in den ganzen Jahren noch nicht eine einzige Nachricht zu ihnen gedrungen war. Und so glaubten auch Thomas und Inge, dass ihr Vater eines Tages nach Hause komme. Doch es ist schwer, so zu warten von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr, und doppelt schwer, da sie sehen, wie Mutter sich härmt und manch heimliche Träne vergießt.

 

Da ist nun wieder einmal der strenge Winter gekommen und mit ihm das große Fest des Jahres, Weihnachten. Auf dem Tisch steht ein kleines Tannenbäumchen, geschmückt mit weißen Wollfädchen, drei Kerzen brennen daran, und rotbäckige Äpfel liegen darunter. Und für Thomas noch eine warme rote Wollmütze und ebensolche rote Fäustlinge und Socken, und für Inge genau dasselbe, aber in blauer Farbe. Wie freuen sich da die beiden. Ihre größte Freude aber ist, dass sie diesmal auch der Mutter ein Geschenk unter das Bäumchen legen können. Es ist ein großes wollenes Schultertuch, das Inge heimlich gestrickt hat. Das Geld für die Wolle stammt aus einem Geschäft, das Thomas mit dem Herrn Lehrer abgeschlossen hatte: Zehn Körbe prächtiger Pilze. Streng vertraulich natürlich, das ist Ehrensache, versprach der Lehrer. Es ist Thomas aber mitunter sehr schwer gefallen, denn gar manchmal fragte die Mutter: Na, Thomas, wie steht‘s denn mit Pilzen? Und da musste er jedes Mal sagen: Ach, weißt du, die wollen gar nicht so richtig dieses Jahr. Heute aber durfte er's gestehen, und da hat Mutter sie alle beide in die Arme genommen und fest gedrückt.

 

Es ist nun inzwischen für Mutter Zeit geworden, sich auf den Weg zur Christmette zu machen. Inge und Thomas bitten, doch noch so lange aufbleiben zu dürfen, bis sie wieder zurück sei, sie wären doch schon große Kinder! Mutter schlägt das neue Tuch um die Schulter und geht in das Dorf. Thomas stellt eine neue Kerze ins Fenster, damit Mutter den Weg besser finde durch die Nacht. Es wäre dies aber gar nicht nötig gewesen, denn alle Sterne brennen in dieser Nacht am Himmel und legen ein silbernes Licht über die weite Schneefläche der Heide.

 

Wie die beiden Kinder nun so am Fenster sitzen, schon ein bisschen müde, ist es auf einmal, während im Dorfe drüben die Kirchenglocken läuten, als klopfe es zaghaft an der Tür. Und da es noch einmal klopft, geht Thomas hin und öffnet. Da steht ein kleiner Junge vor der Tür, ganz durchgefroren, Gesicht und Fingerchen sind ihm ganz blau vor Kälte. Thomas sagt: Komm rein! Du kannst dir ja draußen den Tod holen. Dass deine Eltern dich so in der Nacht herumlaufen lassen! — Ich habe keine Eltern, antwortet der Kleine. Ich bin ganz allein auf der Welt. Kurzentschlossen sagt Thomas? Heute kannst du nicht mehr weiter, du bleibst die Nacht bei uns, und morgen, da sprech ich erst einmal mit dem Herrn Pfarrer. Der wird schon einen Rat wissen. So und nun wärm dich am Ofen!

 

Inge macht schnell einen heißen Kräutertee und bricht dem Jungen ein großes Stück vom Christstollen. Ei, wie das dem Kleinen mundet, er lebt ordentlich auf. Nun aber schnell ins Bett! befiehlt Thomas, und sie richten ihm ihr eigenes gemeinsames Bettchen. Sie selbst wollen sich etwas Heu aufschütten, darin schläft es sich auch schön warm, meint Thomas.

 

Dann sitzen sie wieder am Fenster und lauschen in die Nacht. Aber es ist irgendwie eine Veränderung draußen vorgegangen, das silberne Licht des Himmels ist stärker geworden, und da sie aufschauen, sehen sie eine große Engelsschar der Erde sich nähern und — wie es ihnen scheinen will — gerade auf das alte Heidehaus zu. Thomas und Inge staunen in diese Erscheinung und sind ganz geblendet von dem Glanz, der von den strahlenden Engeln ausgeht. Vor dem Fenster knien sie nieder und stimmen einen wunderbaren Choral an:

 

Die Himmel verkünden des Höchsten Gewalt.

Gott wandelt auf Erden in Menschengestalt.

 

Und da wissen Thomas und Inge plötzlich, welch großen Gast sie in ihrer armen Hütte beherbergen. Sie treten leise an das Bettchen, um das Gotteskind nicht im Schlafe zu stören, und knien davor nieder. Da richtet sich der Knabe auf. Wie staunen da die Kinder über dessen Veränderung, um das liebliche Gesichtchen fallen goldene Locken auf die Schultern, seine Gestalt ist in ein weites weißes Gewand gehüllt, um sein Haupt schwebt ein lichter Kranz, wie ihn der Mond mitunter in frostigen Nächten trägt. Und er hebt seine zarte Hand und segnet die Kinder. Ihr habt mich in euer Haus genommen, habt mich gewärmt und gelabt und mir euer eigenes Lager gerichtet. Der Herr wird es euch danken. Euer größter Wunsch soll euch noch heute erfüllt werden!

 

Und wie aus einem Mund sagen Thomas und Inge: Dass Vater doch käme! Und das Gotteskind nickt: Er wird kommen! Und lächelte ihnen zu.

 

Dann ist es plötzlich ganz dunkel im Raum. Die Kerzen sind lange heruntergebrannt. Von der Kirche herüber tönen wieder die Glocken, und über den Himmel zieht ein leuchtender, geschweifter Stern. Thomas, sagt Inge, zünd ein neues Licht an. Ich glaube, ich habe geträumt.

 

Sie schauen nach ihrem Bettchen; aber das liegt so, als wäre es heute überhaupt noch nicht benutzt. Sonderbar, sonderbar, wundert sich nun auch Thomas. Bald glaube ich auch, dass ich geträumt habe. Sie setzen sich wieder ans Fenster, stellen eine neue Kerze auf, damit sich Mutter nach ihrem Schein orientieren kann. Sie muss ja nun bald kommen. Sie sehen, wie im Dorfe drüben ein Licht nach dem anderen verlöscht.

 

Thomas macht sich am Ofen zu schaffen, er legt noch ein Scheit zu. Mutter soll es schön warm finden nach dem langen Weg in der kalten Nacht. Sie kommt! Sie kommt! jubelt Inge. Doch gleich darauf stutzt sie, dass sogar Thomas es merkt und fragend vom Ofen zu ihr hinüber sieht. Was hast du denn? Du, sagt Inge leise, sie kommt aber nicht allein. Da ist Thomas mit einem Satz am Fenster und sucht das Dunkel zu durchdringen. Da sieht auch er die beiden Gestalten näherkommen, von denen er in der einen die Mutter erkennt Eng daneben geht ein Mann, und der hat seinen Arm um die Schulter der Mutter gelegt. Vater! jubelt Thomas, und sie reißen die Tür auf und eilen den beiden entgegen. Und sie schluchzen und weinen: Vater, Vater! Dass du nur endlich da bist!

 

So war es doch kein Traum, was sie in dieser Nacht erlebt haben. Gottes Sohn wandelt noch immer auf Erden und tut seine Wunder.

 

Seite 6   Ostpreußische Weihnachtskrone. Ein schöner heimatlicher Brauch fand in Westdeutschland neue Heimstatt.

Alle Ostpreußen kennen sie, aber nur die wenigsten noch können sie selbst herstellen: die traditionelle Weihnachtskrone aus Strohhalmen. Ein uralter Glaube ist mit diesem zarten, zerbrechlichen Gebilde verknüpft: wenn am Weihnachtsabend ein guter Mensch das Zimmer betritt, so bewegt sich die Krone, meinten die Alten. Die Jungen lächeln darüber und meinen, man braucht nur „ein bisschen Wind zu machen", das leiste den gleichen Dienst. Was das graziöse Strohgebilde angeht, so mag das schon stimmen, aber sonst . . . Immerhin darf man am Weihnachtsfest der leise schwankenden Krone getrost glauben; denn wer wäre in diesen Tagen nicht gut? Jedenfalls ist man voller guter Vorsätze.

Der Brauch der Weihnachtskrone kam nach dem letzten Krieg mit den vertriebenen Ostpreußen auch nach Westdeutschland und fand hier bereits eine weite Verbreitung.

Wir möchten damit gleichzeitig unseren Bastlern eine schöne Anregung geben

 

Seite 6   Licht ohne Ende. Von Hans Bahrs.

Die Tage sind so klein geworden

Und riesengroß reckt sich die Nacht.

Der Wind treibt kalt aus hohem Norden

Und Schnee ist seine schwere Fracht.

 

Er reibt die alten, kahlen Bäume

Mit weichem Schnee und ruht sich aus.

Es reiten frohe Kinderträume

In seinem Mantel in mein Haus.

 

Und dann, eh wir uns recht besinnen,

Reißt er den dunklen Himmel auf.

Und wieder will die Mär beginnen.

Der Weihnachtsreigen zieht herauf.

 

So hell, dass unsre Augen brennen,

Verbreitet sich der Weihnacht Schein.

Dass alle Menschen still erkennen:

Dies Licht wird ohne Ende sein!

 

Seite 7   Foto: Das nebenstehende Bild zeigt den Schenkendorfplatz in Tilsit mit dem im Jahre 1890 errichteten Denkmal des Freiheitsdichters. Das Rathaus sowie die Häuser links und rechts standen bereits zur Zeit Schenkendorfs. Mit Ausnahme des Rathauses, in dem heute der Stadtsowjet untergebracht ist, säumen jetzt nur noch Ruinen den weiten Platz. Das Denkmal Max von Schenkendorfs wurde 1945 von den Russen gestürzt, und Tilsit heißt heute Sowjetsk. Unser Bild atmet vorweihnachtliche Stimmung. Vor dem Rathaus (erbaut 1755) steht eine riesige Weihnachtstanne. Der vormittags rege besuchte Weihnachtsmarkt ist schon größtenteils „abgeräumt", denn es ist bereits Nachmittag, wie die Rathausuhr zeigt, und nur ein paar Budchen stehen noch da, um die letzten rotbackigen Äpfelchen und Nüsse, Marzipan und Feigen und die sonstigen unentbehrlichen Genüsse des „bunten Tellers" noch vor dem Hl. Abend an die Käufer zu bringen.

 

Seite 7   Gruß aus der Fremde. Von Max von Schenkendorf.

Weihnachten 1814.

Du liebes frommes Wesen

An dem dies Herz genas,

Das ich mir nicht erlesen,

Das mir mein Gott erlas.

 

Du Holde, Schöne, Süße,

Du meines Lebens Stern,

Ich grüße dich, ich grüße

Aus weiter, weiter Fern.

 

Seite 7   Nichts kann uns scheiden

an ihren Mann

Henriette von Schenkendorf schreibt

Montag, den 25. Dezember 1814 in Karlsruh

Geliebtes Herz!

Meinen letzten Brief schloss ich mit Dank für die mir bereitete Überraschung, und diesen fange ich wieder damit an. Es hat mich lange nichts so gefreut, als die Erscheinung jener Gedichte, aus denen Dein liebendes Herz mich so lachend anspricht, es ist eine wahre Schmerzensfreude, die ich dabei habe ...

 

Geliebtes Herz! Das Fest am Hl. Abend war dieses Mal sehr schön und rührend bei Gr. In der Mitte des Saales war ein Althar errichtet, auf welchem ein Kreutz erhöhet und mit einem Blumenkranz geschmückt war. Zur Seite war der schön verzierte Althar vom vergangenen Jahr mit demselben Bilde der hl. Jungfrau, dann wurden 7 arme Kinder gekleidet, ein schönes Weihnachtslied gesungen und Thee getrunken. — Man vermisste Dich allgemein mit Bedauern, aber gewiss niemand so schmerzlich wie ich — und leider kann ich Dich nicht einmal so ganz von Herzen zurückwünschen, weil es doch nicht Dein Beruf ist, bei mir zu seyn, wenigstens vor der Hand nicht. Da weiß ich denn nun schon am Ende nicht mehr, was ich wünschen und hoffen soll, als in Stille und Demuth den dunklen Glaubensweg weiterzuwandern. Ich weiß wer uns führt. — Um 8 Uhr gingen wir nach Hause, und da bescheerten wir uns auch Kleinigkeiten. — Dein Theil lag auch dabey. Du kannst Dir wohl denken, wie mir bey alledem zu Muth ist. Eine gewisse Weh- und Schwermuth ist, wie Du wohl weißt, zum herrschenden Zuge in meinem Gemüth geworden, alle solche Feste machen dieses Gefühl nur noch stärker und lebendiger. Meine Harfen hängen an den Trauerweiden. Ich schelte mich selbst, dass ich nicht freudig seyn kann bei dem Geburtsfest unseres Heylandes und Erlösers. Ich fühle mich aber gerade jetzt so dürr und trocken wie ein Land ohne Regen — seyne Gnadenfülle wird ja auch wohl wieder einmal über uns ausgeströmt werden. Bete nur recht für mich …

 

Ich hoffe und wünsche, dass Du diesen Brief am Neujahrstage erhalten wirst, dieser Jahresschluss war für uns eine trübe schwere Zeit. — Mit der Beyhilfe unseres Herrn ist sie nun auch überwunden. — Er hat uns in diesem Jahre ja auch manche Freude, manchen schönen Genuss gewährt, und vor allem das Glück der Gesundheit, und dass wir einander noch haben zur Freude, zur Ermunterung, zur Stärkung auf der Pilgerreyse. Was das neue Jahr uns geben oder nehmen wird? — wer mag in die dunkle Zukunft schauen? — nur um die klare Ansicht dessen, was sein Wille ist, bitte ich für uns, und mir wünsche ich einen immer stillern, gottergebenen Sinn in allem, was er über uns beschließen will. — Dem Kinde (Anm.: Schenkendorfs Tochter) wünsche ich einen niedrigen demüthigen Sinn, und die Einsicht, wie nothwendig Dienstbarkeit dem Weibe zu ihrer irdischen Verklärung, die zur himmlischen führt, ist. — Bis jetzt sehe ich alle diese Wünsche nur in der Hoffnung schimmern. Alle irdische Ehren und Pläne werden mir täglich gleichgültiger. Ich möchte mit Dir in einem kleinen Hüttchen bey mäßigem Glück und Arbeit leben und sterben. — Denkst Du noch an das einsame Hüttchen im Thale bey Appenau? —

Nun, wie Gott es beschlossen hat, so wird es gut und herrlich seyn, durch Nacht zum Licht und Leben — ohne Schmerzen wird kein leiblicher und kein geistiger Mensch gebohren, also nur Muth gefasst, gieb mir Deine Hand, mein Geliebter, mein Bruder, und so lass uns das neue Jahr wieder begrüßen. — Es wird uns, es mag kommen, was da wolle, nur fester, inniger vereinigen mit unserem Herrn für die Ewigkeit. — Ist denn etwas, was uns scheyden könnte von uns selbst und von der Liebe Gottes? Nein, nein, nichts, nichts auf Erden, mein Liebster, Einziger ...

 

Nun, mein lieber, lieber Engel, lebe wohl, Du magst bleyben oder kommen, oder wieder reysen, magst niedrich oder hoch, arm oder reich seyn, Du bist und bleibst doch immer der Eine, der für mich gebohren ist, dem ich allein auf Erden angehören mag. — Habe Dank für alle Liebe und Treue — das heylige Weihnachtsfest möge Dir doch recht gesegnet gewesen seyn. Ach, ich fühle es, wie auch bei Dir unter Schmerzen und Thronen himmlische Blumen in Deinem Herzen erblühn. Gott segne Dich, mein Geliebter. Jettchen dankt Dir recht herzlich und innig für das nette Bildchen. — Möge der Engel (einer von den sieben um den Thron) Dich auch ferner an seiner Hand führen und leiten zum hohen Ziel. —

 

Seit ein paar Tagen ist es hier Winter, das erinnert mich dann an die Nordischen Wintertage bei uns zu Hause. Nach Weihnachten geht es hier wieder stark auf den Frühling. — Wo werden wir dieses Jahr die Blütenpracht sehen? Mir ahndets, wir bleyben auch hier, denn es ist mir wohl Gewissheit geworden, dass wir nicht umsonst hier gelandet sind. — Adieu, adieu, Liebstes Herz.

 

Der hier veröffentlichte Weihnachtsbrief Henriettes darf wohl zu den schönsten Frauenbriefen gezählt werden, die wir in der deutschen Literatur besitzen. Schenkendorf schrieb in den Weihnachtstagen dieses Jahres mehrere Gedichte, die in Sehnsucht um Heimat, Familienglück und seine Geliebte gehen.

 

Seite 7   „Muttersprache – Mutterlaut“. Vor 140 Jahren starb Max von Schenkendorf.

Am 11. Dezember 1957, vor 140 Jahren, an seinem 34. Geburtstag schloss einer der Großen und Edelsten unserer unvergessenen Heimat für immer die Augen: der Freiheitsdichter Max von Schenkendorf, dessen unvergleichliches Gedicht „Muttersprache, Mutterlaut“ zum Kronjuwel deutscher Dichtung geworden ist.

 

Max von Schenkendorf wurde am 11.12.1783 als ältester Sohn des Preußischen Kriegsrates Georg von Schenkendorf in Tilsit geboren. In Tilsit hat der junge Max seine ersten Kindheitseindrücke empfangen. Seine liebsten Spiele waren am Ufer des breit dahinströmenden Memelstromes oder auf der Reitbahn auf dem Schlossplatze, wo die kindliche Phantasie durch die farbenprächtigen Uniformen der dort übenden Dragoner zuerst angeregt wurde. Später war sein Lieblingsaufenthalt das von seinem Vater, der nach seinem Abschied begeisterter Landwirt war, erworbene Erbfreigut Lenkonischken mit seinen uralten Parkbäumen. In diese Zeit fallen auch seine ersten dichterischen Versuche.

 

Bis zum fünfzehnten Lebensjahr erhielt Max Hausunterricht, dann schickten ihn die Eltern zum Studium der Kameralia (Volkswirtschaft) auf die Albertina nach Königsberg. Bei seinem liebenswürdigen, stets freigebigen Wesen kam er mit dem Gelde, das der sparsame Vater ihm bewilligte, nicht aus. Dem Vater missfiel das flotte Studentenleben des Sohnes, er gab ihn deshalb zur Weiterbildung in das Haus des Pfarrers Hennig in Schmauch bei Preußisch Holland. Im benachbarten Hermsdorf fand er in dem Erzpriester Wedeke einen väterlichen Freund, der ihn mit viel Verständnis in die deutsche Literatur und Geschichte einführte und den eigentlichen Grundstein für die spätere Entwicklung Schenkendorfs legte. Auf den gastfreien Schlössern Karwinden und Podangen war Max von Schenkendorf ein gern gesehener Gast.

 

Trotz des väterlichen Verbots kehrte Max von Schenkendorf im Jahre 1804 an die Königsberger Universität zurück und beendete im Jahre darauf sein Studium. Er trat als Erzieher in die Dienste des Landhofmeisters von Auerswald und widmete sich in seinen Mußestunden der Dichtung. Anlässlich des Wiederaufbaues der 1808 durch eine Feuersbrunst eingeäscherten Stadt Heiligenbeil gab er eine Sammlung von Liedern und Gedichten unter dem Titel .“Studium", heraus, deren Erlös der schicksalsgeschlagenen Stadt zugutekam.

 

Schicksalsbestimmend war für ihn eine Begegnung mit Frau Henriette Barckley, geb. Dietrich, der Frau eines angesehenen und wohlhabenden Königsberger Kaufmanns, in der Schenkendorf eine verwandte weibliche Seele fand. Nach dem frühen Tode des Gatten heiratete Schenkendorf die liebevoll verstehende Freundin und Gefährtin und führte mit ihr eine kurze glückliche, wenn auch von den Zeitläufen überschattete Ehe.

 

Die Erhebung Preußens rief Max von Schenkendorf nach Schweidnitz, wo die Königsberger Freunde bereits auf ihn warteten. Seite an Seite mit dem ihm zum Freunde gewordenen Dichter Fouqué nahm er als Offizier am Befreiungskrieg bis zur Schlacht bei Leipzig teil. Er nahm aber bald darauf seinen Abschied, da seine rechte Hand durch einen Schuss, den er in einem Duell erhielt, fast gelähmt war. Seine letzten Jahre sind unstet; er weilt in Karlsruhe, in Frankfurt, in Aachen. Schließlich im Jahre 1817 erhält er, ein schon vom Tode Gezeichneter, eine feste Anstellung als Regierungsrat in Koblenz. Zu seinem Geburtstag am 11. Dezember hatte er gute Freunde geladen. Sein Krankenzimmer war mit Efeu geschmückt. Als man das Zimmer betrat, war Max von Schenkendorf bereits in eine bessere Welt hinübergeschlummert.

 

In die deutsche Dichtung ist Max von Schenkendorf vor allem mit seinen vaterländischen Liedern und Gesängen eingegangen („Freiheit, die ich meine", „Wenn alle untreu werden" u. a.), mit denen er neben Theodor Körner am deutschen Aufbruch entscheidenden Anteil hatte.

 

Seine über alles geliebte Frau Henriette überlebte ihn noch um mehrere Jahrzehnte, auch seine Mutter, eine namhafte Schriftstellerin ihrer Zeit, lebte noch viele Jahre zurückgezogen auf Gut Lenkonischken (gestorben1830).

 

Seite 8   Ernst Wedemann 90 Jahre.

Vor kurzem wurde hier des 70. Geburtstages des letzten Superintendenten von Allenstein Rzadtki gedacht. Heute möchte ich, dem damals dieses ehrende Gedenken galt, ein herzliches Gruß- und Segenswort zum 90. Geburtstag meines Vorgängers, des Superintendenten i. R. Lic. Wedemann sagen. Er ist ein Sohn Ostpreußens, geboren am 2. Dezember 1867 in Auglitten, Kreis Bartenstein. Auch seine Gymnasialzeit („Friedrichskolleg" in Königsberg) und sein Studium (Albertusuniversität) hat er in Ostpreußen zugebracht. Dann lebte er, der Vertiefung seiner theologischen Bildung und der Vorbereitung auf das praktische Pfarramt, in dem Predigerseminar der Lutherstadt Wittenberg.

 

Nach dem 2. theologischen Examen zog es ihn in die weite Welt. Er wurde 1893 auf die Pfarrstelle nach Kairo berufen. Dort blieb er bis 1903 und hat in diesen Jahren neben seinem Pfarramt die dortige deutsche Schule geleitet. 1899 verheiratet er sich mit der Tochter eines deutschen Arztes in Jerusalem. In diesen Jahren in Ägypten hat Sup. Wedemann den Blick für die ökumenische Weite der evangelischen kirchlichen Arbeit gewonnen, der ihn sein Lebtag ausgezeichnet hat.

 

Nach Deutschland heimgekehrt hatte er die ostpreußischen Pfarrstellen in Schippenbeil, in Schmoditten und seit 1915 die 1. Pfarrstelle und Superintendentur in Allenstein inne. Auf diesen Pfarrstellen hat er sich das Vertrauen und den Dank nicht nur seiner Gemeindeglieder, sondern auch seiner ostpreußischen Amtsbrüder erworben. So war er lange Jahre hindurch Vorsitzender des ostpreußischen Pfarrvereins. Für seine Verdienste um die Kirche und den Pfarrerstand ist er von der theologischen Fakultät der Albertus-Universität mit dem akademischen Grad des Lizentiaten der Theologie honoris causa geehrt worden.

 

Am Anfang seines Pfarramts in Allenstein stand die Einweihung der dortigen Garnisonkirche. Seine Tätigkeit als Garnisonpfarrer war auch sein letzter Pfarrdienst in Allenstein, als er 1937 als Gemeindepfarrer in den Ruhestand ging. Er hat ihn bis zur Eroberung Allensteins im Januar 1945 ausgeübt.

 

Sup. Wedemann hat in den schweren Jahren des Kirchenkampfs auf der Seite der Bekennenden Kirche gestanden zusammen mit seinen dortigen Amtsbrüdern in einer Brüderlichkeit und Einmütigkeit des Geistes, die sich zum Segen der Allensteiner Gemeinde auswirkte.

 

Auch in seinem Verhältnis zur katholischen Kirche war er, unbeschadet seiner bewusst evangelischen Gesinnung, von vornehmer irenischer Haltung.

 

Als in der Kirche der Union das Amt des Bezirkssuperintendenten eingeführt wurde, wurde Sup. Wedemann die Leitung dieses Amtes für den Reg.-Bezirk Allenstein übertragen. Als derjenige, der in diesen Ämtern als Gemeindepfarrer, Superintendent und Bezirkssuperintendent sein Nachfolger gewesen ist, bezeuge ich dankbar, dass wir in diesen letzten Jahren der deutschen evangelischen Gemeinde Allenstein bis zu ihrem Ende in gegenseitiger Hochachtung und echter Brüderlichkeit, in Einheit des Geistes nebeneinander gestanden haben.

 

Heute verbindet uns die Liebe zur verlorenen ostpreußischen Kirche und zu der Stätte, auf der vor anderen echte ostpreußische evangelische Glaubenshaltung im Werk der Liebe entfaltet und bezeugt wird, zum „Haus der helfenden Hände" in Beienrode.

 

Aus solcher dankbaren Verehrung wünsche ich namens aller seiner Freunde unserem Jubilar, der seinen Lebensabend an der Seite seiner Gattin im evangelischen Pfarrhaus in Heckershausen über Kassel-Land verlebt, weiterhin die Erfüllung der Verheißung: „Um den Abend wird es licht sein“.

Rzadtki, Superintendent i. R., Beienrode. Haus der helfenden Hände.

 

Seite 8   Ehrung für Prof. Kraus

Prof. Dr. Herbert Kraus, Präsident des „Göttinger Arbeitskreises", wurde mit dem Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik ausgezeichnet. Bundeskanzler Adenauer würdigte in einem Glückwunschtelegramm an den ostdeutschen Wissenschaftler dessen wertvolle Arbeit „zur Aufhellung von Vorgängen, welche die deutsche Ostpolitik berühren".

 

Seite 8   Prof. Müller gestorben.

Prof. Dr. Ernst Ferdinand Müller, der frühere Vorsitzende der Lm. Ostpreußen, Landesgruppe Bayern, verstarb am 4. November 1957 in Bad Soden/Taunus und wurde am 8. November in Frankfurt/Main beigesetzt. Prof. Müller war in der Heimat Leiter des Statistischen Amtes für die Provinz Ostpreußen in Königsberg. Nach der Vertreibung widmete er sich aktiv dem Aufbau seiner Landsmannschaft in Bayern.

 

Seite 8   Turnerfamilie Ostpreußen - Danzig – Westpreußen.

Anschrift: Wilhelm Alm, (23) Oldenburg (Oldb.). Gotenstraße 33.

Besinnliche Adventswochen und ein fröhliches und gesegnetes Weihnachtsfest wünsche ich allen ehemaligen Mitgliedern der Turnvereine unserer Heimat und ihren Familien. Möge das Jahr 1957 für uns alle ausklingen unter dem Weihnachtswort: Friede auf Erden!

 

Herzlichste Glückwünsche zum Geburtstage allen im Dezember 1957 Geborenen, vor allen denen, die wieder ein Jahrzehnt ihres Lebens vollenden,

 

am 23.12.1957: Gerda Suchanka (Fr. T. V. Danzig), 40 Jahre.

 

Am 25.12.1957: Irmgard Kallinich (KTC Königsberg) 40 Jahre.

 

am 25.12.1957: Helene Richter-Hoffmann (ZTV Zoppot), 50 Jahre.

 

am 29.12.1957: Heinrich Enders (KMTV Königsberg) 50 Jahre;

 

am 10.12.1957: Kurt Werner (KTC Königsberg) 60 Jahre;

 

am 11.12.1957: William Werth (TV Langfuhr), 70 Jahre.

 

am 28.12.1957: Wilhelm Preuschoff (TV Neufahrwasser) 70 Jahre.

 

und besonders auch unseren ältesten Geburtstagskindern

 

am 11.12.1957: Eduard Klutke (MTV Graudenz) 75 Jahre, und

 

am 05.12.1957: Paul Ortmann (DTC Danzig) 84 Jahre.

 

Der Weihnachtsbrief 1957 wird etwa Mitte Dezember wie üblich an alle bisher bekanntgewordenen Anschriften von Turnern und Turnerinnen aus dem Turnkreisgebiet I Nordost der ehern. Deutschen Turnerschaft versandt. Wer ihn nicht erhalten sollte, den bitte ich um Anforderung kostenfreier Zusendung. Der Brief enthält vor allem wichtige Nachrichten über das 10. Wiedersehenstreffen unserer Turnerfamilie am 22. Juli 1957 in der Festwoche des Deutschen Turnfestes in München. Wegen der notwendigen umfangreichen Vorarbeiten in München bitte ich alle, die nach München zu fahren beabsichtigen, die dem Weihnachtsbrief beigefügte Karte so bald wie möglich an mich zu senden; diese Voranmeldung ist unverbindlich. Wer die Voranmeldung macht, erhält von mir alle weiteren Nachrichten über das Wiedersehenstreffen und das Deutsche Turnfest 1957 in München.

 

Unsere Turnschwestern und Turnbrüder in der Sowjetzone sollen als Gäste mit freier Verpflegung und Unterkunft nach München eingeladen werden. Wer Anschriften jenseits der Zonengrenze kennt, auf deren Einladung er Wert legt, den bitte ich um Bekanntgabe unter Mitteilung, aus welchem heimatlichen Turnverein der Turner oder die Turnerin stammt, möglichst auch mit Angabe des Geburtsdatums oder des Lebensalters.

 

Wir hoffen auf den Tag! So lautete unser Losungswort für 1957. Das ablaufende Jahr hat diese Hoffnung noch nicht erfüllt. Aber unsere Herzen dürfen nicht schwach werden und unsere Hoffnung dürfen wir nicht fallen lassen, möge auch die Zukunft gerade jetzt undurchdringlicher als je zuvor in Finsternis gehüllt sein. Wie der Sturmwind die schwersten Wolken verjagt, so kann sich über Nacht auch der politische Himmel über uns unvermutet klar zeigen und die Sonne der Freude in unsere Herzen scheinen lassen. Alles liegt in Gottes Hand, der uns den Frieden erhalten und endlich eine Völkerversöhnung herbeiführen möge. An uns liegt es, alles zu unterlassen, was der Wiedervereinigung schaden könnte, und alles zu tun, was sie zu fördern geeignet ist. Dazu gehört die Verbindung von Mensch zu Mensch zwischen Ost und West in wahrer Turnertreue! Der Glaube versetzt Berge! Lasst ns fest an die Einheit Deutschlands glauben. Onkel Wilhelm.

 

Seite 8   Rittertag des Johanniter-Ordens

Der diesjährige Rittertag der in der Preußischen Genossenschaft vereinigten ostpreußischen Johanniterritter fand in Bad Godesberg statt. Nach dem Gedenken an die seit dem letzten Rittertag verstorbenen Ritterbrüder, Kommentator Graf Manfred von Brünneck-Bellschwitz, die Rechtsritter Alexander v. Kuenheim (Spanden) und Friedrich v. Knobloch (Friedrichsburg) sowie Ehrenritter Waldemar v. Plehwe, wurden vom amtierenden Kommentator, Dr. Graf v. Lehndorff, die fünf Neuaufnahmen bekanntgegeben.

Aus dem Bericht des Schatzmeisters Graf v. Schlieben ging hervor, dass die Preußische Genossenschaft im Berichtsjahr wiederum einen Betrag für die Verschickung ostpreußischer Ferienkinder aus Berlin und die Versendung von Paketen in die Sowjetzone aufwenden konnte. Durch Spenden aller Ordensmitglieder und auch der ostpreußischen Ritterbrüder wird die noch fehlende Bausumme für ein Haus der Johanniterschwesternschule in Bonn aufgebracht werden. Interessant war ein Bericht des ER Dr. v. Menges (Wangritten) über seine in diesem Jahr durchgeführte Autoreise in den polnisch besetzten Teil unserer Heimat, v. Rautenfeld-Loccum hielt einen Vortrag über das Thema: „Das ritterliche Element in der Evangelischen Kirche unserer Tage". Am Sonntagmorgen nahmen die Mitglieder der Genossenschaft gemeinsam am Gottesdienst teil. U. v. Witten.

 

Seite 8   Landsmannschaftliche Nachrichten.

Wilhelmshaven

Die Zusammenkunft der Landsmannschaft Ostpreußen im November anlässlich des Volkstrauertages war dem Gedenken der Toten in Heimat und fremder Erde gewidmet. Dichtung, Musik und Gesang umrahmten die erhebende Feierstunde. Am 2. Dezember versammelten sich die Landsleute zu einer festlichen Adventsstunde.

 

Seesen/Harz

Im Mittelpunkt des letzten Heimatabends stand ein Lichtbildervortrag von Otto Stork mit 130 unvergleichlich stimmungsvollen Farbaufnahmen. Die Bilder wurden für alle zu einem unvergesslichen Erlebnis.

Am 14. Dezember versammeln sich die Landsleute zu einem Adventsabend und am 15. Dezember mit den Kindern zu einer vorweihnachtlichen Feierstunde unter der Leitung von Schulrat a. D. Papendick. Kulturreferentin Donnermann bringt ein Laienspiel zur Aufführung.

 

Hof /Saale

Die Landsmannschaft der Ost- und Westpreußen gedachte in ihrer letzten Monatsversammlung des 100. Todestages des Dichters Josef von Eichendorff, den so viele innige Schicksalsfäden an Danzig und Westpreußen banden. Stud.-Rat Hoffmann hielt anschließend einen mit großem Beifall aufgenommenen Vortrag zum Thema „Atom — Segen oder Fluch". Der Redner beschäftigte sich sehr eingehend mit diesem brennenden Thema und kam schließlich zu dem Schluss, dass es Aufgabe der verantwortlichen Wissenschaftler und Politiker sei, die Atomforschung allein in den Dienst der Menschheit zu stellen und nicht zu deren Vernichtung zu missbrauchen.

 

Traunstein/Obb.

Der letzte Heimatabend der Landsmannschaft der Ost- und Westpreußen, der schon im Zeichen der adventlichen Lichter stand, erhielt seine besondere Note durch den Lichtbildervortrag „Wanderungen am Frischen Haff und an der Bernsteinküste". Es wurde beschlossen, dass sich die Ortsgruppe dem Bayrischen Roten Kreuz in Traunstein zur Verfügung stellt, besonders für alle Fragen, die sich aus der vorgesehenen Gesamterhebung der Vertreibungsverluste ergeben.

Die Weihnachtsfeier findet am 15. Dezember um 15 Uhr im Hofbrauhaus (Liedertafelzimmer) statt.

 

Ein wahres Feuerwerk köstlichen Humors ... eigene Schöpfungen, die von einer Fülle prächtiger Einfälle nur so funkeln", so schrieb die „Rotenburger Kreiszeitung" am 16./17. November dieses Jahres über einen fröhlichen Heimatabend der Landsmannschaft in Scheeßel mit Dr. Alfred Lau. Für Januar und Februar 1958 sind noch günstige Termine frei. Bitte, wenden Sie sich wegen der auch für kleinere Gruppen durchaus tragbaren Bedingungen nur direkt an Dr. Alfred Lau, Bad Grund/Harz, Hübichweg 16.

 

Seite 8   Suchdienst

Wer kann bestätigen, dass Berta Kopka, geboren 07.01.1898, von Herbst 1916 bis Herbst 1919 auf dem Bahnhof Sensburg als Personenzugschaffnerin und von April 1921 bis Oktober 1933 in der Provinzial-Heil- u. Pflegeanstalt Kortau b. Allenstein, als Pflegerin tätig gewesen ist? Zuschriften erbeten an Frau Berta Haegele, geb. Kopka, Celle, Lauensteinstraße 4.

 

Gesucht werden: Herren, die bei der Stadtsparkasse Königsberg/Pr., Kaiserstraße, tätig waren. Bitte melden bei: Otto Bark, Ronnenberg/Hann., Mühlenrär-Behelfsheim 2.

 

Gesucht wird: Gertrud Piotrowski, aus Woltersdorf, Kreis Lyck (Ostpr.). 1945 geflüchtet nach Holstein, Raum St. Michaelisdonn. Kann evtl. umgesiedelt oder verheiratet sein. Erbitte Nachr. an: Herbert Reiser, Lambrecht/Pfalz, Hauptstraße 65.

 

Ich suche meinen Vater Wilhelm Strasda, geboren 28.04.1899 im Memelland. Letzte Feldpost-Nr. 66 178 D (Zoll) Nachricht erb. an Walter Strasda, Wehr 36a (L), Holland.

 

Königsberger! Gesucht wird Gustav Trittmacher und Frau Wilhelmine Trittmacher, zuletzt wohnhaft Königsberg, Festungsdamm 21. Nachr. erb. an Elisabeth Zuter, Hillensberg 4 p. Wehr (L), Holland.

 

Seite 8   Familienanzeigen

Zum Gedenken! Im Jahre 1957 wurden in die Ewigkeit abberufen unsere Sportfreunde Dr. med. Carl Richter, geb. 25.06.1880, gest. 12.01.1957, in  Hamburg Vereinsführer d. VfB1939 ; Erich Schulz, geb. 16.12. 1899, gest. 17.01.1957 in Weil/Rh.; Albert Lokau, geb. 14.02.1892, gest. 02.051957 in Hamburg; Kurt Löwe, geb. 12.11.1892, gest. 17.07.1957 in Hamburg; Fritz Szyddat, geb. 06.06.1897, gest. 20.07.1957 in Hau bei Kleve; Walter Kastner, geb. 22.03.1891, gest. 25.10.1957 in Herford. Sie standen zu ihrem alten Sportverein in guten und in schlechten Zeiten in unabänderlicher Treue und hofften, wie auch wir, auf ein frohes Wiedersehen in der alten Heimat. Wir werden sie nicht vergessen. Mit den Angehörigen trauert auch der Kameradschaftsdienst des ehem. VfB Königsberg i. A.: Krawzick

 

Wir geben die Verlobung unserer Tochter Karin-Ingrid mit Herrn Gerhard Bednarski bekannt. Willi Käding und Frau Ingeborg Käding, geb. Bertram. 21. Dezember 1957. Eßlingen/Neckar, Staullenbergstraße 28

 

Verlobte. Karin-Ingrid Käding. Gerhard Bednarski. Hannover-Linden, Röttgerstraße 24

 

Am 15. November 1957 ist der ehemalige Abteilungsleiter der Königsberger Werke und Straßenbahn GmbH, Königsberg (Pr.) KWS. Herr Albert Serwill nach kurzer Krankheit unerwartet verstorben. Wir verlieren in ihm einen treuen Mitarbeiter, dem wir und alle früheren Arbeitskameraden für seine seit fast zehn Jahren geleistete ehrenamtliche Tätigkeit in unserem Arbeitsausschuss zu großem Dank verpflichtet sind. Arbeitsausschuss ehemaliger Arbeitskameraden der Königsberger Werke und Straßenbahn GmbH Königsberg (Pr.) Georg Sonne, Anna Schiel, Ernst Radewald, Alfred Berger.

 

In der Nacht zum 4. Dezember, kurz vor Vollendung seines 97. Geburtstages, ist unser lieber Vater, Großvater und Urgroßvater Ernst Junghahn, früher Königsberg, Sattlergasse 11, sanft entschlafen. In tiefer Trauer im Namen aller Angehörigen: Helene Dünhof, geb. Junghahn. Vollme inWestf.

 

Seite 8   Ehemalige Angestellte und Arbeiter Königsbergs.

In der Ostpreußen-Warte für Oktober 1957 wurden an dieser Stelle Hinweise auf Verbesserungen durch die zweite Novelle zum Gesetz zu Artikel 131 des Grundgesetzes gegeben. Nachdem Auskünfte von Versorgungsregelungsbehörden über die Auslegung und Anwendung des Gesetzes vorliegen, wird noch auf folgende wesentliche Erweiterung des anspruchsberechtigten Personenkreises hingewiesen:

 

Angestellte und Arbeiter, die am 8. Mai 1945 einen vertraglichen Anspruch auf Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen oder auf Ruhelohn hatten und am 8. Mai 1945 bei ihrem Dienstherrn und seinem Rechtsvorgänger mindestens 10 Jahre ohne von ihnen zu vertretende Unterbrechung im Dienst gestanden haben, stehen hinsichtlich der Regelung ihrer Rechtsstellung den Beamten auf Lebenszeit gleich.

 

Für die Angestellten und Arbeiter der Stadtverwaltung Königsberg, der KWS, der Königsberger Hafengesellschaft, der Messamt Königsberg (Pr.) GmbH, der Stadtsparkasse und der Stiftung für gemeinnützigen Wohnungsbau gab es eine solche Versorgungsregelung. Anspruchsberechtigte, die die Voraussetzungen erfüllen und die mindestens seit 31. Dezember 1952 im Bundesgebiet oder Westberlin wohnen, nehmen nach dem Gesetz zu Artikel 131 an der Unterbringung teil oder können Versorgung erhalten. Versorgungsberechtigt sind auch die Hinterbliebenen. Anträge und Anfragen sind an die zuständigen Versorgungsregelungsbehörden zu richten. Stadt Duisburg, Patenstadt für Königsberg (Pr.)

 

Seite 8   Fern der Heimat starben.

Lehrer i. R. Ernst Herrmann (früher Allenstein) im Alter von 86 Jahren in Mackenzell, Krs. Hünfeld/Hessen. Lehrer Herrmann war zwanzig Jahre lang in Alt-Wartenburg und später in Nickelsdorf/Ostpr. tätig. Nach seiner Pensionierung erwarb er sich in Allenstein auf dem Germanenring ein Haus.

 

Der bekannte Goldschmied und Juwelier Willi Schroeter, aus Bromberg ist am 25.09.1957 im Alter von 62 Jahren in Bremen einem Herzinfarkt erlegen. Er hinterließ drei Kinder, von denen die jüngste Tochter noch zur Schule geht. Anschrift der Witwe: Margarete Schroeter, geb. Schulz, Bremen, Geeren 29

 

Seite 9   Weihnachtsmarkt. Holzschnitt von Bodo Zimmermann.

 

Seite 9   Weihnacht. Von Ernst Wiechert.

Lasst die Tore nun verschließen,

vor den Toren steht die Zeit.

Will sie bleiben oder fliehen:

uns lasst vor der Krippe knien,

still ruht hier die Ewigkeit.

 

Vor den Fenstern glänzt's wie Waffen,

glänzt Herodes auf dem Thron,

doch hier brennen still die Kerzen,

und die Jungfrau kniet in Schmerzen

lächelnd vor dem jungen Sohn.

 

Vor den Fenstern lärmen Knechte,

doch hier knien die Hirten stumm,

still dreht sich die Sternennabe,

Joseph lehnt an seinem Stabe,

Ochs und Esel stehn herum.

 

Heute wir vor tausend Jahren

ist des Herzens Heimat fern,

Trommeln dröhnen vor den Toren,

doch uns ist ein Kind geboren, —

und am Himmel strahlt der Stern.

Aus Ernst Wiechert „Meine Gedichte", Verlag Kurt Desch. München.

 

Seite 9   Advent. Von Wanda Wendlandt.

Hoal ute linke Schuwlaod

dem witte Damastdook,

dem eenz'ge von Tohuus noch! —

On Du legg wech dem Book,

et ward all sachtkes dieser,

Du kannst nu all, mien Hans,

de Lichterkes anstöcke

an onsem Fichtekranz.

Wat good dat rökt — et prischle

de Appels önne Röhr;

paor Peepernät noch bring eck,

Ju jankert doch so sehr!

Erscht aower stelld ön ons Mött

dem Bild vonne Kommod

von onsem Vaoder --- Truutster!

läwst? --- odder böst lang dod???

 

On nu, nu laot ons singe

de Leederkes tobest;

Kickt, wi de Flockes kriesle,

Boold kömmt de hölje Chrest!

 

Seite 9   Das Licht. Von Tamara Ehlert.

Maria Sakuth stand am Fenster. Sie hauchte auf die gefrorenen Scheiben. Eine große Eisblume zerging in der Wärme ihres Atems. Der Garten war verschneit und ging langsam in der Dämmerung unter. Sie horchte in die Stille des Hauses hinein. Die Uhr tickte, der Ofen sang. Der wandernde Feuerschein traf den Weihnachtsbaum, die Kugeln glänzten auf wie kleine Monde. Sie wandte sich ab, öffnete die Tür und ging in den Schnee hinaus.

 

Die Dorfstraße lag unter dem Rauch abendlicher Herdfeuer. Die Häuser hatten Mützen auf, warmer Stalldunst vermischte sich mit dem Geruch von Tannengrün und frischgebackenem Kuchen.

 

Die Kirche war erleuchtet. Mildes Licht floss durch die Fenster und färbte den Schnee wie Bernstein. Aus den Bäumen jenseits der Friedhofsmauer stiegen Krähen auf. Eine Wolke aus Raureif und Schnee sank lautlos und glitzernd auf die Gräber nieder.

 

Maria sah den Krähen nach. Sie tauchten in den grauen Himmel ein, der Wind verschluckte ihre Schreie.

Der Wind kam von der See, er war scharf wie Glas und zerschnitt ihr das Gesicht. Sie ging auf die Dünen zu und dachte an Johannes. Im Sommer waren sie diesen Weg gemeinsam gegangen. Das Heidekraut brannte lila und rot, die Kiefernstämme glühten in der Sonne, es roch nach Harz und Honig. Sie kletterten auf die Düne, die See war ruhig und warf kleine sanfte Wellen auf den Strand. „Man sollte nicht glauben, dass sie wie ein böses Tier sein kann", sagte Johannes. Maria sagte nichts. Sie sah den Möwen zu, die silbern in der Bläue trieben, und sie dachte daran, dass Johannes wieder fort musste.

 

Heute war die See ein böses Tier. Es lag zuckend und schäumend und dunkelgrün unter dem schweren Himmel. Aus seinem gierigen Maul troff Gischt und spritzte kochend und gurgelnd über die Steine. Es prallte heulend gegen die verschneiten Dünen. Die Dünen hielten stand, eine stumme weiße geduldige Herde.

 

Das Blinkfeuer leuchtete tapfer gegen die Dunkelheit an, eine tröstliche Lampe für Johannes Sakuth und alle, die auf See waren.

Für alle, die fern sind, dachte Maria, will ich am Weihnachtsbaum ein Licht anzünden, ein Licht für alle, die in Not und Gefahr sind.

Sie wandte sich ab und ging den Weg zurück. Sie ging rasch, mit gesenktem Kopf und zärtlich erhobenen Händen, als trüge sie darin das Licht und müsste es vor dem Winde schützen.

 

Martin und Christine Sakuth gingen über die Brücke. Der Fluss trieb dunkel und schläfrig gegen die Pfeiler. Am Geländer hockte eine alte Frau und bewachte ihre letzten Weihnachtsbäume. Sie war schief und mager wie ihre übriggebliebenen Tännchen.

„Kalt, junges Frauchen", krächzte sie, „kalt, junger Herr!" Sie hielt ihre knochigen Finger über ein Becken mit glühenden Holzkohlen.

„Wärmen Sie sich ein bisschen auf bei mir, kommen Sie man her — Wärme tut gut“. Die beiden blieben stehn.

„Na, Mutterdien", sagte Martin freundlich, „kannst ja bald zusammenpacken und nach Hause gehn“.

 

Was is schon Weihnachten, wenn man alt ist und ganz allein. Da zündet man sein Baumchen an, trinkt einen scharfen Grog und kriecht ins Bett“. Sie kicherte und wiegte sich hin und her, ein seltsames kleines Wurzelweib im Widerschein der Glut. Ihr krummer Schatten hüpfte gespenstisch über den Schnee.

 

Martin sah Christine an. Sie neigte sich über das kleine Feuer, über dem offenen blonden Haar trug sie einen hellen Wollschal, sie sah sehr jung aus.

„Woran denkst du?" fragte er.

Sie sah auf und lächelte. „Ich freue mich auf unseren Baum", sagte sie. „Wollen wir umkehren“.

 

Sie gingen langsam weiter, die sanft beschneite Straße entlang. Am Ende der Straße lag ihr Haus. Der Weihnachtsbaum war mit bunten Kerzen besteckt. Martin zündete sie an. Die Kugeln glänzten auf wie kleine Monde. Einer der Zweige war ohne Schmuck. Er neigte sich ein wenig unter der Last einer einzigen weißen Kerze.

 

„Das Licht für alle, die fern sind, die in Not und Gefahr sind", sagte Martin Sakuth.

Die kleine Flamme stieg golden am Docht empor. Sie brannte sehr ruhig, von keinem Lufthauch bewegt. Christoph Sakuth drückte die Nase ans Fenster. Die Dunkelheit kroch über die lehmigen Felder, sie machte die Spiegel der Pfützen blind und verschluckten die kahlen Sträucher.

 

Zu Hause liegt jetzt Schnee, dachte Christoph. Er hatte Heimweh, aber er sagte nichts. Die Mutter sollte nicht traurig werden. „Junge, du darfst dich jetzt nicht umdrehn", sagte die Mutter.

„Nein, nein", sagte Christoph. Er wusste, dass sie ihn mit dem kleinen Baum überraschen wollte, den sie am Morgen aus dem Wald geholt hatte.

Zu Hause hatte der Vater immer den Baum angezündet. „Vater ist vermisst", sagte er leise vor sich hin. Er hatte es schon so oft sagen müssen, überall, wo man ihn nach dem Vater gefragt hatte. Er versuchte, sich etwas Bestimmtes darunter vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Das Wort war unheimlich, wie ein dunkles Zimmer, wie ein großer fremder Wald bei Nacht.

 

„Jetzt darfst du dich umdrehn, Christoph“. Er wandte sich um. Der kleine Baum stand auf dem Tisch. Er hatte keinen Schmuck. Er trug nichts als eine einzige weiße Kerze. Die Mutter zündete sie an. „Das ist unser Licht für alle, die fern sind", sagte sie, „für alle, die in Not und Gefahr sind“.

 

Der Wind warf sich gegen das Haus, und die kleine Flamme duckte sich zitternd, als wollte sie erlöschen.

Die Mutter neigte sich über das Licht und umschloss es mit beiden Händen, dass es darin geborgen war. Die Flamme richtete sich empor und leuchtet, klar und sanft eine tröstliche Lampe in der Dunkelheit

 

Seite 9   Winter in der Heimat.

Die Heimat trug ihr Winterkleid, als ich sie dem Mädchen, das bald danach meine Frau geworden ist, zum ersten Mal zeigen durfte. Von allen Eindrücken jener Tage ist ihr, der jungen Künstlerin, am tiefsten im Gedächtnis die Farbensymphonie haften geblieben, die wir am Haff erlebten: die weite, graublaue Eisfläche, der weiße Schnee am Ufer, das gelbe Rohr und die roten Ziegelhaufen in den kleinen Häfen.

 

Wir sind dann in Cadinen durch den tiefen Schnee des Schlossparks gewatet bis zu der Höhe, von der wir über das Haff und die Nehrung bis zur fernen See schauen konnten. Agnes Miegel hat diesen Aussichtsblick im Park zu Cadinen einmal mit dem Park zu Peking verglichen, den man den „Altar des Himmels" nennt.

 

Gleich danach erlebten wir rechte heimatliche Gastfreundschaft, als wir vom frischen Wind reichlich abgekühlt in die warme Gaststube zu Gottschalks traten. Die freundliche Wirtin lud uns ein, an dem großen Kachelofen Platz zu nehmen, und brachte fürsorglich zwei heiße Ziegelsteine, damit das „durchfrorene" Mädchen sich die Füße daran wärmen konnte. Wir stärkten uns mit Speis und Trank. Es sei bei dieser Gelegenheit das Rezept unseres winterlichen Nationalgetränkes, eines ordentlichen steifen Grogs, verraten: Rum muss, Zucker kann und Wasser braucht nicht zu sein.

 

Ja, von Winter am Haff gibt es noch viel zu erzählen: von den Segelschlitten, die über die weite Fläche sausten, von den Fischern, die der harten Arbeit der Eisfischerei nachgingen und von den Schlittschuhläufern. Mein Vater erzählte, dass er als junger Mensch an einem Tage von Elbing über das Haff auf Schlittschuhen bis nach Danzig gelaufen ist. Wo gab es solche Eisflächen und solche Möglichkeiten! Der „Schoepper"- oder Schifferschlittschuh war das Richtige für solche weiten Touren. Er bestand aus einem Stück Holz mit eingelassener verhältnismäßig breiter Stahlschiene und gab dem Fuß, an dem er mit Riemen befestigt wurde, einen festen Halt. Ferner brauchte man eine Eispike, nicht nur, um sich damit abzustoßen, sondern auch als „Rettungshaken" für alle Fälle, denn es kam schon mal vor, dass das Eis nicht hielt oder ein Spalt durch den Schnee verdeckt und nicht sichtbar war. Es klang unheimlich, wenn unter der Eisfläche ein donnerndes Grollen ertönte, sich weiter fortpflanzte, und wenn man hörte, wie das Eis irgendwo in der Ferne krachte und riss.

 

Als Jungen sind wir auch zu Fuß über das Eis des Haffs gewandert, früh am Morgen von Tolkemit aus, wenn es noch dunkel war. Die Sterne standen am Himmel, und neben dem Kompass zeigte uns nur das Leuchtfeuer von Kahlberg die einzuschlagende Richtung an.

 

Schweine schlachten gab es im Winter nicht nur auf dem Lande. Auch die Ackerbürger am Rande der Stadt in Grubenhagen, in der Hochstraße und auf Pangritz Kolonie schlachteten zur Winterzeit ihr Schweinchen. Das war eine festliche Angelegenheit nicht nur für die glücklichen Schweinehalter, sondern auch für uns, die wir weiter in der Stadt wohnten. Das ganze Jahr hindurch hatten wir getreulich unsere Kartoffelschalen, Gemüse- und Speiseabfälle in einer Tonne gesammelt, deren Inhalt regelmäßig abgeholt, „unser Schwein" dick und fett gemacht hatte. So kamen wir dann zu hausgemachten „Schmeckwürsten", einer ordentlichen Wurstsuppe und einem saftigen Braten.

 

Ja, und die Hausbäckerei in den Wochen vor Weihnachten, wenn es überall nach Pfefferkuchengewürz duftete, zu denen unbedingt das echte Staesz'sche Pfefferkuchengewürz gehörte! Die Rosenkugeln von Dieckert sollen nicht vergessen sein und natürlich nicht das Marzipan. Ohne Randmarzipan und Marzipankartoffeln war in der Heimat Weihnachten doch undenkbar. Man konnte das Marzipan in erstklassiger Qualität kaufen, in vielen Häusern wurde es aber auch nicht weniger gut selbst gemacht.

 

Nun sind wir also bei Weihnachten angelangt. In unseren Träumen gehen wieder die Adventsmütterchen durch die Straßen unserer Kindheit und klopfen an die Türen. Ängstlichen Herzens sagen wir ihnen unsere Weihnachtsgedichte und Sprüchlein, tragen ihnen unsere Wünsche an das Christkind auf und tun ihnen eine Münze in ihre Büchsen als Botenlohn, damit sie unsere Wünsche auch richtig weiterleiten.

 

Ach, die heimatliche Stube zur Weihnachts- und Winterzeit! Kalt war es daheim, aber unsere Stuben waren winterfest. Bei reichen und armen Leuten gab es überall Doppelfenster, die wir im Westen unseres Vaterlandes meist vermissen Ja, und die großen Kachelöfen, die stetig eine gemütliche Wärme spendeten! Neulich war meine Mutter bei uns zu Besuch. Sie stand an dem ordentlichen massiven Kachelofen, den uns ein gütiges Geschick auch in unserer jetzigen Berliner Wohnung bescherte, und wollte sich nicht davon trennen. In ihrem Flüchtlingsstübchen in Westdeutschland kennt sie seit Jahr und Tag nur einen kleinen eisernen Ofen, und jetzt erschien ihr unser großer warmer Ofen „wie zu Hause".

 

Doch es ist ein Irrtum, anzunehmen, dass wir daheim nur immer hinter dem Ofen hockten. Auf dem Friedrich-Wilhelm-Platz lachten wir über die Marktfrauen, die frierend über ihren Holzkohlenöfchen kauerten, die aus alten großen Blechbüchsen hergestellt waren. In den Pausen schlugen wir auf den Schulhöfen trotz Verbot immer wieder große Schneeballschlachten. Auch die Lehrer blieben dabei nicht immer ganz verschont. Auf dem Eisplatz am Bahnhof und auf dem Elbingfluss zwischen den Brücken tummelten sich gewandte Schlittschuhläufer nach den Klängen einer Drehorgel.

 

Wo es etwas zu sehen gab, waren wir dabei, ob Silvester in den Straßen ein großer Allotria getrieben wurde, ob die Brummtoppsänger durch die Straßen zogen oder ob die Brauereien bei der Eisernte waren. Wenn es die Schularbeiten zuließen und manchmal auch, wenn sie es nicht zuließen, waren wir auf dem Thumberg und auf dem Gänseberg zum Rodeln.

 

Unvergesslich war auch für jeden eine Fahrt mit dem Pferdeschlitten durch die Wälder der Elbinger Höhe, wenn die Schlittenglocken erklangen, wenn der Atem der Pferde und der Menschen in der kalten Luft dampfte und die Bäume gar im Schmuck des Raureifs prangten.

 

Und Weihnachten, immer wieder Weihnachten! Der Gang durch den knirschenden Schnee bei hellem Sonnenschein am ersten Weihnachtsfeiertag in die festlich geschmückten Kirchen von St. Marien, Heil. Leichnam, St. Annen oder wie die anderen Kirchen immer hießen, oder auch die Christnacht in der St. Nikolaikirche! Um Mitternacht riefen die Glocken. Zuerst traf man nur wenige Menschen auf dem Wege. In der Schmiedestraße, der Fischerstraße, der Brückstraße wurde es dann ein Menschenstrom, der füllte die Kirche bis zum letzten Platz. Ein riesiger Christbaum schmückte ihr Schiff, die Kerzen strahlten, die Orgel tönte, und jubelnd erklangen die Weihnachtslieder.

 

Von den Abenden im Stadttheater, von den Literarischen Morgenstunden Rudolf Warnckes in der Stadtbücherei, von den musikalischen Erlebnissen der Abonnementskonzerte, den fröhlichen Faschingsfesten der Lehrerhochschule, von all diesen Freuden des Winters habe ich noch gar nichts erzählt.

 

Doch, während ich so schwärme und träume, wird es draußen dunkel. Ein früher Abend bricht an, wie es in dieser Jahreszeit nicht anders ist. Seit jeher liebe ich die Dämmerstunden, wenn der Tag langsam schlafen geht. Es sind die rechten Stunden der Besinnung, in denen man Atem holen kann. In der Ofenröhre schmoren die Bratäpfel wie daheim. Bald wird die Tochter kommen und will „Dämmerstunde halten", will Märchen und Sagen hören und wie es war, als Vater und Mutter noch Kinder waren. Bernhard Heister

 

Seite 10   Das Weihnachtswunder. Holzschnitt von Professor Johannes Wohlfahrt

 

Seite 10   Der alte Hirte. Von Karl-Heinz Jarsen.

Seine Augen zur unbeschirmten Glühbirne emporgerichtet, die vom Dachgebälk der Lazarettbaracke baumelte, fragte er mich: „Weißt du wie jenen Hirten zumute war, die nachts ihre Herden hüteten und plötzlich ein Leuchten sahen, das jählings den nachtschwarzen Himmel erhellte?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Sie erschraken. Auch du würdest erschrecken, wenn du zum ersten Mal einen Kometen erblicktest. Mit flimmerndem Schweif saust er durchs nächtliche Weltall. Dies aber war kein Komet, sondern ein mächtiger Blitz, der am Himmel stehenblieb, grell und gleißend, und die Hirten blendete. Sie fürchteten sich, senkten die bärtigen Gesichter, und manche wölbten ihren Arm um Stirn und Augen. Jetzt noch, hinter geschlossenen und furchtsam gepressten Lidern, gewahrten sie jenes gewaltige Leuchten, das sie verwirrte. Und dann dröhnte es in ihren Ohren — so dröhnen Posaunen — die Membrane bebte und sie horchten. Und eine kristallene Stimme rief: „Fürchtet euch nicht; siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird“ -. Sie wagten aufzuschauen und erkannten den Engel des Herrn in seiner Klarheit. Und staunten. Und der strahlende Cherub sprach weiter, und sie lauschten gebannt und verwundert: „ — denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“. Wie verzaubert standen die Hirten, starrten mit staunend geweiteten Augen empor, bemerkten, dass andere Engel erschienen und vernahmen die himmlische Botschaft: „Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind“. Das wundersame Sternbild und die Seraphen verschwanden vor ihren Blicken. Still wurde es. Die Nacht war kühl. Sie aber froren nicht. „Lasst uns nach Bethlehem eilen!" sagte ein Hirte. Und alle folgten ihm.

 

Sie fanden den Stall auf einem Hügel am Rande der Stadt. Sie stolperten über die Schwelle und staunten abermals; denn der Stall in seiner Armseligkeit war hellerleuchtet. Vom winzigen Öllämpchen, dessen Flamme zaghaft züngelte, konnte der silberne Glanz nicht kommen. Scheu und bedächtig traten sie näher. Sahen das Kind, wie es der Engel verkündet, in Windeln gewickelt, in einer Krippe auf gelbem Stroh liegend. Und die Augen des Kindes sahen sie an und leuchteten milde. So schaut kein Neugeborenes. In jenen Augen lebte ein Licht, das die Welt erlösen sollte. Und manche unter den Hirten weinten jetzt, weil das Kind durch sie hindurch sah. Sie bereuten, dass sie gelogen und gestohlen hatten, wollten sich bessern. Die junge blasse Frau neben der Krippe blieb nicht unbeachtet. Sie lächelte, und ihr Lächeln ging jedem zu Herzen. Der Mann bereitete ein Lager im Stroh. „Ihr seid die ersten, die das Kind grüßen", sagte er. Ochs und Esel standen stumm an ihrer Futterkrippen. Wieder und wieder betrachteten die Hirten jenen Knaben, der aller Welt Kind war und die Finsternis besiegen sollte, Jesus von Nazareth, unseren Heiland und Erlöser“.

 

Mein Kamerad und Pritschennachbar schwieg. Wendete nicht seinen kahlgeschorenen Schädel, sondern blickte unentwegt empor, dorthin, wo die staubumhüllte Glühbirne baumelte. Sein Gesicht war hager, runzelig, bartverfilzt (wir wurden nur zweimal im Monat rasiert). Die grobe, zerschlissene Wolldecke reichte ihm bis zum Kinn. Über der Brust war sie gespannt, dreieckig, wie ein Zelt. Mein Kamerad, Saklutschonniä (Sträfling) Carl Bergmann, hatte die Hände gefaltet. Er betete. Mich dünkte, als wäre er damals, vor nahezu zweitausend Jahren, dabei gewesen, einer unter jenen frommen biederen Hirten, die das Wunder der Weihenacht erleben durften, von dem er mir heute, am Heiligen Abend, in der Lazarettbaracke eines sowjetrussischen Sträflingslagers, berichtet hatte.

 

Seite 10   Ernst Wiechert. Der ewige Stern leuchtet.

Ich kam zurück, wie alle zurückkamen, denen die vier Jahre des Großen Krieges mehr gewesen waren als ein Rausch, ein Handwerk oder eine Verfluchung. Ich saß an einem zersprungenen Fenster meines Abteils und starrte in den Regen, auf die Kinder an dem Bahnübergang, die wie aus Kellern aufgestiegen schienen, auf Frauen, die aus Gräbern aufgestanden sein konnten, auf verwüstete Felder, auf frierende Nebeldörfer. Es ging langsam damals, zwei Tage und zwei Nächte. Ich muss ja doch etwas sagen, grübelte ich. Sie erwarten mich, das ganze Haus, und wenn man keinen Lorbeer um die Stirn hat, muss man doch etwas sagen... vom Vaterland, vom Tode, von der Ehre, und so weiter..., aber ich weiß nichts zu sagen ... es hat sich alles aufgelöst... ohne Füße sind wir alle zurückgekommen, und unsere Erde schwankt...

 

Ja, sie erwarteten mich alle. Es war ein großes Haus in einem alten Garten. Es waren viele Menschen, Eltern, Geschwister, Verwandte, Freunde. Ich wusste alles von ihnen: ihre Schicksale, ihr Lächeln, ihre Handschrift, ihre Neigungen. Und doch standen sie vor mir wie hinter einer Glaswand. Schon auf dem kurzen Gang durch das Dorf in der Dämmerung glaubte ich zu erkennen, was es war: ich hatte das „Bleibende" verloren, das Gefühl für das Unveränderliche. Da waren Häuser, fest, unbeweglich, Schnee auf sicherem Dach, Licht unter ewigen Balken. Aber ich wusste, was von Häusern zu halten war. Ich hatte sie stürzen sehen wie ein Kartenhaus, ganze Reihen, Dörfer, Städte. Da standen die Pappeln an der Straße und der Eichenwald dahinter. Was waren Bäume und Wälder? Lasst drei Batterien über sie hinfegen, eine Gaswolke, eine Trichtersprengung: vorbei! Dabei waren die Dahlienstauden im Garten, da war der Hügel für Pluto, den wir als Kinder begraben hatten. Ja... da waren die Toten wieder da, Kreuze, Hügel, Massengräber, zurückgeblieben in der fremden Eide, Regen und Wind über ihre Reihen... ich blieb stehen und sah mich um ... rief es nicht über den Garten?

 

„Ja", sagte mein Vater, „es hat sich nichts verändert ... wenn man aus dem Fenster sieht, denkt man, es sei vor vier Jahren..." So, dachte ich mühsam, denkt man das wirklich ... wie schrecklich ist es, hier zu stehen und auf den fernen Ruf zu lauschen ... weiß denn niemand, dass dies nur eine Gespensterrede ist?

 

Und so war es auch drinnen. Die Halle, die Bilder, die Geweihe. Alle hinter einer Glaswand, ein unwirkliches Panorama. Die Mädchen kamen, die Kinder. „Ja danke", sagte ich leise, „ich bin gut zurückgekommen... ja, der Krieg ist zu Ende ..." Ich legte meine Hand auf einen alten Silberleuchter, auf den Kopf des Hundes: fremd... kühl..., anders geworden. Aber irgendwo musste es doch sein, dachte ich, das Unveränderliche, das, was früher war... diese tiefe Bürgschaft des Lebens ... dieser Alte und Neue Bund mit Menschen, Tieren, Erde, Gott ...

 

Nein, es war nicht da. Der Krieg musste es genommen haben, wie er die Glocken genommen hatte, die Eheringe, das Silber, das Blut. Ja, natürlich würde ich zur Großmutter gehen, ja, sofort. Ich ging durch die Zimmer und klopfte leise an. Sie saß in ihrem Lehnstuhl, den Stock in den gefalteten Händen, und lauschte mir entgegen. Sie war fast blind. Über ihren weißen Scheitel sah ich das Bild meines gefallenen Bruders an der Wand. Und ich sah die Truhen und Schränke, die ovalen Bilderrahmen, die geschweiften Füße der Sessel, den Goldschnitt der Bibel, die Goldlacktöpfe auf den Fensterbrettern.

 

Ich wollte etwas sagen, aber ich sagte nichts. Ich wollte nicht niederknien, aber ich kniete, die Stirn in der kühlen schwarzen Seide ihres Schoßes. „Na, mein Kind...", sagte sie leise, und strich mit ihrer Hand über mein Haar. Und nach einer Weile, ebenso gütig, leise, zuversichtlich: „Ja mein Kind ..." Sonst nichts.

 

Und dann kam die Adventszeit. Ich hatte mein Kinderzimmer, das Haus, den Garten, das Land. Ich ging umher und suchte. Unauffällig, leise allein. Ich suchte eine Brücke etwas, das zurückführte ins Ehemalige. Sie sprachen mit mir, von der' Zukunft, den Lebensmitteln, der Revolution. Sie gaben mir den besten Platz am Kamin. Sie waren rücksichtsvoll, zart, zurückhaltend. Aber sie sprachen ohne Scheu von den Toten, den Verstümmelten, den Vermissten. Sie standen am anderen Ufer.

 

Der erste Advent kam. Ich stand früh auf und ging leise durch das große Haus. Schnee fiel über den Garten, und das Feuer brannte im Kamin. Aber ich ging von Raum zu Raum und suchte. Ja, sie hatten ihn vergessen: nirgends hing die Adventskrone, nirgends hing der Stern. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und stand am Fenster, die Stirn an den Scheiben. Solange ich denken konnte, war dies nicht geschehen. Das ist also der Krieg, dachte ich. Nicht die Toten, sondern dieses, das so Kleine und Kindliche..., dass man das Ewige vergessen hat ... Dass Christus weggegangen ist von dieser Erde..., dass er nicht mehr bei den Menschen bleiben wollte..., ich will von euch gehen bis an der Welt Ende...

 

Ich wollte sie nicht sehen. Menschen und Haus. Niemanden. Nichts. Ich ging in den Schnee hinaus, in die Wälder, wo rechts und links die Erde sich verhängte. Ich fragte in einem Forsthaus nach dem Weg, ich aß in einem Gasthof, über den die Tannen sich beugten. Nirgends war Christus, Schnee, Wildspuren, Schlitten ohne Glocken, Dämmerung, Heimweg, dunkles Feld.

 

Ja, ich sei draußen gewesen, weit, mir sei nicht gut.

Noch einmal leise durch das ganze Haus ... nichts. In der Halle steht die Großmutter, den Stock vor sich in den Händen. „Suchst du etwas, mein Kind?"

„Ja, Großmutter... nein... ich war zu lange fort..."

 

Sie nimmt meinen Arm, ohne etwas zu sagen, und führt mich bis zu ihrer Tür. Sie ist nicht mehr blind, denn es ist jemand da, der blinder ist. Sie geht mehr gebückt, denn da ist ihr Enkelkind, Soldat, unverwundet, gesund, der gebeugter ist als sie. Sie weiß, was in diesem Hause geschieht, denn sie sitzt in ihrem Lehnstuhl und lauscht in das alte Haus hinein, und die Zeit läuft wie eine Perlenschnur durch ihre Hand.

 

Sie führt mich über ihre Schwelle und schließt die Tür hinter sich. Sie dreht den Schlüssel herum, laut, dass ich es höre. „Lange?" sagt sie. „Es war nicht lange“. Als hätte ich auf der Schwelle zu ihr gesprochen, über ihrem Tisch leuchtet der rote Stern, und unter der Hängelampe schwebt die Krone. Die Silberfäden schimmern im rötlichen Licht. Ich knie vor ihrem Stuhl wie als Kind, aber sie hat meinen Kopf an ihre Brust gelegt, dass ich es alles sehen kann: den Stern, das Tannengrün, die Schatten, das Schweigen, das versunkene Land. „Siehst du", sagte sie leise, „du darfst ihnen nicht zürnen... es ist so viel geschehen, und sie sind ja nicht wie du, wie Brunnen, in die alles fallen kann, ohne sie zu verschütten. Ich habe so viel Zeit, siehst du. Ein alter Mensch zündet nicht jeden Tag eine neue Lampe an. Er hält die Hand vor sein Licht, und alles, was er braucht, ist hell. Jeder Weg, jedes Gesicht, jeder Schmerz ... es kommt nun nichts mehr als der Tod, und er kommt von selbst, und man hat so viel Zeit für das Vergangene ..."

 

„Nichts ist geblieben, Großmutter", flüstere ich. „Nichts... auch die Kreuze werden fallen ... dann werden sie nur noch in Büchern lesen, dass es einmal war ..."

 

„Wie jung du bist" sagte sie zärtlich. „Siehst du, Gott hat über die Erde gewischt und ausgelöscht ... ein ganzes Geschlecht ... und er hat mich leben lassen, damit ich über das Ausgelöschte dir die Hand gebe, meinem Enkelkind. Nichts ist geblieben, sagst du ... sieh, wie er leuchtet, derselbe Stern, nicht neu gekauft, aus unserer Kinderzeit ... zu lange warst du fort, sagst du ... bist du nicht zur Zeit gekommen, dass ich ihn anzünde für dich? Nichts geblieben? Ach, mein Kind, da ist ein Kind geblieben, das einen Stern haben wollte, und eine alte Frau, die ihn anzünden konnte ... meinst du nicht, dass das genug ist?"

 

Sie beugt sich tiefer über mich. „Man darf nicht weggehen, mein Kind", sagte sie langsam, „solange man nicht weiß, ob nicht ein Kind unter den Menschenkindern nach einem Stern verlangt ...“

 

Und dann sehen wir zu, wie das Licht in dem roten Stern tiefer und tiefer brennt, bis es, gleichsam ohne Schmerzen, erlischt.

Aus Ernst Wiechert ,,Der ewige Stern", Kurt-Desch-Verlag, München.

 

Seite 10   Gerhard Kamin. Weiße Weihnacht in der Heimat.

Ich weiß nicht, für wen ich die Bilder beschwöre, und ob es lohnt, daran zu erinnern. Aber je näher die Weihnachtszeit rückt und je dunkler und länger die Abende werden, umso deutlicher werden die Gesichter der Toten und die rückfallenden Schatten längst versunkener Zeiten; und umso stärker wird die Mahnung, der hier und dort Verstreuten zu gedenken, die jene Zeit noch miterlebten und die in einer stillen Weihnachtsstunde diese Worte vielleicht als eine Art Versicherung dafür lesen, dass nichts verloren ist, in alle Ewigkeit nicht, was einmal in einem höheren und reineren Sinn Wirklichkeit und Ereignis war, als es spätere Zeiten je wieder ermöglichten.

 

Und wenn ich sie für den einen Menschen, schriebe, der damals dabei war und nach langen Jahren jetzt in den Raum der alten Verheißungen zurückgekehrt ist und mir Gutes geschrieben hat, so würden sie hinreichen und das ihre tun. Viel mehr darf man heute nicht erwarten, wo die Verheißungen überschattet scheinen von der Ratlosigkeit unserer Zeit, auch wenn sie die alten geblieben, die „keine Zeit und Macht zerstückelt", wie der Dichter sagt.

 

Am Nachmittag waren wir mit Schlitten von Cranz aus (Kurische Nehrung) über die beschneiten Dünenketten unterwegs. Es war der Sonnabend vor dem letzten Advent, harter Frost lag über dem Land, und die Tage vorher hatte es viel geschneit. Wenn wir gegen die herabhängenden, vom Wind gebeugten Wipfel der Krüppelkiefern stießen, stob eine weiße Wolke auf uns herab und bedeckte unsere Schultern und Wollmützen. Vom Meer her, das wir für Augenblicke zwischen den Dünenausschnitten sahen, kam ein eisiger Wind herüber und trieb die langen Schaumketten der Brandung gegen den vereisten Strand. Stumm stapften wir die elf Kilometer durch den hohen Schnee, und es war Abend geworden, als wir die Jugendherberge Sarkau erreichten, die gleiche, in der wir zwei Jahre vorher vierzehn Tage lang bei Ernst Wiechert und dem unvergesslichen Königsberger Kunsterzieher Dr. Handschuck Unterricht gehabt hatten.

 

Als Vortrupp bereiteten wir den Julklappabend vor. Der Punsch wurde gebraut, die Tanne im Herbergsraum hergerichtet, die Tische gedeckt, die Gläser verteilt. Spät am Abend kamen die anderen, unter ihnen Ernst Wiechert, und lächelnd, die neugierigen Blicke auf das Verhüllte der Pakete gerichtet, sahen die vermummten Gesichter umher und begrüßten uns verwundert. Knallend prasselte das Feuer im Ofen und warf seine Wärme in den Raum, in wenigen Augenblicken saßen wir um die Tische und begannen von früher zu sprechen, als wir hier nach dem Unterricht oder den Wanderungen beim Essen gesessen hatten.

 

Vieles davon ist vergessen und in der Erinnerung völlig ausgelöscht. Nicht aber jene Augenblicke, als wir die Pakete öffnen und Ernst Wiechert danach leise zu sprechen beginnt, das kleine, in Leder gebundene Buch aufschlägt und die „Legende vom letzten Wald" uns vorliest, jene schmerzliche Vision von der Vertreibung der stummen Kreatur, wie sie dort, auf dem schmalen Landstreifen der Nehrung, der unberührten Heimat des Elchs, im letzten Krieg furchtbare Wirklichkeit wurde.

 

Leise gehen die Worte durch den Raum, eins nach dem andern, und heute, wo ich sie noch einmal lese, weiß ich, in welcher bitteren Vorahnung Ernst Wiechert sie damals gelesen haben mochte: — „Aus der letzten Dickung finsterem Tor zog es heran, durch steigenden Nebel auf blutigem Grund, ein langer, wechselnder Zug, in aller Bewegtheit feierlich still: das Tier des Waldes, das aus der letzten Heimat ging. Und lag ein seltsam ergreifender Schein über diesem großen, schweigenden Wandern, mit dem die stumme Kreatur für immer von dem Menschen schied. Das waren tausend Glieder, die beieinander sich regten, und tausend Schwingen, die beieinander schwangen, und gingen die Füchse hinter den Rehen und die Haselmäuse hinter dem dunklen Maulwurf. Aber kein lächerliches Wesen war in diesem stillen Vorwärtsgleiten, kein menschliches Schaudern vor dieser weichen Masse der Tierheit, nur ein weher, schwerer Ernst vor großer Erscheinung, und beklemmende Erkenntnis seltsamer Scheidestunde . . ."

 

Langsam nur finden wir nach den Worten zu der Fröhlichkeit zurück, die uns alle Jahre hindurch verbunden hatte. Die Punschgläser werden gefüllt, das Gebäck wird herumgereicht. Danach aber, in der schon vorgerückten Nacht, gehen wir ins Dunkle hinaus. Es hat zu schneien begonnen, mühsam nur finden wir den Weg durch den knietiefen Schnee zu „unserer Tanne". Sie steht, am Rand der Wiese im Nehrungswald, wir stecken in die schneeverkrusteten Zweige ein paar Lichter und zünden sie an. Es ist eiskalt, aber der Meerwind kommt nicht durch das Kieferngestrüpp bis zu uns herüber, und so brennen die Kerzen in ruhigem Schein auf dem glitzernden Schnee. Wir haben unsere Geigen ausgepackt, und leise, in scheu aufklingenden Melodien, beginnen wir draußen in der Winternacht unserer Heimat die alten Weihnachtslieder zu spielen.

 

Ich höre heute noch das Brechen der Zweige unter unseren Füßen, als wir wortlos, einer hinter dem andern, danach zur Herberge zurückgehen. Auf Matratzen liegen wir dann in Mäntel gehüllt nebeneinander und hören zu, wie das Feuer im Ofen brennt. Das Erlebnis klingt in unserer Seele nach, und von fernher, als eine ewige Melodie, kommt das Rauschen der Brandung herüber und singt uns in den Schlaf.

 

Viele Weihnachtsfeste sind jenem gefolgt, unvergessliche in den Wäldern Russlands und in der Fremde anderer Länder. Immer aber, zu jeder Weihnachtszeit, ist mir, als ob damals in jener feierlichen Stunde ein Unvergängliches und Großes uns geschenkt wurde: das unzerstörbare Bild unserer heute verlorenen Heimat, unserer Jugend, unseres Glaubens

 

Seite 10   Vorweihnachtliche Meditation. Von Ernst Kudnig.

Die Weihnachtsbäume stehn schon in der Stadt,

in der die ruhelosen Menschen eilen.

Mein Herz, lass uns ein wenig heut' verweilen.

Was ist ein Leben, das nie Frieden hat?!

 

Schau, alles liegt in Wintergrau gehüllt.

Die Bäume frieren sehr im nahen Walde.

Die Tiere hocken darbend auf der Halde.

Auch mancher Mensch kaum seinen Hunger stillt.

 

Ach — wollten alle, die noch sorglos gehn,

der Vielen denken, die an jedem Morgen

bedrängt von ihren dunklen Wintersorgen. —

Wie anders würde unsre Welt aussehn!

 

Seite 11   Es begab sich zu der Zeit. Von Rudolf Naujok.

Der Mann trat mit schweren Schritten in die kleine Bauernstube. Man sagte nur selten „Herr" zu ihm, er war einfach der Ostflüchtling, namenlos und berufslos wie Millionen seinesgleichen. Das Persönliche war von ihm abgefallen wie ein fadenscheiniger Mantel, der sich im Regen aufgelöst hatte, und das Außerordentliche des Schicksals war über Stand und Beruf hinaus zum einzigen Kennzeichen geworden. Es fiel ihm kaum noch auf, wenn er hörte: „Hier wohnt unser Flüchtling“.

 

Doch heute schien er empfindlicher, und es war etwas in ihm aufgerissen, was er bislang tapfer unterdrückt hatte: der Wunsch, das zu sein, was er eigentlich war, der Prokurist Peter Heugner, ein Mann, der in einer großen Bank viel Einfluss gehabt hatte, der zu den guten alten Familien der Stadt gehörte, und dessen Vorfahren seit etwa vierhundert Jahren dort gewohnt hatten. Es war das erste Weihnachten nach der Vertreibung aus der Heimat.

 

Er trat also in die Bauernstube, strich seine schlottrige Kleidung zurecht und wärmte sich die Hände an dem kleinen Ofen. Die Stallarbeit war beendet, die Kühe hatten ihre Rüben bekommen, die Pferde ihren Häcksel, die Schweine ihre dampfende Tränke, es war ein friedliches Stallbild gewesen, wie es sich in der dämmerigen Weihnachtszeit von selbst ergibt.

 

Die Bäuerin forderte ihn auf, in das gute Zimmer zu treten. Hier schlug ihm eine freundliche Wärme entgegen, und der Bauer, heute feierlich in einer grünen Joppe, war dabei, den Christbaum anzustecken. Die beiden Kinder standen am Fenster und sahen ihrem Vater gespannt zu. Viel war es nicht, was auf den bunten Tellern lag, aber zu ein paar Nüssen und einem Stück Kuchen und zu einigen Äpfeln reicht es in einem Bauernhaus immer. Außerdem war geschlachtet worden, und der Tabak wuchs im eigenen Garten und hing jetzt sorgsam zum Trocknen am Dachbalken. Damit hätte wohl auch der Flüchtling zu einer kleinen Feststimmung kommen können, wenn – ja, wenn da drinnen nicht das unruhige Herz gewesen wäre, das um Frau und Kind bangte, und heute schmerzlicher denn je.

 

Man sang „Stille Nacht“ in alter Weise. Die Familie war nicht sehr musikalisch. Eigentlich hatte man es nur der jungen und kräftigen Stimme der Magd zu danken, dass das Lied nicht vorzeitig abbrach.

 

Dann trat die dreizehnjährige Bauerntochter an den Baum und sagte mit schöner klarer Stimme die Weihnachtsgeschichte auf: „Es begab sich zu der Zeit ... und jedermann ging in seine Vaterstadt“.

 

Als der Ostflüchtling hier im fremden niedersächsischen Bauernhaus das Wort „Vaterstadt" hörte, stieg es ihm heiß in die Augen. Er vernahm die Stimme des Kindes nur noch fern und ferner. Er trat gleichsam aus sich heraus, ein zweites Ich, und befand sich plötzlich auf dem Wege nach Hause.

 

Er hatte keine zerrissenen Kleider mehr an, sondern seinen alten Pelz, und in den Händen trug er lauter Pakete, und er schritt voller Freude durch den reinen Schnee seiner östlichen Heimat. Da war die Straße, da war der Garten, er kratzte sich die Schuhe ab, er öffnete die Flurtür, er klingelte an seiner Wohnung, an der auf einem Messingschild „Peter Heugner" stand, ein Jubeln, ein Schreien, und seine Kinder hingen ihm am Halse.

 

Lauter Erinnerungen. Wie war es doch damals? Er muss der Reihe nach alles durchgehen, auch das Kleinste und Nebensächlichste, denn es gehört zum Weihnachtfest daheim. Der Lichtschein des Schnees verbreitet in den Stuben einen reinen Glanz, ein Sammeln und Erwarten liegt selbst über den toten Dingen. Die Uhr auf dem Bücherschrank mit ihrem bestimmten, unvergesslichen Klang schlägt halb drei.

 

Der Weihnachtsbaum in der Ecke des Herrenzimmers wirkt wie ein lang erwarteter Besuch. Man spürt seinen Tannenduft und fühlt, wie sich die Herzen langsam ins Festliche wandeln, auch bei den Kindern, die sich im Nebenzimmer flüsternd unterhalten und viel artiger sind als sonst.

 

Dabei erscholl hier noch am Vormittag ein Hämmern und Sägen, ein Teppichrollen und Möbelschieben, dass es eher nach einem Umzug als nach Weihnachten aussah. Die Kinder wollten beim Schmücken des Baumes durchaus dabei sein, und der Vater erlaubte es ihnen, weil es ihnen so viel Freude machte. Mit Staunen sahen sie die Helmspitze, die goldenen Kugeln, die Engel und Glöckchen aus der Verpackung des Vorjahres auftauchen.

 

Und wie verständig sie den Vater herumkommandierten! Er musste, weil er der größte war, den obersten Teil des Baumes übernehmen. Und wenn er gar auf einen Stuhl stieg, so thronte er wirklich wie Gottvater selber in den Wolken, wenigstens vom Standpunkt seines kleinen Jungen, der ebenso erstaunt wie zu letzter Bewunderung bereit zu ihm emporblickte.

 

In der nächsten Region waltete mit vielem Geschmack seine zwölfjährige Tochter, indem sie manches selbst Geschnitzte und Gemalte an den Baum hängte. Dann kam sein zehnjähriger Junge, der reichte schon ganz ordentlich hoch, wenn er sich auf die Fußspitzen stellte. Und unten hängte der Kleinste mit Gekreisch und Gejubel alles an, was glänzte, und seinen prallen Fäustchen erreichbar wurde. So entstand unter der liebevollen Hingabe aller so etwas wie ein Familienweihnachtsbaum.

 

Zum Schluss wurde die Mutti aus der Küche gezerrt und musste staunen, obwohl ihre Gedanken ganz woanders waren. Wenn bloß die Gans nicht anbrennt und der Kuchen zu viel Hitze bekommt! Doch schließlich betrachtete sie das gemeinsame Werk sehr prüfend. Die Spitze war natürlich wieder etwas schief, wie fast in jedem Jahr, und Peter musste wieder auf den Stuhl klettern und in den Wolken verschwinden. Hier und da, wo der Baum leer war, wollte Mutti noch einen künstlichen Ast eingesetzt haben, aber Papa behauptete, der liebe Gott habe schon alles richtig gemacht und es brauche nicht alles in Reih und Glied zu stehen. Er wendete den Baum so lange, bis dem Beschauer nur die repräsentative Seite entgegenstrahle.

 

So war es am Vormittag gewesen, und nun stieg die Dämmerung, und der alte Briefträger brachte die Post. Peter wünschte ihm an der Tür ein frohes Fest und drückte ihm ein Päckchen in die Hand. Und dann sah er vom Fenster, wie der Alte durch den Schnee davonstampfte und hörte an dem bekannten quietschenden Geräusch, dass die Gartentür zuschlug.

 

Er legte die Post ungeöffnet auf den Schreibtisch, um sie nach der Feier gemeinsam vorzulesen. Alle Freunde und Verwandten waren plötzlich mit diesen Briefen in das Zimmer getreten und fragten: „Nun, wie steht es bei Euch? Wir müssen gleich wieder fort. Wir haben unser eigenes Heim, unsere eigenen Kinder. Wir wollen nur zum Fest ein bisschen zu Euch hineingucken . . . und alles Gute ... auch im neuen Jahr... und allezeit!" So sprachen die Briefe.

 

Dann knarrte der Gartentür zum anderen Mal, es war die Zeitungsfrau. Was sie hereinreichte, war aber heute keine Zeitung, es war fast ein Buch, so dick und schwer und so voller schöner Geschichten und Neuigkeiten, und oben zwischen den Buchstaben des Titels läuteten lauter Glöckchen. Ja, diese Zeitung gehörte zu jedem Weihnachtsfest seit Ur-Großmutters Zeiten. Er legte sie behutsam auf den Schreibtisch, um die Stunde nach der Bescherung mit ihr zu verbringen.

 

Nur seine Frau, gerade beim Umkleiden, huschte noch rasch herein, um schnell einmal auf der letzten Seite zu sehen, wer sich verlobt hatte. Ach, ging es dann, der und die... die und der... hättest Du das gedacht? Nein, ich hätte es nicht gedacht. Bei Verlobungen muss man auf alles gefasst sein, und es war nicht die geringste Weihnachtsüberraschung, diese letzte Anzeigenseite der guten alten Heimatzeitung.

 

Inzwischen rückte die Zeit weiter, und es kam, einem alten Brauch gemäß, die Stunde des Besuches bei Freunden und Verwandten, besonders bei solchen, die vom Leben vergessen worden waren, und denen ein Zeichen der Liebe zu geben nicht nur eine Freude für Peter war, sondern auch ein Erziehungsprinzip für die Kinder.

 

Sie wanderten still durch den weißen Schnee, er roch frisch und backte an den Fußsohlen. Sie sahen den grauen Winterhimmel über der Stadt und die roten Dächer und Schornsteine hinter einem mattbläulichen Vorhang verschwimmen. Dunkel rauschten die alten Bäume am Friedhof, und die Grabsteine, auf denen auch oft ihr Name stand, schimmerten aus dem Geflecht entlaubter Äste. Sie fühlten sich den Toten näher als sonst, und es war, als hätten die längst Verblichene, Teil an dem hohen Geschehen.

 

Dann ging es den Treppengang empor zu der alten Tante, die hier mit zwei Angorakatzen in einem Milieu hauste, wie es Ludwig Richter gern gezeichnet hätte. Sie saß mit ihrem faltigen Großmuttergesicht am Ofen, allein in der Dämmerung. Die Katzen schnurrten um sie herum und begleiteten sie so, wie die Raben den Göttervater Wotan begleitet haben mochten, wenn er zur Wintersonnenwende ritt. Die Kinder bestaunten sie wie etwas Sagenhaftes. Man plauderte ein wenig, meistens von alten Zeiten, und dann drückte sie den Kindern zum Abschied ein paar Pfeffernüsse in die Hand, die in ihrer Ofenröhre halbwegs verbrannt waren. Aber das sah und roch sie nicht mehr.

Immer versprach sie den Kindern, bald einen Gegenbesuch zu machen, und dabei lächelte sie, und Peter wusste schon, er kam nie, dieser Gegenbesuch, höchstens später im Himmel.

 

Sie wanderten zurück durch die Straßen und sahen den großen Lichterbaum, den die Stadt aufgestellt hatte, funkeln und gleißen. Sie hörten plötzlich die Glocken der Kirchen und kamen am Hafen vorbei, wo die Schiffe stumm und dunkel auf dem Wasser ruhten, feierlich in sich gekehrt, und hinter ihnen schimmerte ein heller Wolkensaum über dem Meer wir eine ferne Verheißung.

 

Sie kehrten heim, und dann war die große Stunde da. Peter zündete die Lichter am Baum an und machte die Tür auf, und die Kinder kamen herein, ein wenig zögernd und betreten, der Reihe nach, so wie sie auf die Welt gekommen waren. Und die Kinderstimme sprach: „Es begab sich zu der Zeit ... und jedermann ging in seine Vaterstadt..."

 

„Wachen Sie auf, Sie sind ja ganz geistesabwesend!" sagte der Bauer freundlich und reichte dem Flüchtling eine Zigarre. Peter strich sich über die Stirn und merkte, dass die Feier zu Ende war und die Lichter halbwegs niedergebrannt waren. Sie aßen zum Abendbrot, besser als die Leute in den Städten, die nun hungerten, und dann tranken sie einen Grog und erzählten sich, und es wurde spät. Gerade als Peter sich in seine Dachkammer zurückziehen wollte, klopfte es an das Fenster.

 

Der Bauer stand schwerfällig auf und ließ den Besuch ein. Der Mann sagte: „Ich komme vom Roten Kreuz aus Harburg ... ich wollte den Abend nicht vorübergehen lassen ... wohnt hier ein Herr Heugner?"

 

„Ja, das ist unser Flüchtling ... dort sitzt er", sagte die Bäuerin.

 

„Guten Abend, Herr Heugner ... wir haben gestern eine Meldung bekommen ... aus einem Lager in Dänemark ... sagen Sie mal, wie heißt denn eigentlich Ihre Frau?"

„Hannelore ... Hannelore Heugner", sagte Peter, langsam aufstehend und starrte den Mann mit großen Augen an.

„Wann ist sie geboren und wo?"

„Am 14. Juli 1909 in Memel“.

„Dann ist sie es ... ich gratuliere Ihnen, Herr Heugner, Sie haben Ihre Frau gefunden ... sie ist mit drei Kindern in einem Lager in Dänemark“.

 

Der Mann ging auf den Flüchtling zu und wollte ihm die Hand reichen, aber der hielt sich mit schneeweißem Gesicht krampfhaft am Tisch fest, und plötzlich sank er mit ächzendem Laut auf den Stuhl. Der Bauer sprang hinzu, klopfte ihm auf die Schulter und hielt ihm ein Glas Grog an die blutleeren Lippen. Langsam erholte er sich von seinem Schwächeanfall, und dann stand er auf und reichte dem Mann die Hand, ohne etwas sagen zu können, und in seinem Gesicht zuckte es nur, und er wandte sich ab und ging hinaus. „Lassen wir ihn", sagte die Bäuerin, „es war zu viel auf einmal ... er muss erst damit fertig werden“.

 

Seite 11   Wintertag. Von Josef Schneider.

Ist alles tief verschneit,

Das Dort, das Feld, der Wald.

O weiße, weiße Zeit!

O Wunder mannigfalt!

 

Der Himmel eng und grau,

Das Land des Schweigens voll.

Sei still und horch und schau:

Ein stummer Traum in Moll.

 

Der tiefe Schlaf der Welt

Hat alles eingehüllt,

Und Flocke um Flocke fällt.

Das Jahr hat sich erfüllt.

 

Das Dorf, das Feld, der Wald —

Ist alles tief verschneit.

O Wunder mannigfalt

Der weißen, weißen Zeit!

 

Seite 11   Winter in Ostpreußen.

Wer von den Bergen kam, musste in dieser weiten Einsamkeit erst einmal versinken. In größeren Dimensionen atmete dieses Land. Namen und Flüsse, Seen und Bäume; anders als daheim vergingen die Tage im Dezember. Wenn wir Soldaten am Abend vom Truppenübungsplatz in das kleine, verwunschene Städtchen gingen, übermütig und lachend, knirschte ein fester Schnee unter dem Stiefel, und die großen und kleinen Bäume trugen weiße Kappen und dicke Handschuhe. Der Wald nahm kein Ende, wie oft verliefen wir uns. Der See hatte sich eingefroren, nun konnten Fische und alles Getier ruhig schlafen. Es würde sie keiner stören. Die Birkengruppe am leichten Hang glitzerte im kristallenen Raureif.

 

Quer durch den Wald streifte ich, an Fuchsspuren vorbei, klatschend fiel der Schnee auf den Boden, die Ruten schnitten scharf ins Gesicht. Ich wollte Ostpreußen finden, jenen unverwechselbaren Ton und Klang, dieses untrügliche! Gesicht, kopftuchbewehrt und rundlich lächelnd, diese stille Insel deutschen Landes am östlichen Grenzzaun. Ostpreußen wollte ich finden auf den verschneiten Pfaden, Glöckchen-klingenden Straßenzeilen, irrenden Flussläufen ins Masurische hinein. Das verlor sich in einer Undurchdringlichkeit, die den Atem nahm. Das löste sich auf in eine Weite, deren Horizont so entfernt war vom Scheitelhaupt wie das Nordlicht vom Kreuz des Südens. Das verströmte am Waldboden, der Quadratkilometer des Landes anfüllte mit Knieholz, Wacholder, Farn und struppigem Gras.

 

Winter in Ostpreußen — eine kleine Gastwirtschaft war es, mit einem schlauchartigen, engen Saal, in der die Kompanie Weihnachten feierte mit Lichterbaum, rauen Männerkehlen, heimatlichen Gefühlen und Zuckergebäck. Im Jahre 1944 brachen die Friedensworte ab wie gehacktes Holz. Nicht mehr allzu weit, sich verlierend in ukrainischen Feldern und weißrussischen Kirchen, musste die Front sein: Feuerschein am Himmel und unaufhörliches Todesgeräusch. Durch den Garten lief ich, über eine Brücke, eine weite Wiese nahm mich auf. Die Sterne sahen unverständig auf den irrenden Schatten. Dunkel stand der Wald. Noch waren die Fährten vertäut. Aber ein drohender Wind rüttelte barsch an den Ketten. Wie eine silberne Kugel sah ich den See, und die Stille brach in mich ein. Jochen Hoffbauer

 

Seite 11   Die Heilige Nacht. Will-Erich Peuckert.

Es ist von zwölf bis ein Uhr in der Heiligen Nacht gewesen, in der Maria ihren Sohn zur Welt gebar. Da schienen die Sterne heller, und die Bäche hörten auf zu fließen, die Tiere im Felde und die in den Wäldern taten sich zusammen, die Schafe standen bei den Löwen, und die Wölfe schwiegen. Hinter dem Stall stand ein verknorrter und verdorrter Apfelbaum, der trieb um Mitternacht und brachte hunderte und aber hundert Blüten und seine Blüten reiften, und es wurden junge Äpfel daraus (wie des zum Angedenken jede Christnacht noch der Apfelbaum von Tribur und wie bei Glastonbury in der Nacht ein Weißdorn blüht, und der zu Tribur jeden Weihnachtsmorgen seine Weihnachtsäpfel trägt).

Die Wasser in den Brunnen aber wurden in der heiligen Stunde Wein. Und sind noch heute in der Christnacht einen Augenblick lang Wein. Im Stall die Tiere fingen miteinander an zu reden, und Ochs und Esel wussten, dass ein Gotteskind geboren sei.

 

Die junge Frau Maria aber lag im Stall. Da machte sich Josef auf und bettete ihr ein Lager; er nahm ein Bündel trockenen Heues von dem Kraut, das an den Rainen und Feldrändern wächst; es macht sehr lange Ranken, welche über die Erde kriechen, und hat eine gelbe Traube. Das ist seit jener Nacht Marien- oder Unserer Frauen Bettstroh genannt.

 

Es steckte im Bettstroh aber auch das Kraut, das zu Johanni an den Rainen wächst und Blätter mit kleinen Punkten und die gelben Blüten hat. Drückt aber ein Mann auf seine Knospe, so quillen Tropfen Blutes heraus; das sind die Tropfen, welche die Jungfrau in der Nacht vergossen hat, da sie den Sohn gebar.

 

Josef hat aber ein Süpplein kochen wollen. Und brachte nichts zustande als nur ein grobes Rindfleisch, in den Rüben gekocht. Das legte er ihr vor. Das Kindlein hat er in keine Wiegen, wohl aber in eine Krippen legen müssen. Und hat es mit Heu und Stroh bedeckt. Und dann, dass ihm der Frost nicht schade, in alte Hosen eingewickelt und gebunden. Die Krippe ist aber von Tannenholz gewesen; drum blühen die Tannen auch im Winter, mitten in der Heiligen Nacht. Das Stroh, das in der Krippe lag, war Erbsenstroh, und das ist bei den Völkern in den östlichen Provinzen heute noch ein Brauch, dass man am Ersten Weihnachtstage weiße Erbsen isst zu einem An- und Nachgedenken jener Nacht.

 

Josef hat aber dem Kinde einen dicken schwäbischen Haberbrei gekocht und in das Mäulchen gestrichen. Und mit dem hat er das Kindlein auferzogen in sein Alter; davon ist es gewachsen und ein starker Mann geworden.

 

Diesen Abschnitt vom Wunder der Heiligen Nacht entnahmen wir dem soeben erschienenen Legendenbuch DER KRIST, in dem Will-Erich Peuckert das Leben Jesu volkstümlichen Überlieferungen aus dem deutschen Mittelalter nacherzählt. Das Heilsgeschehen wird in einer rührend-naiven Art mitten das eigene Leben versetzt. Welch köstliche Farbe gewinnt die Weihnachtsgeschichte, wie unmittelbar wirkt die kräftig-bildhafte Erzählung vom Heiland, der als Wanderbursche durch die deutschen Lande zieht. Holzschnitte aus dem 14. und 15. Jahrhundert ergänzen das Werk. Ein ganz und gar deutsches Buch, das von der tiefen, mystischen Frömmigkeit unser Ahnen Zeugnis ablegt. Ein Weihnachtsbuch, das nichts seinesgleichen auf dem heutigen Büchermarkt hat. Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf. 184 S. Ln. 13,80 DM.)

 

Seite 12   Lena Merker. Geburt im Stalle.

Nun ist es wieder Mittwinterzeit — die wievielte schon, die wir hier oben im Bayrischen Waldgebirge verleben? Es hatte uns etwas gebangt vor den ersten Weihnachten in der Fremde, damals, als wir von unserem Flüchtlingsschicksal hierher verschlagen wurden. Denn das Fest wird uns Deutschen ja leicht ein Anlass zu gefühlbeladener Rückschau, gar in solcher Lage.

 

Und dann kam doch alles ganz anders, — so, dass es vielen Verrat an der Heimat erscheinen wird: ich habe nicht eine Stunde Heimweh gehabt, nicht damals unter der ungeschmückten, lichtlosen Tanne noch irgendwann seither. Was mich in jungen Jahren, oft mitten in Lachen und Fröhlichkeit, anspringen und schwermütig machen konnte: das dumpfe, marternde Verlangen, auszubrechen aus all dieser sorgsam umhegten Bürgerlichkeit, hinein in weite Weltverlorenheit, — das hat jetzt auf eine unerwartete Art Stillung gefunden. Jetzt ist wider meinen Willen Wirklichkeit geworden, was damals Versuchung war, und ich erfahre mit Staunen und Beglückung Daheimsein in Heimatlosigkeit. Geborgensein im Unendlichen, Unverlierbaren. Etwas Schwereloses, ein Schweben, Getragenwerden und Einschmiegen, eine stille Froheit über allem Grauen. Ach, das sind schon zu viele Worte. Im Grunde ist es nur eins: Vertrauen; Vertrauen in das Dunkle, Namenlose. —

 

Schneesturm faucht um das Haus, diese altersmürbe Austräglerkate, die uns Brot und Herd, Tisch und Bett geboten hat. Er schüttet Wolken feinster weißer Kristalle gegen die Fenster, heult in Schuppen und Kamin, wuchtet gegen Türen und Zaun. Wenn es so weitertobt, werden uns in diesem Einödflecken morgen früh mannshohe Schneewehen von der Außenwelt trennen. Gebe Gott, dass dann nicht Mensch oder Tier nach dem Arzt verlangt!

 

Aus der Schlafkammer nebenan sind die ruhigen Atemzüge meines Mannes hörbar. Er hat sich mit einem seiner geliebten Bücher vorzeitig von der „Kramuri" zurückgezogen, die meine heutige Backerei hier heraufbeschwor. Und hinter mir, in der abklingenden Wärme des Ofenrohres, wo noch vor kurzem Brezeln und Lebkuchen bräunten, schnurrt unser Fipse, der treue rote Kater, der uns auf allen Wegen wie ein Hund begleitet und vor fremden Dörfern stundenlang in Gebüsch oder Feldern auf unsere Rückkehr wartet. Heut lockt es ihn nicht hinaus wie gestern, wo er unter nachtblauem Vollmondhimmel auf der schneeglitzernden Gred des alten Bauernhofes drüben dem trifärbigen Jungferlein Barbara nachstieg, der so früh mutterlos Gewordenen, die ich von ihrer dritten Lebenswoche an aufzog und die in der ganzen Nachbarschaft als ein wahres Mirakel geachtet wird, weil sie auf ihren klangvollen Namen hört und mir aufs Wort folgt. Auch die kokette, spielsüchtige Barbl wird sich in dieser Nacht ins Heu verkuschelt haben.

 

Doch jemand wacht drüben in der dunklen Bauernstube: die Großmutter. Seit mehr als einer Woche schon lösen sie einander ab im Aufbleiben, sie, der Altknecht und die beiden Dirndln, denn die Kuh, die große braune, soll kalben, und es heißt, zum Helfen bereit sein. Ich sehe die Weißhaarige am verglimmenden Herdfeuer unter der Stalllaterne sitzen. Nur mühsam hält sie die Augen in dem hageren, gütig strengen Altfrauengesicht offen, der Kopf sinkt ihr immer wieder vornüber, sooft sie ihn auch schon, aus schlaftrunkenem Dösen sich erfangend, hochgerissen hat.

 

Der Tag war schwer gewesen wie jeder andere in ihrem Leben, ein unablässiges Schaffen und Sorgen und Plagen um das tägliche Brot. Alles hat sie erfahren, was ein Mensch erfahren kann an Freude und Leid. Den Mann, den alten Bauern, hat ein jähzorniger Feind im Trunk erstochen; nach einer Winternacht ähnlich der heutigen fand man ihn im Schnee kauernd, erstarrt, den Hirschfänger in der blutüberkrusteten Brust. Allein geblieben mit zwei unmündigen Mädeln, werkte sie Jahr um Jahr von früh bis spät, bis der Hof schuldenfrei war. Ein junger Bauer kam als Tochtermann ins Haus — er blieb in Russland; vermisst. Sie sah großes Völkermorden, großes Viehsterben, Hagel, Dürre und Feuersnot. Sie zog Menschen und Tiere auf, Kinder und Kindeskinder, Füllen und Kälber, Lämmer und Geißlein, Gänse, Enten und Singerl, wie man hierzulande die Hühnerküken nennt. Zog sie auf und sah sie wieder dahingehen, im Krieg, unter dem Messer, an Seuchen, durch Unglück. Vor ein paar Tagen hat ihr ein Unwetter das große, firstüberwölbte Hoftor umgestürzt. Wohl, jetzt wären schon wieder Nägel und Ziegel zu haben, es neu aufzurichten, doch sie hat kein Geld. Aber sie nimmt auch das mit Gleichmut hin.

 

Unter meinen Füßen rührt es sich, raschelt wispernd und fiepend hinter der Wandvertäfelung entlang. Aha, meine Mäuse! Es ist ihre Stunde. Ist es Spielerei, leichtfertige Sünde oder etwas anderes, wenn ich ihnen Abend für Abend Brotsamen vor ihr Schlupfloch lege und die Fußbank hochkant davorstelle, dass Fipse nicht dazu kann? Mag es sein, was es will, mein Herz drängt mich dazu! Ich habe ja auch die Wespen gefüttert, damals in der letzten fahlen Oktobersonne. Dicke Klumpen, vierzig, fünfzig, sechzig, wimmelten sie an den Obststücken herum, die ich ihnen aufs Fensterbrett gelegt; nicht eine hat mich je gestochen. Schließlich starben sie wie wir: die einen ertranken, die anderen fielen in die Glut, die dritten verbissen sich ineinander; und wieder andere wurden matter, ließen sich behutsam an eine warme Stelle, einen süßen Birnen- oder Pflaumenrest tragen, blieben, wenn die Starken abends heimflogen, flügelklamm dabei, regten sich am nächsten Morgen immer noch müde und wirbelten dann plötzlich, aufgestellt, mit entsetztem bohrendem Gesurr in erschütterndem Todestanz um sich selbst, bis sie erschöpft verzuckten. War es Erbarmen, ihr Ende aufzuhalten? War es Grausamkeit, Sentimentalität, Frevel? Auch das kann ich nicht beurteilen, auch das soll mich nicht kümmern.

 

Ich weiß, was die Logiker, die sicheren, sagen werden: wenn jeder das tun würde, hätten Mäuse oder Wespen uns bald von der Erde verdrängt. Nun, Leute, jeder tut es ja nicht! Aber lasst mir den Trost, dass ich in all dem Weltenwahnsinn irgendwo und irgendwann einmal, im kleinsten, den Frieden eines Paradiesgärtleins bauen darf! Für uns fragwürdiges Menschengeschlecht allein ist diese Welt sicher nicht geschaffen, wir müssen sie teilen mit allem, was da lebt, teilen im Kampf oder in der Liebe. Und warum nach so viel Kampf nicht auch einmal in der Liebe? Sollte es nie möglich werden: homo homini deus, der Mensch dem Menschen ein Gott, nicht ein reißender Wolf?

 

Doch wohin treiben meine Gedanken? Drüben schwelt noch immer das Licht. Ich möchte hinübergehen zu der Alten in dieser heiligen Stunde, wo wieder ein Leben zur Welt drängt, möchte mir erzählen lassen aus ihrem mütterlich dunklen Wissen um alles Seiende. Aber sie würde erschrecken — zu viel verdächtiges Gesindel streunt nächtens umher. So bleibe ich hier und warte auf den Schrei, mit dem das Leben Leben gebiert; mit dem dieses anhebt.

 

Und jetzt — ein schmerzvolles Muhen; noch einmal, und wieder. Der Platz an dem mächtigen, geschlechteralten Kachelofen ist leer geworden. Draußen im Stall vollzieht sich das Wunder, das immer neue Gotteswunder der Geburt.

 

Seite 12   Der letzte Tannenbaum / Annemarie in der Au.

Nun sind die Straßen der Stadt fast menschenleer geworden. Jeder möchte am Heiligen Abend schnell sein Ziel erreichen, das für den einen der lichterglänzende Baum im Kreise der Familie ist, für den zweiten sein Bett in irgendeinem möblierten Zimmer, in dem er alle Wünsche und Sehnsüchte dieses Tages zu verschlafen hofft, für einen dritten — die Menschen haben alle einen Grund.

 

In der Ferne quietscht die letzte Straßenbahn um die Ecke, zwei, drei Autos machen so, als wären sie und ihre Insassen noch eiliger und wichtiger als sonst. Alles ist letzte Wichtigkeit und Eile, selbst der Himmel, über den ein paar graue Wolken wandern. Aber nein, nicht alles.

 

Zwischen zwei großen Neubauten, da, wo noch immer ein Ruinenrest an vergangene Jahre erinnert, steht ein Mann, ein Weihnachtsbaumverkäufer. Er weiß selbst nicht recht, warum er immer noch hier an den Ruinenrest gelehnt steht und träumt. Der letzte Kunde hat ihn vor einer halben Stunde verlassen, und es ist auch nur noch ein dürrer, etwas verkrüppelter Tannenbaum da, der gewiss keinen Käufer mehr finden wird.

 

Alles verkauft, träumt der Mann, aber es war trotzdem kein gutes Geschäft. So lange er denken kann, hat er Weihnachtsbäume verkauft, früher, daheim, aus dem kleinen Waldstück, das zu seinem Hof gehörte, und nun hier diese Tannen, die eine weite Reise hinter sich haben, sogar aus dem Ausland. Ja, er hat immer schon Weihnachtsbäume verkauft, aber seit die Menschen zu Geschäft machen, was früher Gefühl war, wird der Verkauf immer schlechter und unfreundlicher. Für ihn jedenfalls. Nein, das hat er in diesem Jahr zum letzten Mal mitgemacht.

 

Man könnte jetzt also nach Hause gehen, träumt der Mann weiter, aber was ist heute noch: nach Hause. Er selbst wird jedenfalls keine Tannen im Zimmer haben, wenn ihm nicht seine Wirtin wieder ein paar Zweige hineinstellen würde, die sie von ihrem Baum abgesägt hat. Sonst ist für ihn niemand mehr auf der ganzen Welt da, der ihm eine Weihnacht bereiten könnte. Alle hat der Krieg wortlos verschlungen.

 

„Ach Gott, Sie haben keinen Baum mehr?“ Eine etwas brüchige Frauenstimme schreckt den Mann aus seinen Gedanken.

 

„Nur noch diesen hier", sagt er wie eingelernt, ohne sich erst die Frau anzusehen. „Vier Mark, na, sagen wir drei Mark und fünfzig, weil es der Letzte ist“. Dann erst schaut er hoch und schämt sich im gleichen Augenblick seiner Worte. Gewiss, er hat ein Recht zu dieser Forderung, aber die Frau da vor ihm wird nie so viel zahlen können. So etwas sieht man auf den ersten Blick.

 

Nun wird die Frau diesen etwas verkrüppelten Baum gleich fallen lassen und gehen, denkt der Mann. Er weiß, wie das ist.

 

Aber merkwürdig, die Frau tut nichts dergleichen. Sie sagt nur etwas abwesend: „Ja, ja", und schaut gleichsam durch den Baum hindurch. Und nach einer Weile sagt sie noch: „Können Sie mir den Baum nach Hause tragen?"

 

Natürlich kann der Mann das. Warum soll er es nicht können. Und er spielt sogar ein wenig mit dem Gedanken, dass er vielleicht noch etwas Trinkgeld kriegen würde, wenn die Frau schon seine Forderung ohne Handel bezahlen will. Er würde es sogar annehmen. O ja, das würde er, man ist nicht mehr so stolz in dieser Beziehung.

 

Sie gehen nebeneinander her, schweigend, Die Frau hat einen mühsamen Gang. Nach einer Weile sagt sie so, als habe sie den ganzen Weg über schon gesprochen: „... sie ist nämlich erst vor kurzem hierhergekommen. Sie muss es sehr schwer da oben gehabt haben“.

 

 „Wo oben?" fragt der Mann, der nicht so leicht einen Zusammenhang findet.

 

„Ja, so", sagt die Frau, „ich weiß es nicht genau, von Ostpreußen oder von Schlesien oder — ich weiß es nicht genau. Sie muss es sehr schwer gehabt haben. Sie spricht kaum ein Wort. Sie wollte hierher zu irgendwelchen Angehörigen, aber das muss wohl alles ein Irrtum gewesen sein. Ich weiß Nichts genau. Nun muss sie doch Weihnachten haben …“

 

So ist das, denkt der Mann, die Frau ist wohl eine von den freundlichen Wirtinnen, arm, aber mit einem Herzen gesegnet, das jemandem helfen will. So ist das. Er wird nun natürlich kein Trinkgeld nehmen. Und den Baum wird er auch zum Einkaufspreis lassen, wenn die Frau ihn bezahlen will. Es ist ja Weihnachten, man wird niemand beschenken, vielleicht sollte man sein eigenes Herz beschenken, vielleicht hiermit.

 

Da sind sie schon vor dem Hause angelangt, einem kleinen, sehr bescheidenen Hause. Es gehört vielleicht sogar der Frau, die sich die Steuern mühsam durch Vermietungen erwerben muss.

 

„Das ist ihr Zimmer. Sie wird gleich kommen", sagt die Frau, und es ist nun schon beinahe wie eine Selbstverständlichkeit, dass der Mann den Baum in dem Zimmer aufstellt und schmücken hilft. Und das ist ein so merkwürdiges Gefühl, dass der Mann ein paar Mal schlucken muss.

 

Dann geht draußen die Haustür. Die Frau und der Mann haben kaum Zeit, einige Kerzen anzuzünden, dann steht eine müde, etwas vergrämte Gestalt in der Tür, und dann liegen sich plötzlich diese Gestalt und der Mann mit einem einzigen Aufschrei in den Armen, dem eine beinahe beängstigende Stille folgt. Mit einer stummen Verbissenheit klammern sich die beiden Menschen aneinander, und es dauert sehr lange, bis die alte Frau erfahren kann, dass sich hier zwei Menschen wiedergefunden haben, die sich vor unendlich langen Jahren miteinander versprochen hatten.

 

Und über allem strahlt ein etwas verkrüppelter Baum, der letzte und schlechteste unter allen, und das gütige Herz einer Frau.

 

Manches Auge, das auf Erden

unter Sorgen fröhlich lacht,

lehrt, man braucht zum Glücklich werden

nichts, als dass man glücklich macht.

 

Seite 12   Landbriefträger Ernst Trostmann erzählt. (52)

Liebe ostpreißische Landsleite!

Bei uns innes Dorf steht wieder emal alles Koppche, aber nich, weil in drei Wochen Weihnachten is, sondern wegnem Bauer Lattemann. Das is e alter Differt, wo gern gegne Sonn geht und man ungern de Fork inne Hand nimmt. Von die viele Bierchens, wo er sich mit die Jahre hintrem Schlips gekippt hat, hat er e Trichel wie e Pomskeilche gekriegt. Aber das hinderd ihm nich, wenn er einem intus hadd, zu die Frauens, wo ihm gerad vore Fieße rannden, liebenswirdig und anzieglich zu werden. Meistens kriegden de Frauens bei seine Redensarten rote Köpfe und machden, dass se wegkamen.

 

Aber einmal geriet er bei sone Gelegenheit im Krug anne falsche Adress, nämlich anne Modreggersche. Die hadd frieher in Danzig Fischchens verkauft, und wenn ihr einer aufem Arm nehmen wolld, dann besann se sich auf ihre stolze Vergangenheit, und denn ging ihr Schnabel wie e Häckselmaschien. Denn konnd einer gar nich so schnell zuheeren, wie die alte Gewitterflins schabbern tat. Die konnd aber auch was besehn!

 

Und wie der besoffne Lattemann ihr nu eins aufe Karmenad knalld, da drehd se sich um, und denn gings los: „Dir haben se wohl als Kind zu heiß gebadt, du Söffke! Du plieraugscher Gnatzkopp, du dussliger Prickel, alter Pareezke, verkrempelter Sauzagel! Deine ganze Bildung hast Dir wohl auße Ferkelbucht geholt, du greeßenwahnsinniger Grumpel! Ohl Dommer! Du loschakger Pachulke, du Schobjak, du Saurampskuigel!" Da war er all halb am Boden zersteert. Aber nu kam erst der Heehepunkt, den Trumpf hädd se sich bis zuletzt aufgespart. Se stemmd de Arme inne Seiten, dass es auch orndlich wirken tat, und schmiss ihm mit alle Zeichen der Verachtung ihrem rechten Schlorr und die Schmeichelei inne Fress: „Du dreimal umnes Abe gewickeltes Stintgeschling!" Denn drehd se sich um und rauschd ab.

 

Der Lattemann hadd immer gelauert, dass se mal Luft hold, weil er auch was sagen wolld. Aber dazu kam er gar nich, ehr, dass er sich versah, war se weg, und nu stand er da wie e Patscheimer aufes Klawiehr. Diese gemietvolle Unterhaltung hadd natierlich noch Folgen. De erste war, dass er ihr gerichtlich belangen wolld. Aber der Schiedsmann hat ihm das ausgeredt, weil er angefangen und ihr mit dem Karmenadenklaps tätlich beleidigt hädd. Und sie hädd nu die Beleidigung aufe Stell erwidert, und das war ihr gutes Recht. De zweite Folge war, dass er nu fier alle Zeiten e neiem Spitznamen weghädd, denn wo er sich auch sehen ließ, tuschelden de Leite immer: „Da geht das Stintgeschling“.

 

Ja, und nu war der Lattemann bald drei Wochen innes Dorf nich zu sehen gewesen. Das fiel nich allzusehr auf, denn aufes Feld war nuscht mehr zu tun, und die Leite dachden, er scheniert sich und will ieber das Stintgeschling e bissche Gras wachsen lassen. In Wirklichkeit konnd er nich raus, denn seine Frau und seine erwachsene Tochter Susanne, beide groß und kräftig wie de Zugochsen — es fehld bloß das Brett vorem Kopp — hädden ihm aufe Lucht eingesperrt, um ihm das Saufen abzugewehnen. Se versuchden mit ihm sozusagen e familjäre Entziehungskur inne geschlossene Anstalt. Außerdem wollen se ihm entmindigen lassen. Das passd ihm gar nich, denn er hädd große Sehnsucht nach, seine geliebte Fusikalien, und deshalb unternahm er e Fluchtversuch. Aber das war gar nich so einfach, denn se hädden ihm keinem Anzug nich gegeben, sondern bloß e altes Nachthemd und seine kurze Arbeitsstiefel. Das schreckd ihm nich, de Hauptsach war ihm, er wolld raus! Drum hat er sich irgendwie mit seinem Knecht verständigt, und der hädd ihm inne Nacht e lange Leiter annes Luchtenfenster gestellt. Gegen Morgen kroff er nu raus. In sein dinnes Hemdche bibbert er wie Espenlaub, denn es war schon sehr kiehl. Mit klappernde Zähne kletterd er nu längs die klabastrige Leiter inne Freiheit, aber er kam nich weit. Aufem halben Weg zerbrach eine Spross, und weil er damit nich gerechnet hädd, kam er nich mehr dazu, sich festzuhalten, sondern plumpsd in die Tiefe, wobei ungefähr de Hälfte von sein Nachtgewand an die zerbrochne Leiterspross hängen blieb. Sonst passierd ihm nuscht, denn er fiel weich, nämlich genau aufem Misthaufen, wo drunter lag. Bloß der Hund fing an zu bellen, und da stirzden beide Frauen, nuscht Gutes ahnend, außes Haus, ebenfalls bloß mit dinne Hemdchens kostimiert, fanden ihm gleich, und beaasden ihm aufem Misthaufen mit Besenstiele, weil se ihm außer dem Schnaps — nu auch noch dem Freiheitsdurst austreiben wollden. Denn sperrden se ihm wieder ein, und nu hadd er Zeit, ieber seine unglickliche Lage sowie ieber seine blaue Beilen und Bruschen nachzudenken, wo se ihm beigebracht hädden.

 

Aber er ließ sich nicht entmutigen, er wolld mit Gewalt raus und beim Rechtsanwalt. Mitte Leiter ging nich mehr, die hädden die beiden Weiber zerhackt und verheizt, und der Knecht hädd auch noch e Schicht gekriegt, wie sich später rausstelld. Deshalb ließ er e paar Tage vergehen, um das Misstrauen einzuschläfern. Denn missd der Knecht, durch die gemeinsame Priegl mit ihm innerlich verbunden, dem Hund losmachen. Der haud gleich ab bei seine Braut, wo aufes andre End vom Dorf wohnd, und nu war de Luft rein. Seine ganze Zukunft vertraud der Lattemann nu dem Misthaufen an, wo ihm all einmal so weich aufgenommen hädd: er hoppsd von oben runter, wobei das Nadithemd sich aufblähd wie e Fallschirm.

 

Und es gelung! Außer dass er sich dem rechten Fuß verknacksd, erlitt er keine ernsthafte Beschädigungen. Vorsichtig horchd er rum, aber es blieb alles still, und denn schlich er, von dem Mist ganz geheerig eingesaut, iebre Straße aufe andre Seit, wo de Pohlsche in e kleines Haussche wohnd. Das war e Witwe inne beste Jahre, wo bei ihm aufem Hof half. Bei die wolld er sich bereinigen, e Anzug borgen und denn gleich zu Fuß inne Stadt rennen. De Hausentier stand offen, denn se war all im Stall de Zieg melken und de Hiehner rauslassen. Deshalb missd er sich in Geduld fassen, und weil ihm so hubberd, kuscheld er sich in ihr Bett rein, wo von ihr noch ganz warm war. So wolld er ihr erwarten.

 

Aber er war sehr mied, und die warme Zudeck erweckd in ihm angenehme Gefiehle, so dass er schnell einschlief. De Pohlsche kam zerick, entdeckd einem fremden Kerdel in ihr Bett und stirzd im Brillens raus aufe Straß, wobei de ganze Nachbarschaft zusammenlief wie saure Milch im Sommer, darunter auch dem Lattemann seine Frau und die liebliche Susanne. Aber diesmal ohne Besenstiele. Wieder war es schiefgegangen, aber da kam unversehens die Rettung in Gestalt von die alte Modreggersche. „Wenn ihm jetz einer anfasst, geh ich beis Gericht und verklag eich wegen Freiheitsberaubung und Misshandlung!" sagd se. Se sagd noch e bissche mehr. Dadrauf verschlug aller de Red. Denn nahm se dem Lattemann beim Wischkoll und schleppd ihm weg. Bei ihr zu Haus kriegd er Milchsupp und Brot, denn besorgd se ihm e Anzug und e Mantel, und nu konnd er inne Stadt beim Rechtsanwahlt fahren. Was nu zuletzt dabei rauskommt, wird einer mit die Zeit ja sehen. Vorleifig is der alte Lattemann nu man erst der Held des Tages, und das ganze Dorf hat was zu lachen, wovon wir denn natierlich auch aller reichlich Gebrauch machen, denn Traurigkeit „kost Brost on rött Böxe", aber Lachen is gesund.

 

Und nu winsch ich Ihnen, dass de Feffernisse gut geraten und dass Se aller friedliche und gemietliche Feiertage verleben. Und wenn Se Silvester Glick greifen sollden, mit Brukenstickchen utre Tassen, denn greifen Se richtig: Geld und Ring — oder beides, je nachdem, was Se brauchen.

Herzliche Weihnachtsgrieße! Ihr Ernst Trostmann, Landbriefträger z. A.

 

Seite 13   Büchervorschläge

 

Seite 14   Bücher für den Weihnachtstisch.

Wer ein gutes Buch verschenkt, der gibt mehr als Geld, Brot, Arbeit, er gibt Friede, Freude und Frohsinn. Hermann Löns.

 

Ein repräsentativer Geschenkband.

Zauber der Heimat. Ostpreußische Meistererzählungen. Gräfe und Unzer Verlag München. 296 Seiten mit 8 Kunstdrucktafeln, Großformat, Leinen 13,50 DM.

Die ostpreußischen Dichter Agnes Miegel, Ernst Wiechert, Hermann Sudermann, Johanna Wolff, Hansgeorg Buchholtz, Ernst Wichert, Alfred Brust, Frieda Jung, Otto Ernst Hesse lassen uns ihre unvergessbare Heimat Ostpreußen hier in eindringlichen Meistererzählungen tief und stark erleben.

 

Wir lernen naturverbundene, ernste und oft hart geprüfte Menschen kennen, nehmen Anteil an ihren Glücksstunden und tragischen Schicksalen und werden gleichzeitig durch die weiten zauberhaften Landschaften Ostpreußens geführt, von den malerischen Dünen und Fischerdörfern an der Ostseeküste bis zu den einsamen Siedlungen an den Seen und Wäldern Masurens. So begegnet uns die einmalige, herb schöne Welt Ostpreußens mit ihrem ganzen Reichtum und ihrer Eigenart.

 

Ein Nachwort von Martin Borrmann und biographische Notizen über die Dichter ergänzen das Werk. So entstand ein Hausbuch für alle Ostpreußen und darüber hinaus ein Geschenkwerk für jeden, dem der deutsche Osten nahegebracht werden soll.

 

Wilhelm Matull: Liebes altes Königsberg. Ein Buch der Erinnerung. Verlag Gerhard Rautenberg, Leer. 208 Seiten, Halbln. 5,80 DM.

Dieses Buch hat schnell seinen Leserkreis gefunden, es liegt nun in einer neuen durchgesehenen und ergänzten Auflage vor. Es ist das großangelegte Gemälde einer Stadt mit unendlich vielen farbenreichen und erinnerungsträchtigen Details, ein Mosaik möchte man sagen, zu dem liebevolle und behutsame Hände Steinchen um Steinchen zusammengetragen haben. Jedes Bauwerk, jeder Winkel, jeder Platz und jede Straße sind nicht allein Anlass zu wehmütigen Erinnerungen, sie sind dem Autor Blätter einer mehr als 700-jährigen Geschichte der königlichen Stadt. Wie ein geschickter Filmregisseur blendet er immer wieder zurück, in die Gründer- und Ordenszeit, in dieses und jenes Jahrhundert, holt Gestalten heraus, deren Namen eng mit dem der Stadt verbunden sind. Und dies alles erlebt man gewissermaßen auf einem Spaziergang, man verweilt hier und dort, und die Stadt erzählt, das Speicherviertel, das Schloss, die Kirchen, Tore und Türme. Man möchte dem Buch noch weit größere Verbreitung wünschen; es ist wie kein anderes Buch über diese altehrwürdige Stadt durch seinen volkstümlichen Erzählerton berechtigt, als .das Heimatbuch der Königsberger angesprochen zu werden.

 

Elbinger Heimatbrief. Folge 8. Die Stadt. Hsg. Bernhard Heister, Berlin-Steglitz, Kühlebornweg 17 II. 50 S., 1,25 DM.

War die vorjährige Ausgabe 7 der engeren und weiteren Umgebung Elbings gewidmet, so steht diesmal die Stadt im Mittelpunkt. Erinnerungen werden geweckt an Schulen, Straßen und Plätze. Daneben das Elbing, wie es sich heute dem Besucher zeigt. Erzählungen und Gedichte von Agnes Miegel, Paul Fechter, Ottfried Graf Finckenstein, Martin Damß, Heinrich Eichen und Karl-Heinz Jarsen runden das Bild. Lesenswert nicht nur für die Elbinger, aber die Elbinger sollten diese kleine Broschüre unbedingt besitzen.

 

Pommern. Unvergessene Heimat in 96 Bildern. Ein Buch der Erinnerung. Hsg. von Hannsludwig Geiger.

Die Oder – Ein deutscher Strom. Ein Buch der Erinnerung in 96 Bildern. Hsg. von Dr. Herbert Hupka.

Jeder Band 160 Seiten, davon 96 Seiten Kunstdruck, Format 20 X 26 cm. Ln. 16,50 DM. Halbleder mit Karton 21,-- DM. Gräfe und Unzer Verlag München.

Der Königsberger Verlag Gräfe und Unzer setzt mit diesen beiden Bildbändchen die Reihe seiner ostdeutschen Dokumentarbildwerke, in der bereits vier Bände über Ostpreußen und zwei über Schlesien vorliegen, fort, ein Unternehmen, dem nicht genug Beachtung geschenkt werden kann. Die bekannt solide und geschmackvolle Ausstattung machen die Bände dieser Reihe zu einer Kostbarkeit und jedes blättern darin zu einer neuen Freude.

Dem Bilderteil sind Jeweils etwa 100 Seiten Text vorangestellt, auf denen das Lied der Landschaft von seinen großen Söhnen aus Vergangenheit und Gegenwart angestimmt wird. Eichendorff, Fontane, Paul Keller, Jochen Klepper, Gryphius, Friedrich Bischoff, Niekrawietz, Schleich (im Oderband), Ernst Moritz Arndt, Bismarck, Ulrich Sander (im Pommernband) finden wir darunter, um uns nur auf einige wenige Namen zu beschränken.

 

Im Band Pommern werden wir im Bildteil von den Dünen, Fischerdörfern und Bädern der Ostseeküste über die weiten Gutslandschaften Hinterpommerns, über seine eigenartigen alten Siedlungen mit ihren Backsteinbauten, dann zurück durch den Süden in die Hauptstadt Stettin geführt und beenden schließlich unsere Reise auf der unvergleichlichen Insel Rügen, dem „Thule" der Wandervögel.

 

Im Oderband beginnen wir unsere Reise bei der stillen Quelle der mährischen Odergebirge, fahren durch die schlesische Industrie- und Kulturlandschaft mit ihrer Hauptstadt Breslau, an Frankfurt vorbei in die weite Landschaft Vorpommerns und seinem Herzen Stettin. Der Bildauswahl gelingt es, jeweils das Besondere und Typische der wechselnden Städte und Landschaften entlang des deutschen Schicksalsstromes dem Betrachter vor Augen zu führen.

Die Bände dieser Reihe sind mehr als nur Dokumentation und Bestandsaufnahme, sie sind ein Vermächtnis an die kommende Generation, kündend von Arbeit, Fleiß und kultureller Leistung im deutschen Osten. Man behauptet gewiss nicht zu wenig, wenn man sagt, dass hier ein Verlag aus Eigeninitiative und stellvertretend für uns alle ein Werk von unschätzbarem Wert geschaffen hat.

 

Kleine Kostbarkeiten. Ostdeutsche Erzähler in Salzers Volksbüchern.

Wer eine Kleinbuchreihe über ein halbes Hundert von Titeln zur Auswahl vorlegen kann, nicht wenige darunter, die in kurzer Zeit eine Auflage von weit über 100 000 erreichten, so ist dies allein schon ein Zeichen für die Beliebtheit dieser Reihe und die glückliche Hand des Verlags, immer neue Talente der kleinen Form zu gewinnen. Besonders erwähnenswert scheint mir dabei, dass es zum überwiegenden Teil Erzählertalente des deutschen Ostens sind (die Spitze hält Else Hueck-Dehio mit ihren beiden Erzählungen „Ja, damals", 275. Tsd.).

Auch in den in diesem Jahr neu hinzugekommenen Bändchen sind es vornehmlich Autoren des deutschen Ostens, die den Charakter dieser Reihe bestimmen.

Walther von Hollander (Bd. 46) legt eine Sammlung von Weihnachtserzählungen unter dem Titel „Es brennt der Stern" vor. Sie sind aus der eigenen Kindheit gegriffen oder den Begegnungen mit fremden Schicksalen abgelauscht. Die Einsamkeit östlicher Winter bildet den Hintergrund.

Johannes Weidenhelm (Bd. 48) führt uns mit seiner Erzählung „Ein Sommerfest in Maresi" in seine donauschwäbische Heimat, die er immer wieder als Schauplatz für seine Erzählungen und Romane wählt („Das türkische Vaterunser", „Der verlorene Vater", „Treffpunkt jenseits der Schuld"). Weidenheim findet für diese tragisch endende Erzählung einen beinah heiteren Ton. Er richtet und urteilt nicht, sondern stellt einfach ein Stück Leben vor den Leser hin, und darin liegt seine große erzählerische Kraft.

 

Ein neuer Name begegnet uns in Käthe Korth. „Gelebte Tage" (Bd. 49) betitelt sie ihre drei Erzählungen. Besonders stark und ein großes Talent verratend die Erzählung „Der Trope", die Begegnung eines jungen Mädchens mit einem reifen Manne.

 

Mia Munier-Wroblewskl zählt zu dem Stamm der Autoren des Eugen Salzer Verlages. Ihre sechsbändige deutsch-baltische Familiengeschichte „Unter dem wechselnden Mond" beschwört Bilder, Menschen und Geschichte dieser östlichsten deutschen Bastion. Ihr neues Bändchen „Wind drüber weht“ (Bd. 50) unterschreibt sie mit Blätter der Erinnerung, und diesmal sind es ihre eigenen Kinder- und Jugendtage in ihrer kurländischen Heimat. Ein erfülltes Leben und ein Herz voller Liebe für die kleinen Dinge müssen hinter diesen Geschichten stehen.

 

Handfeste und humorvolle Geschichten erzählt uns Siegfried von Vegesack in seinen Altlivländischen Idyllen „Der Pastoratshase" (Bd. 52). Drei herrliche Erzählungen von alten Tanten und sonderlichen Käuzen. Man findet nicht leicht etwas Ebenbürtiges!

 

Caroline Friederike Strobach: „Anna Jadwiga", haben wir bereits an anderer Stelle eingehend gewürdigt.

Sämtliche Bändchen mit farbigem Pappeinband, 72 - 80 Seiten, je DM 2,80.

 

Caroline Friederike Strobach: Anna Jadwiga. Erzählungen. Eugen Salzer Verlag Heilbronn. Salzers Volksbücher, Bd. 51. 72 S. Farbiger Pappband. DM 2,80.

Ein erfolgreicher Erstling kann ein Zufallswurf sein, und es ist keine Seltenheit, dass man sich späterhin oft genug in seinen Hoffnungen enttäuscht sieht. Nicht so bei der Autorin des großen Ostdeutschen Schicksalsromans „Das Licht im Fenster", die nun ihr zweites Buch vorlegt. Sind es auch nur vier Erzählungen, die dieses schmale, gutausgestattete Bändchen umschließt, geben sie doch einen Maßstab für Gestaltungskraft und Erzählertalent der Autorin, sind sie ein Beweis mehr, dass Caroline Friederike Strobach auf vielerlei Saiten die Weise des Lebens zu spielen versteht. Unverbraucht, frisch, bilderreich ihre Sprache. Sie erzählt drauflos und erzählt sich hinein in das Leben eines Menschen, in das der Anna Jadwiga der Titelerzählung zum Beispiel, dass es eine Freude ist. Kunstkniffe, um gewisse Effekte zu erzielen, sind ihr fremd, nichts ist konstruiert, auf dem Reißbrett entworfen und vorgezeichnet. Dennoch: es sind erzählerische Meisterwerke, wie man sie sehr selten findet. Oder vielleicht gerade deshalb, weil sie so vom Herzen weg erzählt sind.

 

Ein neues Buch. Von Walter von Sanden.

„Wo mir die Welt am schönsten schien" hat Walter von Sanden sein neues Buch genannt, von dem man fast sagen möchte, es sei auch sein schönstes, wenn man damit nicht seinen anderen Büchern Unrecht täte. Der weitbekannte Vogel-Freund und -Forscher aus Klein-Guja, der seit seiner Vertreibung aus der ostpreußischen Heimat jetzt am Dümmer-See seine stille Naturbeobachtung fortsetzt, führt uns in diesem Werke in eine ganz neue Welt: in die der Fische, die in den geheimnisvollen Tiefen der Gewässer ihr stummes, den meisten Menschen kaum bekanntes Leben führen.

 

Wer hat denn noch solche Liebe zur Tierwelt? Wer bringt die Opferkraft auf, auch bei widrigem Wind und Wetter, in Sturm und Regen und bei eisiger Kälte mühevoll ihr Leben zu studieren? Wer verfügt bei der Drangsal des heutigen Daseins noch über die unendliche Geduld des Wartens, die zu allen solchen Beobachtungen unbedingt gehört? — Walter von Sanden hat sie von Jugend an geübt, weil er immer schon allen Tieren brüderlich nahe stand.

 

Man liest auch dieses Buch wieder mit einer beglückenden Spannung, die sich in dem Kapitel noch erhöht, wo der Autor von dem kalten Winter 1928/1929 erzählt, als das Thermometer auf 44 Grad herabgesunken war und alle Kreatur furchtbar leiden musste, auch die Fische, an die wir Menschen damals wohl am wenigsten gedacht haben.

Walter von Sanden ist nicht nur mit jeder Fischart seiner heimatlichen Gewässer und mit ihren besonderen Lebensgewohnheiten vertraut, er kennt auch jeden Handgriff des Fischereihandwerks. So spricht er nie nur als schwärmender Schöngeist, sondern als ernster Forscher und Fachmann.

 

Edith von Sanden, seine kunstbegabte Lebenskameradin, offenbart in naturgetreuen Aquarellen die ganze, oft bezaubernde Farbenpracht der Bewohner des feuchten Elementes. Bei der Arbeit musste der Fisch, der zum „Modellsitzen" auserlesen war, nach kurzen Augenblicken der Beobachtung immer wieder ins Wasser gesetzt werden, um ihm seine natürliche Frische und Schönheit zu erhalten. Zu jedem Bilde wurde immer nur derselbe Fisch als Vorlage benutzt, und nicht ohne leise Rührung hören wir, dass diesem, gewissermaßen als Belohnung für seine „Leistung", nach Beendigung der Arbeit wieder die Freiheit geschenkt wurde.

Ein Buch, in dem sich, wie in allen Büchern von Sandens, nicht zuletzt wieder sein einfaches, warmes Menschentum zeigt, das sich auch in den Gedichten und in den von Otto Suchodolski vertonten Liedern ausspricht, die dieses Werk enthält.

 

Walter von Sanden-Guja: Wo mir die Welt am schönsten schien, Landbuch-Verlag Hannover, 190 S., 20 farbige Wiedergaben nach Aquarellen. Zahlreiche Vignetten, Großformat. Leinen. Fritz Kudnig.

 

Seite 14    Wohnen mit Blumen.

Es gibt Bücher, denen man keine Empfehlung auf den Weg zu geben braucht, da sie für sich sprechen. Zu ihnen zählt das gefällig und liebevoll ausgestattete Blumenbuch von Margot Schubert „Wohnen mit Blumen" (Bayerischer Landwirtschaftsverlag GmbH, München. 296 Kunstdruckseiten mit 158 Abb., 8 Farbfotos. Ln.  21,-- DM). Schon beim ersten Durchblättern wird der Blumenfreund in den Bann dieses Buches gezogen, sei es von den vorzüglichen Fotowiedergaben oder vom Anlesen eines Kapitels. Margot Schubert versteht es, alles Wissenswerte über Haltung und Pflege unserer grünenden und blühenden Schützlinge, über Raum- und Fenstergestaltung in einer leichtverständlichen Form, man möchte sagen, in einem frischen Plauderton darzulegen, dass es eine Freude ist, ihr zu folgen. Die Sachkenntnis der Autorin ist verblüffend, und es kann zusammenfassend gesagt werden, der Blumenfreund kann sich keinen besseren Gefährten wünschen, um ihm seine Liebe zu den Pflanzen zu einer reinen Freude werden zu lassen. Mit Hunderten von Ratschlägen steht ihm dieses Buch zur Seite, und auf Hunderte von Fragen gibt es ihm Antwort.

 

Zwei neue Humorbände von Dr. Lau.

Auguste in der Großstadt. Der Heimatbriefe zweiter Teil. – Landbriefträger Trostmann erzählt.  Lustige ostpreußische Geschichten. Gräfe und Unzer Verlag München. Jedes Bändchen 48 Seiten, 2,50 DM.

Ich weiß nicht, ob gerade die „Ostpreußen-Warte" der richtige Platz ist, den Lesern etwas über den Landbriefträger Trostmann zu erzählen. Man wird mich wahrscheinlich auslachen. Denn wenn einer den Landbriefträger z. A. kennt, dann sind es die Leser dieses Blattes, in dem heute bereits die 52. Folge seiner lustigen ostpreußischen Geschichten erscheint. Neu für sie ist vielleicht nur, dass sich die ganzen Jahre Dr. Alfred Lau hinter dem Trostmann verborgen hat. Viele Warte-Leser werden den Wunsch haben, diese lustigen, voller urwüchsigen Humor steckenden und mitunter recht deftigen Geschichten als Buch zu besitzen. Hier ist es nun! Vielmehr — er, ihr Trostmann!

Dem ersten Band der Briefe des Dienstmädchens Auguste Oschkenat aus Enderweitschen ist mittlerweile ein „zweites Bändchen" gefolgt, das jenem Ersten an Humor und unfreiwilliger Komik in nichts nachsteht. Die Lektüre dieser Briefe ist Medizin gegen Trübsal aller Art. Lesen sie, und sie werden sich gesundlachen.

 

Neuerscheinungen des „Karlsruher Boten"

REQUIEM. Dank und Gedenken. Eine Anthologie. Auswahl von Kurt Rüdiger und Else Bleier. Mit Linolschnitten von Fritz Moser. 72 Seiten. 3,-- DM.

ORPHEUS. Eine Anthologie junger deutscher Dichtung. Hrgg. von Kurt Rüdiger. Mit Illustrationen und Fotowiedergaben. 3,-- DM.

Armin Renker: Fülle der Gedichte. Neue Gedichte. Bibliophile Ausstattung. 3,-- DM.

Wilhelm Tochtermann: Ich muss dich lieben, Sinngedichte der Liebe. 2,-- DM.

Hans Garbelmann: Überfall der Raubvögel. Gedichte. Mit zweifarbigen Linolschnitten von Fritz Möser. 1,50 DM.

Else Lunkenheimer: Das Mädchen vom gläsernen Herzen. 1,20 DM.

Der Karlsruher Bote. Karlsruhe, Weinbrennerstraße 47.

 

Seite 14   Staatliche Hufenoberschule für Mädchen Königsberg.

Die Schulgeschichte von Oberstudiendirektor a. D. Walsdorff ist gegen Nachnahme DM 8,80 bei Oberschullehrerin H. Schmidt, Soest i. W., Wilhelm-Morgner-Weg 16, erhältlich.

 

„Eines der instruktivsten und schönsten Erinnerungsbücher. Und auch eine Mahnung zugleich“.

Der Tag, Berlin

 

Martius - Falkenbach

Mitten durch unser Herz. Bilder und Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland. 160 Seiten mit 157 Fotos und 4 Karten, Großformat, Leinen, DM 16,80.

In einmaliger Weise verdeutlicht dieser ergreifende Bildband die unfassbare Teilung unseres Vaterlandes und das Schicksal Mittel- und Ostdeutschlands. Von der Kurischen Nehrung bis zum Thüringer Wald, von der Mecklenburgischen Küste bis zu den Hochöfen Oberschlesiens ersteht dieses vielgeprüfte Land vor uns aus der dreifachen Sicht der letzten Friedensjahre, des Krieges und der Nachkriegszeit.

 

Dieser Bildband erfüllt eine heimatpolitische Aufgabe und sollte als kostbares und wertvolles Geschenk auf vielen Weihnachtstischen liegen, besonders denen der Jugend. Sie bekommen diesen Bildband in jeder Buchhandlung. Wilhelm Andermann Verlag München

 

Seite 15   Die Wandlung. Von Emil Merker.

„Mein schwerster Silvesterabend war mein schönster“, begann, ein versonnenes Lächeln um den Mund, Doktor Berger und nahm einen sparsamen Schluck aus dem Glas.

 

Die Freunde, alle bereits jenseits der Halbjahrhundertgrenze, drängten zu erzählen. Er sperrte sich nicht: „Wenn ihr nicht ein fabelbuntes Geschehnis erwartet, gern.

 

Es war wie heute letzter Tag des Jahres, ich, ein kleines Menschenalter jünger, für den Abend zu Freunden geladen, die in der komfortablen, einem reichen Fabrikanten gehörenden Waldhütte in feucht-fröhlichem Übermut das alte Jahr zu Grabe tragen, das neue aus der Taufe heben wollten. Ich brach in den frühen Nachmittagsstunden des schneewolkenverhangenen Wintertages auf, nicht sehr gut verproviantiert, nicht allzu warm gekleidet. Ein guter Tisch erwartete mich. Warm machen würde mich der Weg, und ein bisschen verfroren ankommen war die Voraussetzung dafür, nachher Kachelofen und einen alten Kognak richtig würdigen zu können.

 

Ich kannte den Weg vom Sommer her, er führte abwechslungsreich durch Wald und freies Gelände, bergauf und bergab. Es fiel mir nicht bei, ihn etwa verfehlen zu können. Von der Fahrstraße abbiegend, stieg ich in meinen guten Juchtenstiefeln gemächlich den anfangs noch recht bequemen, nach den zahlreichen Spuren zu schließen, vielbegangenen Waldsteig empor, meinen Gedanken und Träumereien hingegeben, in freudigem Wohlbehagen, nach langen Wochen in der Stadt saubere Bergluft zu atmen. Sie war nicht kalt, eher frühlingshaft weich, und roch nach weiterem Schnee. Wirklich setzte auch, kaum dass ich eine halbe Stunde gegangen war, ein lustiger Flockentanz ein, der mich, mit jeder Minute dichter werdend, nach kaum hundert Schritten zum Schneemann machte. Auf meinen Schultern Schneepolster, auf meiner Kappe eine lastende Schneemütze, musste ich immer wieder stehen bleiben, mich abzuschütteln.

 

Es dunkelte, aber der Nachmittag konnte noch lange nicht so weit vorgerückt sein, um Nacht werden zu wollen. Ich versuchte, nach der Uhr zu sehen, da stellte sich heraus, dass ich sie daheim beim Umkleiden hatte liegen lassen. Verflucht! Man ist ohne Uhr von der menschlichen Zivilisation gleich um ein paar Kilometer abgetrieben, gar in einem unbestimmt dämmernden Wald, der übrigens sehr schön war und mich bisher schon immer wieder zu verweilendem Umblick verleitet hatte, jetzt aber mit den weichen Kissen frischen Schnees auf jedem Ast und Ästchen immer mehr zum weihnachtlich verzauberten Märchenwald wurde. Ich ließ mir Zeit, zumal man mit jedem Schritt in den stellenweise schon kniehoch zusammengewehten weißen Daunen nur mühselig vorwärts kam. Die Fußspuren, die mich bisher geleitet hatten, waren verschwunden, aber der Weg, in dem sonst dichten Bestände, vorerst nicht zu verfehlen. Es konnte ja kaum - ich tat einen mechanischen Griff, nach der Uhr zu sehen … Richtig, ich hatte doch keine!

 

Das Schneetreiben hielt an, die Dämmerung des Wolkenhimmels ging nun wirklich in die anbrechende Nacht über, aber ich war inzwischen auch aus dem Wald in freies Feld, soviel ich vom Sommer her wusste, mooriges Heidegelände, gekommen, wo es noch ein bisschen bessere Helligkeit gab und die Schutzhütte nach kaum einer weiteren Stunde erreicht sein musste. Ihre trauliche Geborgenheit, der Freundeskreis, nicht zuletzt die guten Dinge, die es dort geben würde, begannen meine Phantasie umso verführerischer und lockender zu durchgaukeln, als ich immer deutlicher Müdigkeit in den Gliedern und Appetit, um nicht zu sagen gesunden Hunger, in den Gedärmen fühlte.

 

Nun, liebe Freunde, ihr ahnt es längst: ich kam in diesem Jahr nicht mehr an das ersehnte Ziel. Ich verirrte mich. Nach wenigen Schritten aus dem Wald in die weiße Dämmerung hinein spürte ich, dass ich keinen festen Weg mehr, sondern bald Baumstümpfe, bald Moospolster unter den Füßen hatte, immer wieder brach ich ein, ungewiss, ob nur in eine Schneewehr oder in ein Moorloch.

 

So ziemlich jeder kennt aus irgendeiner Erfahrung die Stimmungsstufenleiter, die allmählich aus humorvoller Beurteilung der Lage zu ärgerlicher Ungeduld, aus dieser zu Erbitterung, schließlich zu Ratlosigkeit, Besorgtheit, was werden solle, sich steigert. Endlich hörte es auf zu schneien, der Himmel klärte sich, sogar Sterne kamen durch. Damit besserte sich mein Zustand insofern, dass ich wenigstens auf einige Schritte Sicht gewann, ich schöpfte neuen Mut. Bis ich erkannte, dass diese Veränderung viel Schlimmeres in sich schloss: es wurde kalt.

 

Und ich müde; müde und hungrig. Es folgte was in solchen Fällen immer zu folgen pflegt. Ich blieb stehen und wieder stehen, versuchte, mir wenigstens über die ungefähre Richtung klar zu werden, glaubte mich zurechtzufinden, geriet wieder in Zweifel und war schließlich überzeugt, jede Orientierung verloren zu haben. Ich wandte mich nach rechts, nach links und beschloss, den eigenen Spuren folgend, zurückzugehen. Aber ich fand diese Spuren bald nicht mehr, sie waren verweht. Und ich fühlte immer deutlicher: ich hielt nimmer lange durch. Schläfrigkeit überkam mich. Nie habe ich eine Lockung so verführerisch empfunden wie damals die, mich in diese weichen, weißen Schneepolster sinken zu lassen und die Augen zu schließen. Aber ich wusste auch, damit war ich verloren.

 

Die Kälte zog an, ein schneidender Wind begann zu blasen, meine Zehen, die Finger, die Nase, die Ohren erstarrten. Ich fing an zu stampfen, ohne darauf zu achten, ob ich vorwärts kam oder nicht, Arme und Beine zu klopfen, zu reiben. Ich begann zu kämpfen.

 

Und allmählich kam ich doch vorwärts, durchquerte abermals ein Stück Wald und fand jenseits, fast hätte ich aufgeschrien vor Freude, frische Fußspuren. Jemand musste vor kurzem hier gegangen sein. Ihnen folgend würde ich zu einer menschlichen Behausung kommen. Umso größer war nach wenigen Schritten meine Enttäuschung: die Fußspuren waren meine eigenen, ich lief im Kreise.

 

Aber nun kommt das, um dessentwillen ich die ganze Sache erzähle: die seltsame Wandlung. Ich musste plötzlich stehen bleiben und in mich hineinhorchen. In mir begann es nämlich, ja wie soll ich das sagen, wie von ganz weit her zu klingen. Ich lauschte. Kann man sagen, dass man ein Lächeln in sich aufblühen spürt? So war mir zumute. Ich fühlte, fast vollständig, Getrostheit mich durchströmen, so trostlos meine Lage auch war; eine fröhliche Verwandlung, ähnlich, wie wenn einem nach mühevollem, ungeduldigem Kopfzerbrechen endlich die Lösung eines Rätsels aufgeht und man erkennt, wie verblüffend einfach diese Lösung war. Ich sah zu den Sternen auf. Sterne sind, wie alle Dichter behaupten, große Weltenmajestäten. Nun, für mich waren sie es nie, ich fürchtete mich von Kindesbeinen auf vor ihnen, hob nie gern meinen Blick zu dieser grauenvollen Welteinsamkeit. Zur Stunde aber war es anders. Ich sah hinauf und: ich fürchtete mich nicht mehr; ich fühlte mich vielmehr bei ihrem Anblick — ich finde kein anderes Wort als dieses: geborgen. Die Bäume begannen im immer stärker aufwachsenden Wind zu raunen, zu rauschen, zu orgeln. Ich bin als Stadtmensch nie viel mit ihnen in Berührung gekommen, aber nun verstand ich sie plötzlich. Ich lauschte und lauschte. Irgendwo, vielleicht nicht einmal allzu weit weg, vor oder hinter, rechts oder links von mir, wusste ich in einer mit allen Finessen unserer Zeit ausgestatteten Hütte die Freunde schmausen und pokulieren. Hätte es wie im Märchen genügt, bloß den Wunsch auszusprechen, um bei ihnen zu sein — ich hätte ihn nicht ausgesprochen. Da stand ich und feierte Jahreswende, allein, in Eis und Schnee, in der Gesellschaft schwarzer Bäume und rätselhafter Sterne, deren jeder eine Welt war; hinausgeschleudert in die Ewigkeit und gleichzeitig, das war das Wunderbare, süß geborgen. Es war ungewiss, ob mich der nächste Tag noch lebend antraf. Aber darauf kam es mit einem Male nicht mehr an. Auf etwas anderes kam es an, etwas nicht zu Sagendes, nicht Mittelbares. Doch eben dieses Unsagbare fühlte ich in dieser Stunde in mir als sicheren, unverlierbaren Besitz. In der trunkenen Seligkeit dieses Besitzes drängte sich ein Lachen aus meiner Brust. Ja, mehr: ich spürte Tränen der Ergriffenheit in meine Augen treten. Diese Augen sahen — begannen sich meine Sinne schon zu verwirren? — die Schneekinder in wehenden, weißen Hemdchen über die weiße Fläche gleiten . . .

 

In der niederen Stube einer Dorfhütte schlug ich die Augen auf. Man rieb mich mit Schnee. Es war Neujahrstag, die Glocke rief eben zum feierlichen Hochamt. Die über mich gebeugten Gesichter lachten: nun sei alle Gefahr vorüber! Ich bekam eine Tasse heißen Kaffees, dann durfte ich auf der Ruhebank zur Seite des Ofens, auf der Hund und Katze schliefen, mich ausstrecken. Man wollte die Tiere herunterjagen, ich bat, sie an meiner Seite zu lassen. Sie störten mich ebenso wenig wie das Hantieren der Frau um die Herdplatte oder das Spielen des ungefähr zweijährigen Kindes, das in dicken Filzschuhen umhertappte. Nie vorher noch nachher habe ich einen so süßen Schlaf getan wie in den folgenden Stunden.

 

Was noch? Nichts mehr. Nur, dass ich mein ganzes übriges Leben, wenn es einmal sehr kritisch darin zuging, an jene Silvesternacht denken musste und aus diesem Gedenken immer eine seltsam lächelnde Getrostheit empfing; das Gefühl einer untrüglichen Gewissheit über alle Fragwürdigkeit der Stunde hinaus.

 

Das Jahr geht still zu Ende

Nun sei auch still mein Herz

In Gottes treue Hände

Leg ich nun Freud und Schmerz

 

Er hilft uns durch die Zeiten

Und mache fest das Herz

Geht selber uns zur Seiten

Und führ uns heimatwärts.

 

Seite 16   Binschkos Flitterwochen. Von Fritz Skowronek.

Eines Tages hieß es im Dorfe, der alte Bischko sei verschwunden. Einige meinten, er habe einen besonders tiefen Trunk getan und sich im Walde niedergelegt, um auszuschlafen.

 

Die Meinung hatte viel für sich. Denn es war schon mehrmals vorgekommen, dass der Alte sich mit dem für die ganze Genossenschaft der Holzschläger bestimmten Lechel voll Schnaps ins Dickicht verkrochen hatte. Hatte er sich sattgetrunken, so schob er den Arm unter den Kopf und schnarchte los, dass der Boden dröhnte.

 

Binschko hatte die Gewohnheit des Schnarchens zu einer Kunst erhoben. Mit kaum hörbarem Schnaufen zog er die Luft ein und ließ sie gewaltig wieder hinaus, dass man die große Säge zu vernehmen vermeinte, mit der er sonst tagsüber hantierte. Oder er sog die Luft mit dumpf grollendem Laut ein und paffte mit den Lippen „beim Anstoßen" wie ein Raucher.

 

Doch das waren nur Feinheiten. Für gewöhnlich „sägte" er mit einer Energie, dass einstmals ein biederer Tischler, der ahnungslos an seinem Lager vorüberging, entsetzt zum Förster lief, um ihm mitzuteilen, dass dicht an der Straße, im Dickicht, ein Baum abgesägt werde. Damals wurde Bischko entdeckt, als er sich kaum das erste Drittel des Fässchens einverleibt hatte. Für die Folge war er vorsichtiger. Er verkroch sich in den Schluchten der Tartarenberge, dass niemand ihn finden konnte.

 

Hatte er dann seinen ersten Rausch ausgeschlafen, so griff er nach dem Lechel und füllte frisch nach. Er schlief und trank und schlief, bis der Stoff verbraucht war. Dann kroch er aus dem Versteck hervor und ging nach Hause, um nachzuholen, was er an Essen und Trinken versäumt hatte. Gewöhnlich war er drei bis vier Tage unsichtbar. Nur war es schwer, ihn davon zu überzeugen, dass er so lange weggewesen. Nach seiner Rechnung hatte er nur ein paar Stunden geschlafen. Nur die Tatsache, dass er am Nachmittag angefangen zu trinken und an einem Morgen aufgewacht, stimmte ihn nachdenklich. Jedenfalls dauerte es geraume Zeit, bis er wieder sein Zeitgefühl mit den Wochentagen in Einklang gebracht hatte.

 

Also Binschko war weg. Und er blieb weg. Im Dorf beruhigte man sich allgemach, nachdem man festgestellt, dass der Alte unmöglich in Begleitung eines Lechels sich im Walde aufhalten könne. Aber wo war er geblieben? Einige Kinder behaupteten, ihn im dunklen Feiertagsrock und Stiefeln auf dem Wege nach der Stadt gesehen zu haben, doch das glaubte niemand. Denn kein Mensch konnte sich erinnern, Binschko je in einer solchen Kleidung gesehen zu haben. Und zu welchem Zweck sollte er sich so ausputzen?

 

Nach ungefähr vierzehn Tagen löste sich das Rätsel. Binschko hatte auf Freiersfüßen die Umgegend bereist. Nicht etwa bloß, um gut zu essen und gut zu trinken, wie es der Gerlitzki tat, der seit dem Tode seiner Frau alle Witwen im meilenweiten Umkreise abwechselnd regelmäßig besuchte, ohne sich für eine entscheiden zu können. Er liebte augenscheinlich die Abwechslung.

 

Binschko war dagegen ein reeller Heiratskandidat. Er hatte zuerst drei Tage bei einer Witwe gewohnt, dann bei einer anderen. Von beiden war er friedlich geschieden. Ohne Groll hatte man sich getrennt, weil man sich von einem längeren Zusammensein nichts Gutes versprach. Aber von beiden war er freundlichst eingeladen, bald mal auf einen Tag wieder vorzusprechen.

 

Erst auf der dritten Stelle realisierte sich seine Absicht. Wenn man ihm im Dorfkrug einen halben Stof Schnaps kaufte, ließ er sich herbei, die Geschichte seiner Brautschau zu erzählen. Natürlich jedes Mal mit einer anderen Variation. Als feststehend kann angenommen werden, dass Binschko sich bei jeder „Braut" knüppeldick be — trunken und heim Aufstehen die Auserwählte mächtig durchgeprügelt hatte, um ihre Sanftmut zu erproben. Bei zweien war die Probe negativ ausgefallen. Erst die dritte bestand sie, nicht einmal, nein: zwei- oder gar dreimal in acht Tagen. „

 

Sähen Sie, Herr Wohltäter", so pflegte Binschko seinen Bericht zu schließen, „hübsch is se nich, das muss ihr der Neid lassen, jung is se auch nicht mehr, aber im besten Heiratsalter, so zwischen fufzig und neinzig. Aber se hat ne gute Eigenschaft: se verträgt alles, auch Schnaps und Keile“.

 

Übrigens konnte niemand behaupten, dass Binschko körperliche Vorzüge besaß. Er war klein und dick. Unter der niedrigen Stirn, die mühsam durch eine Anleihe vom Hinterkopf mit dünnen, grauen Haarsträhnen bedeckt war, lagen tief im Kopf ein Paar graue Augen, von denen man meist nur die roten, ewig entzündeten Ränder sah. Nach alter Sitte ließ Binschko seinen Bart nicht lang wachsen. Vielleicht lohnte es nicht. So war seine untere Gesichtshälfte wochentags stets mit gräulichen Stoppeln besetzt. Am Sonntag dagegen war sie regelmäßig mit einigen Schwammstückchen verziert, mit denen Binschko die beim Rasieren verlorenen Hautstücke ersetzte.

 

Aber er war trotzdem eine gute Partie. Er verdiente, von den Ruhepausen mit dem Lechel abgesehen, täglich seine sechzig bis siebzig Pfennige und brachte abends, außer dem Bündel Holz, noch ein Gericht Pilze aus dem Walde mit heim.

 

Seine zweite Ehe ließ sich sehr glücklich an. Die „junge" Frau hatte einen ganzen Handwagen voll Gerumpel und auch ein wirkliches Federbett mitgebracht. Zudem besaß sie ein Ausgedinge. Es war nicht groß, reichte aber zu einem Stof Schnaps täglich für beide aus. Die gute Folge davon war, dass Binschko seine heimlichen Gelage im Walde einstellte und ein ganz solider Mensch wurde.

 

Zu Weihnachten hatten sich die Gatten reichlich mit Stoff verproviantiert. Eigentlich sollte er bis ins neue Jahr hinüberreichen. Aber wie es so geht — am einunddreißigsten war die große Kruke leer.

 

Doch Frau Binschkowa war nicht geizig. Sie schickte den Alten unter einem Vorwande hinaus, holte eiligst aus dem Strohsack einen Strumpf hervor, der mit Silbergeld noch fast bis zur Hälfte des Füßlings gefüllt war, und entnahm ihm einen harten Taler.

 

Eine Stunde später trabte Binschko eiligst nach der Stadt, die große Kruke hing ihm an einem dicken Bindfaden wie eine Jagdtasche an der Seite. Es fing bereits an zu dunkeln, als er den steilen Berg am Seeufer herabkam. Die Binschkowa stand schon lange in banger Erwartung vor der Tür.

 

Es war Tauwetter eingetreten. Der heftige Südwest, der ab und zu einen Schauer Regen mitbrachte, hatte den Schnee von der Chaussee gefegt. Nur mitten auf dem Damm lag noch eine glatte Eiskruste, der Rest der festgefahrenen Schlittenbahn.

 

Vorsichtig kam Binschko den Berg herabgetappt. Soweit das Geländer reichte, ging es gut. Als er aber den glatten Damm überschreiten wollte, geschah das Unglück. Da lag er, und vor ihn in Scherben der Krug. Der kostbare Stoff bildete auf dem festen Eis hier und dort kleine Luschen.

 

Wie geistesabwesend starrte Binschko, der sich auf Händen und Knien etwas emporgehoben hatte, auf die Scherben. Wehmütig schüttelte er den Kopf hin und her, während er vor sich hinmurmelte:

 

„Hol' der Teufel die Kruk'! Aber schade, schade um den Schnaps!"

 

Da kam ihm ein Gedanke. Eilig bog er sich nieder und schlürfte den Stoff auf. Ein paarmal versah er sich und tauchte die vorgestreckten Lippen in reines Regenwasser. — In dieser Beschäftigung wurde er plötzlich in sehr unerwarteter Weise gestört. Frau Binschkowa war unbemerkt hinzugeeilt. Auf eine, ihr selbst unerklärliche Weise, war ihr ein derber Stock in die Hand geraten.

 

Und nun gab's von oben dal …so viel ihr Arm aushielt.

 

Binschko hatte sich noch nicht von seiner Überraschung erholt, oder brauchte er so viel Zeit, um nüchtern zu werden, da war seine bessere Hälfte schon im Hause verschwunden und hatte die Tür hinter sich abgeschlossen.

Vergeblich forderte er Einlass. Schließlich holte er die Axt aus dem Stall und brach die Tür auf.

 

Es muss dann wohl eine sehr energische Auseinandersetzung gefolgt sein, denn kurz darauf erschien Binschkowa beim Schulzen und verlangte seinen Beistand, um ihre Sachen aus der Wohnung holen zu können.

 

Mit giftigen Hohnreden begleitete Binschko ihren Auszug. Doch als sie zuletzt mit sicherem Griff den schweren Strumpf aus dem Strohsack hervorholte und ihm triumphierend vor die Nase hielt, da war sein Zorn besiegt. Er erhob sich stumm und begann die Sachen seiner Gefährtin wieder vom Wagen in die Stube zu tragen. Aber da kam er schön an. Die Frau holte sich eiligst den Schulzen zurück, der bereits davongegangen war, und zog weg mit Sack und Pack.

 

Lange saß Binschko stumm vor sich hinbrütend im finsteren Zimmer. Endlich erhob er sich und schlich zum Krug, um von der Wirtin einen Stof Schnaps auf Borg zu entnehmen. Aber es war vergeblich. Sein Kredit hätte vielleicht dazu ausgereicht, wenn er seinen Weihnachtsvorrat nicht aus der Stadt, sondern bei ihr geholt hätte.

 

Schlaflos wälzte er sich auf seinem Lager. So nüchtern hatte er den letzten Abend im Jahr noch nie erlebt.

 

Beim Morgengrauen erhob er sich, rasierte sein Antlitz, zog den dunklen Rock und Stiefel an und ging davon.

 

Nach Baramen, da wohnte eine Witwe. Mit der wollte er’s noch einmal versuchen.

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