Ostpreußen-Warte, Folge 12 vom Dezember 1955

Ostpreußen-Warte

Folge 12 vom Dezember 1955

 

Seite 1 und 2   Ostpreußische Weihnacht. Von Ernst Hartmann.

2 Fotos: Ostpreußischer Winter. Cranzer Seesteg im Eispanzer. Aufn.: A. V. Schmidt

Nun feiern wir Ostpreußen wieder unser liebes Weihnachtsfest fern von der trauten Heimat. Und wieder schweifen sehnsüchtige Gedanken zurück zu unserem Heim jenseits der Weichsel und zaubern uns all die glücklichen Weihnachtstage vergangener Jahre mit ihrem Lichterglanz, ihren stimmungsreichen Liedern und ihrem festlichen Frohsinn im Kreise der Familie, der Verwandten und Freunde vor unser geistiges Auge. Da wollen wir uns auch einmal in weit hinter uns liegende Zeiten zurückversetzen und sehen, wie unsere Vorfahren vor Jahrhunderten im Ostpreußenland die Weihnachtszeit festlich begingen.

 

Ja, lieber Landsmann, da wirst du dich wundern, dass vor 1800 unser altvertrauter Christbaum der weihnachtlichen ostpreußischen Stube fehlte. Um 1800 war es nach dem Bericht eines Reisenden der Graf von Dohna, der zur Überraschung aller Nachbardörfer in seinem Schloss und in den Schulen Döbern und Deutschendorf einen Lichterbaum aufrichten ließ, an dem die Gaben für das herrschaftliche Gesinde und die Schulkinder hingen: Wintersachen, Bibeln, Gesangbücher, Tabakröllchen, „Schreibbücher“ und „Zeichenbücher“. Mit fröhlichem Gesang kamen die Schulkinder der umliegenden herrschaftlichen Vorwerke nach Döbern und Deutschendorf und empfingen dort die vom Grafen gestifteten Gaben. In seinem „Buch der Kindheit“ erzählt uns Bogumil Goltz, dass der Weihnachtsbaum seiner Jugendzeit, der Zeit zwischen unglücklichem Krieg und den Befreiungskriegen, mit Gold- und Silberschaum und „vergoldeten“ Äpfeln und Nüssen überzogen war und die Geschenke, ein Steckenpferd, Bleisoldaten und eine Trompete, an den Zweigen hingen. Auf dem „bunten Teller“ daneben lockten Marzipanfiguren, Pfefferkuchen, Mandeln und Rosinen. Als ganz besonderes Geschenk prangten auf dem Tisch Schachteln mit den damals zwischen Weichsel und Memel allgemein bekannten Heiligenbeiler Spielsachen aus gedrechseltem Kaddigholz.

 

Im Jahre 1848 sah man im Ostpreußenland die Weihnachtsbäume mit „Knastergold“, bunten Papierketten, mit Schaumgold überzogenen Äpfeln und Nüssen und Wachslichtern geschmückt. Die einlassbegehrenden Kinder pochten an die Tür und baten: „Heil'ger Christ wir flöten, trommeln und trompeten: Bring uns doch was Schönes mit, lieber, guter, heil‘ger Christ“. Drauf gaben die Eltern ein Klingelzeichen, und herein stürzte die muntre Kinderschar, sagte ein Gedicht auf und langte die begehrten Geschenke von den Christbaumzweigen. Ganz anders wurden nach dem Bericht des französischen Gesandten Charles Ogier die Danziger Patrizierkinder im Jahre also mitten im Dreißigjährigen Krieg, beschenkt: Am Heiligabend stellten sie Körbe und Schüsseln auf den Tisch und gingen zu Bett. Waren sie dann im wohligsten Schlaf, dann kamen der Diener oder die Wärterin heimlich in ihr Zimmer und legten die Christgeschenke ab. Beim Hin- und Hereilen läuteten sie mit den kleinen Glöckchen, die sie an ihre Füße gebunden hatten, und — mit Staunen erwacht, griffen die Kinderhändchen im Dunkeln neugierig nach den Himmelsgaben des „Christkindchens“.

 

Zu jedem richtigen ostpreußischen Weihnachtsfest gehörten in alten Tagen die „Sternsinqer“, bunt kostümiert sagten sie vor der Tür oder bei eisigem Winterwetter am molligen Ofen ihren Vers her: „Wir treten herein ohn allen Spott, einen guten Abend den geb euch Gott ..“ und heischten ihre Gaben. So, war es schon vor Jahrhunderten. Im Staatsarchiv Königsberg fand ich einmal alte Schriftstücke aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg, die uns erzählen, wie die preußischen Staatsbehörden, die Königsberger Räte und die Geistlichkeit gegen diese uralte Sitte mit Verbissenheit ankämpfen. 1655 hätten, so heißt es da, etzliche personati, so dem heylichen Christ repraesentiren wollen, bey Jetzigen abendzeiten sich auf den Gassen finden lahsen“ und „allerhand Narrenteidung verübet und grobe abgötterey begangen“. Man solle gegen sie einschreiten, verlangte die Regierung. 1677 und 1685 waren die Behörden wieder ungehalten, dass Gruppen verkleideter Personen am Weihnachtsabend in den drei Städten Königsberg mit einem Stern von Haus zu Haus umgingen und „in einem Spiel allerhand obscena und ärgerliche Dinge trieben“.

 

Das eingewurzelte Weihnachtsbrauchtum konnte zwar vorübergehend unterdrückt, nicht aber ausgerottet werden. So hören wir denn, dass 1727 in Wehlau „das sogenannte Heil-Christ-Spiel“ mit festlichem Aufzug gespielt wurde, und “diese Alfanzerey“ nicht mehr geduldet werden sollte, bei Androhung leiblicher Strafe. Einige Sternträger waren von der Wache denn auch arretiert worden. Man forschte eifrig nach dem Urheber dieses Brauches; es war der Erzpriester Heiligendorf, der auch den Text zu dem Spiel geschrieben hatte. Schulkinder hatten 1729 Krone, Flügel und Zepter gebastelt, und unter Führung des Rektors zogen sie jedes Jahr Weihnachten singend und Gaben heischend durchs Städtchen. Nun sollte endlich „dieser Greul mitten unter denen, welche Christen heißen“, nicht ferner geduldet werden. Recht eigenartig trieb man es mit dem Weihnachtssingen vor 1790 in Friedland. Die Schulkinder stiegen, geführt von ihrem Lehrer, auf die „Lucht“ der Kirche und sangen durch eine Öffnung im Gewölbestern des Mittelschiffs der Stadtkirche: „Vom Himmel hoch, da komm ich her ...“ Um 1848 waren es im Samland die Kantoren, die mit ihren Schulkindern „mit dem Stern umgingen“ und die Geburt des Christkindes allen Dorfeinwohnern verkündeten. Man hing den Schulgewaltigen deshalb den derben Spottvers an: „Roll, roll, roll, de Kanter össe Boll. De Kinder sonn de Narre, so goane mött em blarre“. In Königsberg drehten die Schulkinder bei ihrem weihnachtlichen Umgang während des Gesangs vot den Häusern einen Stern, den sie aus buntem Papier gefertigt mit Bildern beklebt und grell bemalt hatten. Durch Wachslichter wurde die Sterntrommel von ihnen magisch beleuchtet. In Insterburg zogen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die Weisen aus dem Morgenlande in weißen Kleidern, roten Schürzen und mit Ritterbändern geschmückt umher und trugen in den Händen mit Kreuz und Kugel gezierte Schäferstäbe. Im Memelgebiet sangen in jener Zeit die „Ansinger“ am Heiligabend von Sonnenuntergang bis 11 Uhr nachts ihre Weihnachtslieder.

 

Zum Weihnachtsfest gehörte selbstverständlich Musik. Und so blies denn alljährlich am Heiligabend der Stadtmusikus mit seinen Gesellen vom hohen Kirchturm oder von der Empore des Rathauses herab mit Posaunen, Hörnern und Zinken die frommen Lieder der Weihnacht. Ende des 18. Jahrhunderts sprach der Stadtmusikus in Braunsberg bei seinem Umzug durch die Stadt Glückwünsche aus, empfing dann ein Glas Branntwein und sammelte Gaben ein. In neuerer Zeit zog die Stadtkapelle feierlich blasend durch die winterlichen Straßen. Die jungen Burschen von Wolfsdorf bei Korschen hatten sich noch etwas ganz Besonderes ausgedacht. Sie schlugen, wie uns der Danziger Zwicker in seiner Chronik von 1701 berichtet, mit hölzernen Hämmern abwechselnd im Takt an die Kirchglocken und mahnten durch dieses „Bömmern oder Beyern“ die Dorfeinwohner, an das Christkind zu denken.

 

Der Mittelpunkt des städtischen Weihnachtstreibens war ehedem der Christmarkt. In Danzig wurde er um 1705 an der Pfarrkirche bis um Mitternacht gehalten, und das junge Volk trieb da viel Unfug. Besonders beliebt war das Schrecken mit absonderlichen Masken. Der Rat ließ deshalb am Artushof ein Edikt anschlagen, dass alle Krambuden um 7 Uhr abends abgebrochen werden müssten und aller Lärm und Unfug bei 10 Reichstalern Strafe verboten sei. In Elbing strömten um 1820 am Heiligabend alle Leute, die kein festliches Heim ihr eigen nannten, aus den Vorstädten und umliegenden Dörfern zum Weihnachtsmarkt, um sich dort zu vergnügen und einen Schwips anzutrinken. Auf dem Christmarkt gab es auch seltene und schöne Sachen zu kaufen. So stellten z. B. die Töpfer von Neidenburg um 1820 tönerne Pfeifen und komische Figuren und die Bäcker Formengebäck und Pfefferkuchen aus. In den Schaufenstern prangten zuweilen auch seltsame Schaustücke. Der bekannte Königsberger Philosoph und Schriftsteller Karl Rosenkranz sah z. B. 1842 bei der italienischen Konditorei Pomaty ein essbares Modell der Dresdener Eisenbahn und bei Zappa die Juliussäule aus lauter Marzipan.

 

Weihnachten war ehedem für die Zünfte und Bruderschaften die Zeit fröhlicher Zechgelage. So setzten die Biener (Imker) von Ortelsburg bereits im Geburtsjahr Luthers fest, dass alljährlich zum Weihnachtsfest im fröhlichen Kreise in ihrer Herberge der selbstgebraute Met, eine Art „Bärenfang“, in schweren Humpen gereicht wurde. Die Schuhmacher Königsbergs blieben sogar bei gemütlichem Umtrunk und Würfelspiel Abend für Abend bis Neujahr in ihrer Zunftstube beisammen. Wie sehr wird man es da bedauert haben, dass 1564 wegen der Pest alles Zechen in der Weihnachtszeit den Königsberger Gilden vom Rat untersagt wurden.

 

Weihnachten war auch die geeignete Zeit, an Beamte, Bedienstete und Gesinde Geschenke der Anerkennung für bewiesene Arbeitstreue darzureichen. Dem Burggesinde der Marienburg schenkte man um 1415 ein „klein Oppergeld“, damit sie beim weihnachtlichen Kirchgang ihr Scherflein in die Opferbüchse werfen oder bei der Wallfahrt im Sommer ein Geldopfer darbringen konnten. Den Ratsmitgliedern und Schöffen der Städte überreichte man im 15. Jahrhundert ein Stück Wild oder Reb- und Birkhühner sowie eine Kanne Wein, damit sie sich daran gütlich tun möchten. In Graudenz hatte sich die Gewohnheit herausgebildet, den Geistlichen zum Christabend „Korinthenplatzen“ eine Art Striezel, ins Haus zu senden, und die Pfarrer im Danziger Werder bedachten die großen Bauern mit trockenen Schweinsköpfen, Schweinefüßen, Bratwürsten, Erbsen, Broten und Talglichten.

 

Reicher Aberglaube rankte sich früher um das ostpreußische Weihnachtsfest. Der samländische Bauer legte vor hundert Jahren seinem Vieh kleine Mehlteigkuchen in die Krippe, damit es fortan gut gedeihen möge, dem Geflügel streute er Erbsen und Weizenkörner hin, die er beim Weihnachtsgottesdienst in der Tasche getragen hatte. Zur Abwendung, des drohenden Hexenzaubers malte er Kreuze an Haus- und Stalltüren. Er feuerte eine Flinte im freien Felde ab, damit nicht der Wolf im nächsten Jahre in seine Herde einbreche. Im Pregelquellgebiet suchte der Bauer noch vor 70 Jahren einen Hahn zum Schreien zu bringen, um dadurch das Nahen unholder Wesen abzuwehren. In katholischen Gegenden ließ er Hafer vom Priester mit Weihwasser sprengen; unter das andere Getreide gemischt, verhütete er Misswachs und Unkrautwuchs.

 

Diese kurze Wanderung durch 500 Jahre ostpreußischen Brauchtums der Weihnachtszeit hat uns dargetan, wie vielgestaltig die Sitten und Gewohnheiten in unserer Heimat beim schönsten Fest des Jahres waren. Wie vieles wurde auch noch als treues väterliches Erbe bis zum letzten Kriege geübt. An euch, Landsleute, liegt es nun, dieses althergebrachte Vätererbe auf dem neuen Fleckchen Erde, auf das euch die wütende Woge der Kriegsflut verschlagen hat, besorgt zu hüten und euren Kindern und Enkeln zu treuen Händen zu übergeben.

 

 

Seite 2   Kampf um die soziale Ordnung. Im Zeichen der großen Auseinandersetzung zwischen Ost und West. Von Staatssekretär Franz Thedieck, Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen.

Das Ringen um die Wiedervereinigung Deutschlands ist nach dem ergebnislosen Verlauf der Genfer Konferenz in ein neues Stadium getreten. Das Stichwort für dessen neuen Abschnitt in der Auseinandersetzung um die Wiedervereinigung wurde von den Sowjets schon nach der ersten Genfer Konferenz ausgegeben und jetzt in Genf mit Nachdruck proklamiert. Es lautet: Die sozialen Errungenschaften der sogenannten DDR müssen bei einer Wiedervereinigung nicht nur in der SBZ bestehen bleiben, sondern auf ganz Deutschland übertragen werden. In Genf hat sich klar herausgestellt: Die Sowjets interessieren nicht mehr freie Wahlen oder militärische Neutralität oder selbst ein völlig entmilitarisiertes Deutschland. Sie haben vielmehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Entscheidungsschlacht in Deutschland und damit in Europa auf der sozialen und wirtschaftlichen Ebene gesucht und nach ihrer eigenen Meinung für den Osten gewonnen werden soll. Sicher heißt das nicht, dass die Sowjets statt Panzer nun nur noch Traktoren produzieren oder die Atomenergie nur noch für friedliche Zwecke verwenden werden. Aber noch weniger heißt das, dass die Unterminierungsversuche der Kommunisten im Westen aufhören werden. Im Gegenteil ist uns voll bewusst, dass gerade im Zuge dieser neuen Zielsetzung die Sowjets alles daransetzen werden, die politische und soziale Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland zu untergraben, wo immer sie es nur können.

 

Die große Auseinandersetzung zwischen Ost und West, die unsere Zeit beherrscht, wird darum mehr denn je zu einem Kampf um die soziale Ordnung werden. Mit großem Optimismus verkünden die Kommunisten den unabwendbaren Sieg ihres gesellschaftlichen Systems über die Staats- und Wirtschaftsordnung des Westens. Wir sind davon überzeugt, dass sie auch alles daransetzen werden, ihr System den Menschen des Westens gegenüber nicht nur so anziehend wie möglich darzustellen, sondern auch für die Menschen in ihrem Machtbereich erträglicher zu gestalten.

 

Im Juli dieses Jahres hat der sowjetische Ministerpräsident gefordert, die westliche Forschung und die industrielle Entwicklung in den sogenannten kapitalistischen Ländern müsse sorgsam studiert werden, und schon reisen Delegationen von Fachkräften jener Industriezweige, denen im Zuge der Rationalisierung, Modernisierung und Atomarisierung große Bedeutung zukommen, nach Westeuropa. Betriebe, Kraftwerke, Hüttenwerke, bautechnische Einrichtungen werden eingehend besichtigt und das Wissenswerte sorgfältig niedergeschrieben. Dabei fällt kein Wort von der Überlegenheit der sowjetischen Wirtschaft. Es heißt nicht mehr wie auf so manchem Spruchband der Sowjetzone: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“. Die neue Parole scheint zu lauten: „Vom Westen lernen, heißt siegen lernen“. Ziel dieser neuen sowjetischen Maßnahmen ist es ganz offenbar, die Wirtschaft im Ostblock konkurrenzfähig zu machen und die sogenannten kapitalistischen Länder auf diesem Gebiet zu erreichen oder gar zu überflügeln.

 

Für uns hier im Westen wäre es müßig und gefährlich zugleich, wollten wir diese sowjetischen Ziele mit der Bemerkung abtun, dass man doch drüben dieses Ziel sicher nicht erreichen wird, und es wäre gefährlich, wollten wir uns einfach auf dem Schlummerkissen der sozialen Marktwirtschaft ausruhen. Es geht nämlich gar nicht um die Frage ob es den Sowjets gelingen wird, wirklich ihre wirtschaftlichen Verhältnisse attraktiver zu gestalten als bisher, sondern die Aufgabe, die uns gestellt ist, kann nur so verstanden werden, dass wir in der schicksalhaften Auseinandersetzung zwischen Ost und West aufgerufen sind, den Wert unserer eigenen Ordnung in ideeller und materieller Hinsicht zu beweisen.

 

 

Seite 2   Gedankenlosigkeit in der Bundesrepublik.

Zu solchen Überlegungen regen uns manche Gespräche an, die wir in diesen Tagen mit Besuchern aus der sowjetischen Zone bei uns zu führen Gelegenheit hatten. Viele Menschen aus der sowjetischen Zone, die sich hier bei uns umschauen, sehen zwar den unerhörten Unterschied des Lebensstandards hier im Vergleich zu Mitteldeutschland. Sie sehen auch das erstaunliche Pulsieren unseres wirtschaftlichen Lebens. Aber es fällt ihnen oftmals auf, wie gedankenlos viele Menschen hier in der Bundesrepublik in den Tag hineinleben, wie selbstverständlich ihnen der hohe soziale und wirtschaftliche Standard geworden ist und wie wenig bewusst den Menschen hier ist, dass das alles, was ihnen so selbstverständlich erscheint, nicht nur verteidigungswert ist, sondern auch in der geistigen Auseinandersetzung mit den Unterminierungsversuchen aus dem Osten wirklich verteidigt werden muss. Und viele Menschen aus der Sowjetzone gehen deshalb — wir wissen das genau — bedrückt nach Mitteldeutschland zurück. Sie, denen das Leben hier in seinen äußeren Erscheinungsformen manchmal geradezu paradiesisch erscheinen will, vermögen es nicht zu verstehen, dass der hohe materielle Standard oft so wenig Zufriedenheit und ideelle Verteidigungsbereitschaft hervorruft. Sie erwarten dabei nicht ein materielles befriedigt sein im Sinne einer phäakenhaften Lebensbetrachtung — auf die stoßen sie leider hier mehr, als es gut ist — sondern sie sehen es lieber, dass die Einwohner der Bundesrepublik ein waches Bewusstsein dafür hätten, dass die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, die breiten Schichten hier, zweifellos mit viel Arbeit, Fleiß und Energie, zu einer bemerkenswerten Lebenshaltung verholten haben, der Ausfluss einer Staats- und Wirtschaftsverfassung sind, die erstrebens- und verteidigungswert erscheinen sollte. Es muss die Besucher der sowjetischen Besatzungszone notwendig oftmals mit Sorge erfüllen, wenn sie sehen, dass die — zehn Jahre nach einem verlorenen Krieg sicher staunenswerte — Befriedigung der materiellen Bedürfnisse in weiten Kreisen der Bevölkerung die Menschen nicht sonderlich zufrieden gemacht hat, und dass viele, denen es objektiv gut geht, sich dennoch scheuen, dies auszusprechen. Die Menschen aus der Zone, die sich bei uns wachem Auges umschauen, stellen häufig genug mit Überraschung fest, wie merkwürdig resigniert viele Menschen hier bei uns darauf verzichten, die als überlegen anerkannte wirtschaftliche und soziale Ordnung der Bundesrepublik auch in der geistigen Auseinandersetzung zu verteidigen und für unsere

Formen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens zu werben. Es würde für sie eine ganz andere Herzensstärkung bedeuten, wenn sie hier bei uns mehr auf Menschen stießen, die entschlossen sind, für diese unsere freiheitliche Wirtschafts- und Sozialordnung, die ihnen einen relativ hohen Lebensstandard und vor allem ein Leben in einer gesicherten Freiheit verbürgt, mit kämpferischem Elan einzutreten.

 

Aber wir glauben, dass die Parole von der Notwendigkeit der Bolschewisierung ganz Deutschlands, die der Osten nun auf seine Fahnen geschrieben hat, die Menschen hier bei uns in der Bundesrepublik doch endlich aufhorchen lässt. Der Ruf, der aus dem Osten ertönt, die sozialen Errungenschaften müssten nicht nur in der sowjetischen Zone erhalten, sondern auf Gesamtdeutschland ausgedehnt werden, wird mehr als bisher zum kritischen Vergleichen Anlass geben zwischen dem, was in der Zone soziale und wirtschaftliche Wirklichkeit ist, und was bei uns die Basis unserer wirtschaftlichen und sozialen Leistungen darstellt. Für die überwältigende Mehrheit der Sowjetzone gibt es sicher keinen Zweifel darüber, welchem System sie den Vorrang geben, und wenn in freier Entscheidung über die Sozial- und Wirtschaftsordnung eines wiedervereinigten Deutschlands gerungen wird, wird von dem, was sich in der Sowjetzone entwickelt hat, sicher nicht sehr viel Bestand behalten. Wenn hier und da in diesen jetzt stärker aufflammenden Diskussionen bei uns davon gesprochen wird, dass diese oder jene „Errungenschaft“ des sowjetischen Besatzungsbereichs für uns vielleicht doch akzeptabel sei, und dass viele Maßnahmen, die dort von den Kommunisten getroffen wurden, als endgültig hingenommen werden müssten, so empfinden die Menschen in der sowjetischen Zone selbst am stärksten, welche Gefahren in solchen Überlegungen liegen. Gewiss, niemand wird leugnen, dass manche Fakten, die in zehnjähriger Besatzungszeit von dem totalitären bolschewistischen System geschaffen wurden, nicht ohne weiteres beseitigt werden können. Aber es wird doch unsere gemeinsame Aufgabe bei der Wiedervereinigung sein, auch Tatsachen, die man nicht ohne weiteres ungeschehen machen kann, ihres Unrechtscharakters zu entkleiden. Ich bin davon überzeugt, die Menschen in der Zone erwarten von uns, dass wir sehr zurückhaltend sind in der Frage, welche dieser sogenannten „Errungenschaften“ wirklich wert sind, erhalten zu bleiben. Sie erwarten von uns ganz sicher, dass wir in der geistigen Auseinandersetzung mit den Kräften des Ostens nicht resignieren, sondern darum kämpfen, unsere überlegene Wirtschafts- und Sozialordnung für ganz Deutschland zur Durchsetzung zu bringen. Damit soll sicher nicht gesagt sein, dass bei uns alles in Ordnung ist und nicht noch viel zu tun übrig bleibt. Aber bei der Diskussion der besseren Gestaltung unseres sozialen Systems werden wir mehr als bisher von dem Bewusstsein erfüllt sein müssen, dass unsere soziale Ordnung zwar nicht vollkommen genug sein kann, dass sie aber schon jetzt der Ordnung, wie sie die Kräfte des Ostens im mitteldeutschen Raum geschaffen haben, haushoch überlegen ist, und dass wir alles daransetzen müssen, damit unsere auf Freiheit und Menschenwürde aufgebaute Sozialordnung zur Grundlage eines in Freiheit wiedervereinigten Deutschland wird.

 

 

Seite 2   Manteuffel wiedergewählt.

Am 19. und 20. November 1955 fand in München die Sprecherversammlung des Verbandes der Landsmannschaften statt, an der unter anderem teilnahmen:

 

Abgeordnete des Bundestages und des Bayerischen Landtags, Vertreter der Bundesregierung, der Präsident des Ostdeutschen Kulturrats, Dr. Georg Graf Henckel von Donnersmark, MdB, Vertreter der Landesverbände der Vertriebenen aus Berlin und Hamburg sowie der Landesgruppen des Verbandes der Landsmannschaften.

 

Das Präsidium erstattete Bericht über seine Tätigkeit im abgelaufenen Geschäftsjahr.

 

Universitätsprofessor Dr. Dr. Hans Koch, Sprecher der Landsmannschaft Weichsel-Warthe, der der Delegation der Bundesregierung bei den Verhandlungen in Moskau angehörte, gab einen eindrucksvollen Bericht über seine Beobachtungen in Moskau. Im Anschluss daran berichtete Axel de Vries, Sprecher der Deutsch-Baltischen Landsmannschaft, über seine Eindrücke von der eben abgeschlossenen Konferenz der Außenminister in Genf.

 

In der sich an diese Berichte anschließenden Aussprache kam die Erkenntnis der Gefahr zum Ausdruck, die aus dem Verhalten von Moskau dem deutschen Volk erwächst und die Entschlossenheit, in den Reihen der Landsmannschaften aufklärend zu wirken, um jedes Eindringen der kommunistischen Idee zu verhindern.

 

Die Sprecher beschäftigten sich weiter eingehend mit den Fragen der Familienzusammenführung der Kriegsgefangenen und der Verschleppten.

 

Nach Behandlung von kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und organisatorischen Fragen wurde als letzter Punkt zur turnusmäßigen Wahl des Vorsitzenden des Verbandes geschritten. In der geheimen Abstimmung entfielen auf den bisherigen Vorsitzenden, Dr. Georg Baron Manteuffel-Szoege, MdB, von insgesamt 53 Stimmen 39, bei 13 weißen Stimmzetteln.

 

 

Seite 2   Antragsfrist für Kriegsentschädigungs-Renten.

Geschädigte im Sinne des Lastenausgleichsgesetzes (Vertriebene, Kriegssach- und Währungsgeschädigte) können bis 31.12.1955 rückwirkend ab 01.04.1952 Kriegsentschädigungsrente beantragen. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller am 01.04.1952 mindestens 65 Jahre, die Antragstellerin 60 Jahre alt war. Das gegenwärtige Einkommen (auch Pension, Renten usw.) darf monatlich 250 DM, bei Verheirateten 325 DM nicht überschreiten. Unmittelbarer Verlust von Grund-, landwirtschaftlichem, Betriebsvermögen oder Währungsschaden nach dem LAG muss angemeldet sein. Schließlich darf der Antragsteller z. Zt. nicht über 5000 DM Vermögen haben. Die gleichen Bedingungen gelten für Personen — unabhängig vom Alter — die am 01.04.1952 dauernd über 50 Prozent arbeitsunfähig waren. Wer bereits Entschädigungsrente erhält, braucht keinen neuen Antrag einzureichen, da die Vergünstigungen des vierten Änderungsgesetzes vom zuständigen Amt durch Neuberechnungen berücksichtigt werden.  

 

 

Seite 2   Fristablauf am 31. Dezember 1955.

Rückwirkende Zahlung von Witwen- oder Waisenrente nach dem Fristengesetz vom 13. November 1952. Am 26. Juli 1955 wurde das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Ablauf der durch Kriegsvorschriften gehemmten Fristen in der Sozial- und Arbeitslosenversicherung verkündet. Hierin ist bestimmt, dass die Ausschlussfrist des § 2 des Fristengesetzes (30.06.1955) bis zum 31. Dezember 1955 verlängert wird. Dadurch haben Kriegerwitwen und -waisen die Möglichkeit, nachträglich die Hinterbliebenenbezüge aus der Sozialversicherung vom Zeitpunkt des Todes bis zur ersten Antragstellung zu erhalten, wenn der Todestag des Ehemannes bei der ersten Antragstellung bereits festgestellt war und der Antrag auf Nachzahlung der Rente bis zum 31. Dezember 1955 gestellt wird. Die Ausschlussfrist — 31. Dezember 1955 — gilt nicht in den Fällen, in denen weder eine Todesnachricht, eine Todeserklärung noch eine gerichtliche Feststellung des Todestages zur Zeit vorliegt; diese Ausschlussfrist gilt selbst dann nicht, wenn eine Verschollenheitsrente nach der Reichsversicherungsordnung (§§ 1259/1260) gezahlt wird. Trifft in diesen Fällen die Todesnachricht zu einem späteren Zeitpunkt ein oder wird der Tod später gerichtlich festgestellt oder der Vermisste für tot erklärt, so ist der Antrag stets vor Ablauf des Kalenderjahres zu stellen, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die obengenannten Feststellungen getroffen wurden.

 

Kriegsschadenrente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Anträge auf Kriegsschadenrente nach dem Lastenausgleichsgesetz können nur noch bis zum 31.12.1955 gestellt werden. Voraussetzung ist jedoch, dass die Erwerbsunfähigkeit bis zum 31.08.1953 eingetreten ist.

 

Lohnsteuerermäßigung infolge außergewöhnlicher Belastung.

Nach den Lohnsteuerrichtlinien des Jahres 1955 haben Heimatvertriebene nach Fortfall des bisherigen Freibetrages die Möglichkeit, eine außergewöhnliche Belastung geltend zu machen. Als außergewöhnliche Belastung kommen in der Hauptsache zwangsläufig entstehende Aufwendungen durch Krankheit, Tod und Unterhalt bedürftiger Angehöriger oder eine auswärtige Unterbringung des in Berufsausbildung befindlichen Kindes sowie in bestimmten Fällen, beispielsweise bei Vertriebenen, Spätheimkehrern und Totalgeschädigten Aufwendungen zur Wiederbeschaffung von verlorenem Hausrat und verlorener Kleidung in Betracht. Die Aufwendungen für die Wiederbeschaffung von Hausrat und Bekleidung stellen eine außergewöhnliche Belastung dar, wenn diese durch ein unabwendbares Ereignis, wie Kriegseinwirkung, Brand, Diebstahl, Beschlagnahme durch eine frühere Besatzungsmacht, politische Verfolgung usw. verlorengingen und wieder beschafft werden müssen. Voraussetzung ist, dass diese Aufwendungen notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen. Diese Voraussetzung dürfte — vor allem bei den Vertriebenen — in jedem Falle erfüllt sein. In allen Anträgen ist darauf hinzuweisen, dass es sich um eine Wiederbeschaffung, nicht um eine Ergänzungsbeschaffung handelt.

 

Ausgaben zur Tilgung von Schulden können ebenfalls als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt werden, wenn die Schuldaufnahme durch Ausgaben veranlasst worden ist, die eine anzuerkennende außergewöhnliche Belastung darstellen und eine Steuerermäßigung dafür noch nicht gewährt werden konnte. Das gleiche gilt, wenn die Verschuldung auf zwangsläufige Arbeitslosigkeit zurückzuführen ist. Ist ein Heimatvertriebener also gezwungen, zur Wiederbeschaffung von Hausrat und Kleidung ein Darlehen aufzunehmen, so stellt diese Schuldenlast eine anzuerkennende außergewöhnliche Belastung im Sinne der Lohnsteuer-Richtlinien dar. Die Finanzämter haben im verflossenen Jahr die Schuldenabtragung nicht anerkannt, und so blieb den Antragstellern eine oft beträchtliche Lohnsteuerermäßigung versagt. Nun aber sind die Finanzämter ermächtigt, die Lohnsteuerermäßigung durchzuführen. Sofern also noch kein Lohnsteuerermäßigungsantrag aus Anlass der Wiederbeschaffung von Hausrat und Kleidung gestellt worden ist, empfiehlt es sich dringend, dies noch bis zum Jahresende zu tun. Sofern auch noch im Jahre 1956 Schulden abgetragen werden müssen, ist auch für das Kalender jahr 1956 ein Lohnsteuerermäßigungsantrag wegen „außergewöhnlicher Belastung“ zu stellen. H. W.

 

 

Seite 2   Noch 283 086 in Massenlagern.

Zehn Jahre nach dem Krieg gibt es in der Bundesrepublik noch 2573 Lager, in denen 283 086 Menschen leben, bei denen es sich meist um Empfänger von Kriegsfolgehilfe handelt, teilt der Reichsbund der Kriegs- und Zivilgeschädigten in Bonn mit. Mehr als 100 dieser Lager sind Massenquartiere, die mit 500 bis zu 1000 Insassen belegt sind. In den übrigen Lagern leben zwischen 20 und 500 Menschen.

 

 

Seite 2   Flüchtlingslager überfüllt.

Der starke Flüchtlingsstrom aus der Sowjetzone hat zu einer Überfüllung der von Nordrhein-Westfalen unterhaltenen Lager geführt, die mehr Insassen als im Vorjahr zählen. Vom 1. Januar bis 30. September dieses Jahres hatte das Land 50 000 Flüchtlinge aufzunehmen, die bis zur Einschleusung in die Gemeinden größtenteils längere Zeit in Lagern leben müssen. Zurzeit werden rund 50 000 Menschen in 24 Lagern betreut, davon 36 000 außerhalb des Landes. Die Verhältnisse verschärfen sich infolge der schleppenden Wohnungszuweisung, so dass sich der Lageraufenthalt verlängert. Mit 43 Prozent hat Nordrhein-Westfalen den höchsten Prozentsatz der Flüchtlinge aufzuweisen.

 

 

Seite 2   357 018 Heimatvertriebene umgesiedelt.

Seit Beginn der Umsiedlungsaktion am 1. April 1949 bis Ende Oktober 1955 wurden 357 018 Heimatvertriebene von Schleswig-Holstein in die Flüchtlingsaufnahmeländer des Bundesgebietes umgesiedelt. 177 951 von ihnen hat allein Nordrhein-Westfalen aufgenommen und 98 354 Umsiedler fanden in Baden-Württemberg eine neue Heimat.

 

 

Seite 3   Unterwegs bei ostpreußischen Betrieben. Tullas, Blutgeschwür und Elefantendoups.

Foto: Hotel Hardthof in Köln-Dünnwald.

Foto: Das Fabrikgebäude (Weinbrennerei) auf dem Mitteltragheim in Königsberg

Foto: Ostseebad Cranz: Hotel zum Elch (Besitzer Aug. Alb. Winkler)

Foto: Die bekannte Winklerstube in der Burgstraße zu Königsberg.

Bei August Albert Winkler im „Hardthof“ in Köln-Dünnwald — 46 Jahre Winkler-Tradition — Vom Habenichts zum Mann mit 2,6 Millionen Lastenausgleichsansprüchen.

 

Wer kennt sie nicht, die Winkler-Stuben in Königsberg? Sieben Stück waren es: Burgstraße, Steindamm/Ecke Hohenzollernstraße, Steindamm 117/118, Hufenallee 57/59, Vorderroßgarten 16, Rippenstraße 37, Kneiphöfische Langgasse (Spatenbräu). Nun, die Erinnerung an sie lebt in unzähligen Gedichten, die von „Dichtern“ in das Gästebuch des heute 71-jährigen geschrieben sind.

 

„In Königsberg vor 45 Jahren

Hab' als Student ich oft erfahren,

Bei Winklers Bier und Schnaps und Grog

Versoff man gern sein Hemd und Rock.

„Hermännchen“ wusste aller Namen,

Die ach so gern zu Winkler kamen,

Auch wusste er, wo man aktiv,

Wo sonst man sumpfte, wo man schlief,

Bei Winkler war man wie zuhaus,

Ist das nun wirklich alles aus?

Nein, nein und immer wieder nein,

Das kann, das darf, das wird nicht sein.

Es kommt der Tag, ich wünschte ihn uns allen,

An dem wir frei nach Osten wallen.

Dann mög ein neuer Winkler dort erstehn,

Zu dem wir wieder gern und glücklich gehen“.

 

Ein anderer schreibt hinein:

 

„Lieber Freund, ich rate Dir,

Bleib Winkler treu, bei Fleck und Bier!“

 

Und in einem dritten liest man folgende Verse:

 

Königsberg, du Stadt am Pregel,

alles schimpft auf deinen Dreck

aber keiner denkt zu gnaddern über Königsberger Fleck.

Bowkes, Lachodders und auch Buben

suchten auf die Winkler-Stuben,

Ist dir Köln am Rhein auch neu,

so bleiben wir doch der Heimat treu!“

 

Der 71-jährige könnte heute schon seine Hände in den Schoß legen und sich von seiner Lebensarbeit ausruhen. Aber er will noch schaffen. Das liegt ihm so im Blut, als er als 14-jähriger den kleinen elterlichen Bauernhof verließ, um sich in Königsberg eine Lehre zu suchen. Er entschied sich für die Weinbrennerei. 1909 konnte er das Stammhaus in der Burgstraße gründen, wo das „Hermännche“ sein Reich hatte und ungezählten Studenten treuer Freund, Helfer und Ratgeber war. Mit nichts hat er angefangen. An seinem Lebensabend betragen seine Lastenausgleichsansprüche 2,6 Millionen D-Mark. Auf dem Mitteltragheim 36, schräg gegenüber der Staatsbibliothek, zwischen der Tragheimer Passage und dem Siemens-Haus hatte Winkler seine eigene Weinbrennerei, in der er seine zahlreichen ostpreußischen Spezialitäten herstellte. Denn neben Bier und Grog, dem ostpreußischen Maitrank, trank man in den Winkler-Stuben vor allem diese ostpreußischen Sachen mit den Namen „Tullas“, „Blutgeschwür“, „Bärenfang“, „Sturm mit Luft“, „Elefantendoups mit Setzei“, „Schneegestöber“, „Pillkaller Geenzlikör mit dem Schlagbaum“, „Koks“, „Silberstör“, „Nikolaschka“, „Sonnenschein“, „Klarer mit 'nem Punkt“, „Prärieauster“, „Danziger Goldwasser“ und „Kurfürsten“.

 

Dazu gab es als solide Unterlage auch gute, ostpreußische Küche. Am 1. Dezember 1955 findet im „Hardthof“ wieder so ein richtiges ostpreußisches Schlachtfest statt mit Keenigsberger Klops und Königsberger „Fleck“. Denn Winkler ist nicht mehr in der Händelstraße 37 in Köln, sondern er hat das Hotel „Hardthof“, Odenthaler Straße in Köln-Dünnwald übernommen und er will dort wieder eine echte, Winkler-Stube entstehen lassen. Man fährt mit den Omnibussen der Wupper-Sieg-Verkehrsgesellschaft vom Kölner Hauptbahnhof direkt vor den „Hardt-Hof“. Bequemer geht es also nimmer, wenn man wieder einmal die vertraute Atmosphäre der guten, alten Winkler-Stuben genießen, in dem Gästebuch, das so viele bedeutende und berühmte Königsberger Namen enthält, blättern und vor allem sich mit dem heute 71-jährigen Inhaber unterhalten will bei Tullas, Blutgeschwür, Bärenfang und Elefantendoups. Und er kann viel erzählen, der liebe Herr Winkler. Ungefähr 120 Angestellte hatte sein Unternehmen, dem er in Cranz in der Königsberger Straße das Hotel „Königsberg“ mit Kino und an der Strandpromenade das „Hotel zum Elch“ mit dem Anker-Denkmal angegliedert hatte. Er zeigt Bilder von seinen Betrieben und man sieht wieder das ganze frohe Treiben am Cranzer Strand.

 

Und dann war 1945 auch für ihn alles aus. Er kam mit der „Cap Arcona"“nach Neustadt in Holstein und von da nach Bad Segeberg. Eine Tochter wurde von den Russen verschleppt. Ein 14-jähriger Sohn noch zum Volkssturm gepresst und ist seitdem vermisst. Dank seiner Kenntnisse in der Weinbrennerei hat er die Vorwährungszeit ganz gut überstanden. Auch seine Beziehungen zu Weingutsbesitzern kamen ihm zustatten. 1948 machte er sich in Bochum selbständig zusammen mit einem anderen, doch musste er sich von diesem wieder trennen, dann kam er nach Köln, wo er in der Händelstraße ein Lokal übernahm, doch war dort zu viel Betrieb. Aber hier an der Straße nach Altenberg und Wipperfürth hat er wohl das Richtige gefunden. Die Bedienung ist ein Mädel aus Treuburg (Masuren), wie es stolz unterstreicht.

 

Besonders stolz ist er auf sein Gästebuch, das vielen ungezählten Landsleuten zur Familienzusammenführung verholfen hat. Die Patenstelle der Stadt Duisburg hatte sich für die 700-Jahrfeier der Stadt Königsberg das Gästebuch ausgeliehen und hat über 300 Suchanzeigen auf Grund des Gästebuches leitbar machen können. Jedenfalls sollte keiner versäumen, der einmal in Köln ist, nach Köln-Dünnwald hinauszufahren und den „Hardt-Hof“ aufzusuchen. Allein der Genuss altvertrauter Spezialitäten auf der Speise- und Getränkekarte wird ihn reich belohnen. Und im „Gästebuch“ wird er so manchen lieben, alten Bekannten entdecken. Er wird jene Eintragung bestätigt finden:

 

„Winklerstuben einst im Ostpreußenland

jetzt zu Köln am Rheinesstrand,

egal, ob Ost, ob West,

in den Winklerstuben ist's am best“. bschl.

 

 

Seite 3   Das Weihnachtsfest einer alten Insterburgerin.

Sie wohnte in der Insterburger Siehrstraße. Vorher hatte man diesen Straßenzug „Königsberger Vorstadt“ genannt. Aber seitdem der eine Bruder der beiden bekannten Anwälte, die hier ihr Domizil hatten, Oberpräsident der Provinz Ostpreußen geworden war, schien das „Vorstadt“ etwas Anrüchiges zu haben, so dass man die Straße vom Amtsgericht ab Siehrstraße nannte. Dabei wohnten keineswegs nur arme Leute hier. Siehrs selbst waren durchaus das, was man wohlhabend nennen konnte. Auch unser Zeichenlehrer Lottermoser hatte hier ein mehrstöckiges Wohnhaus und der Lateinlehrer Dienelt konnte vom Fenster seines Arbeitszimmers in den Schulgarten der „Ludwig-Jahn-Schule“ schauen, in dem mein Bruder und ich uns im Sommer tummelten, dieweil mein Vater jahrelang Rektor dieser Schule war.

 

Na ja, und unsere Waschfrau Gattow wohnte auch nicht gerade zwischen armen Leuten. Ein Haus gehörte der Lehrerin Deike, die an der „Ludwig-Jahnschule“ angestellt war und mit einer ebenfalls schon ältlichen Kusine und einem Spitz ihr jungfräuliches Dasein meisterte, und das andere dem Gärtnereibesitzer Jean Figgel,, dessen zahlreiche Treibhäuser dem Jungen Respekt einflößten.

 

Und zwischen diesen beiden Gebäuden lag ein kleines, schmalbrüstiges Haus, in dessen Dachrinne man bequem hineingreifen konnte; denn wir, mein Bruder und ich waren für unser Alter sehr große, lange Schlackse. Durchquerte man dieses Haus, dann kam man auf einen ziemlich schlecht gepflasterten Hof, an dessen eine Seite ein kleines, winziges Nebengebäude sozusagen an das große Figgelsche angeklebt war.

 

Hier wohnte unsere Waschfrau, eine Witwe, die sich schlecht und recht, aber anständig und treu durchs Leben schlug, einem Leben, das ihr als einzige Freude einen Sohn gelassen hatte, ihren ganzen Stolz; denn er hatte eine Charge bei der Kriegsmarine. Vielleicht war er schon Maat oder etwas ähnliches.

 

Es war ihr ganzer Stolz und auch ihre ganze Sorge; es war Krieg geworden, und man schrieb Dezember 1917. Mein Bruder und ich hatten mit unserem Rodelschlitten die Wäsche abgeholt, sie hatte sie nicht selbst gebracht, für meine Mutter, die neben der peinlichen Sauberkeit vor allem auch die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit an ihr schätzte, ein untrügliches Zeichen, dass etwas „dazwischen gekommen“ sein musste. Nun, sie hatte einen schweren Rheumaanfall gerade überwunden und humpelte im Zimmer auf und ab. Aber sie war voll Freude, zum Weihnachtsfest sollte ihr Einziger zu Hause sein. Man hatte es ihr geschrieben. Dass es der Sohn nicht selbst getan hatte, fiel der alten Frau nicht auf.

 

Als meine Mutter das hörte, schickte sie einiges hinüber. Meine Mutter hatte sehr viele Verwandte auf dem Lande; denn sie war die Elfte von zwölf Geschwistern, die entweder selbst Bauern waren oder einen Bauern geheiratet hatten. Nur meine Mutter hatte ihren Kopf für sich gehabt und einen Lehrer genommen. So war sie kurz vor Weihnachten überall hingefahren und hatte ganz schön „gehamstert“, so dass sie auch der alten Waschfrau etwas abgeben konnte, um den Urlaub für ihren Einzigen recht schön zu gestalten.

 

Nach dem Gottesdienst in der Lutherkirche und der Bescherung zuhause durfte ich die Geschenke hinbringen. Mein Bruder, eine nicht totzuschlagende Leseratte, hatte sich auf die Bücher, die für ihn unter dem Baum gelegen hatten, gestürzt und für nichts anderes mehr Sinn. Mir machte es Freude, anderen Freude zu bereiten, und so schlenderte ich durch das spärlich erleuchtete Schützental am Eis-Klub vorbei, bog dann in die Ziegelstraße ein, um schließlich zur Siehrstraße und zum Häuschen der Witwe Gattow zu kommen.

 

Was mich stutzig machte, war, dass kein Lichterschein eines Weihnachtsbäumchens erstrahlte. Wir hatten einige selbstgezogene Lichte, wozu wir Aspirintablettenröhrchen verwandt hatten, hingebracht. Als ich anklopfte, kam die alte Frau heraus, herzzerreißend schluchzend. Ihr Sohn war gekommen, aber mit fremder Hilfe, eine Krankenschwester hatte ihn gebracht. Er war blind. Feindliche Gasgranaten hatten ihm das Augenlicht geraubt.

 

Zuerst wusste ich nicht, was ich überhaupt sagen sollte. Aber als die Krankenschwester auch hinauskam, fasste ich Mut und meinte, dass der liebe Gott ihren Sohn sicher wieder sehend machen würde. Auch die Krankenschwester sprach ihr Trost zu, die ärztliche Wissenschaft habe gerade auch im Kriege so viel neue Erfahrungen und Entdeckungen gemacht, vielleicht würde man auch ihrem Sohn helfen können.

 

Wir gingen zu dritt ins Zimmer, wo ich den Sohn begrüßte, Die Mutter erzählte ihm, wer ich sei und was mich zu ihnen geführt hätte. Die Waschfrau nötigte mich noch etwas zum Verweilen, und so bat ich den Blinden, mir doch von dem Leben auf den Schiffen zu erzählen. Ich hatte ein Buch von den tollkühnen Fahrten des Kreuzers Emden mit seinem tapferen Kapitän Mücke zu Weihnachten geschenkt erhalten, und nun sollte er mir berichten, ob das alles wahr sei und von der Skagerak-Schlacht musste er erzählen, an der er auch teilgenommen hatte, Und dann hat der Blinde erzählt und erzählt. Die Mutter hatte einen Grog gebraut, und Lichter brannten. Und zum Schluss haben wir noch Weihnachtslieder gesungen.

 

Zuhause aber sollte ich zuerst tüchtig Schelte bekommen, weil ich mich sehr verspätet hatte (ich sollte das Präsent doch nur abgeben und gleich wieder kehrt machen). Aber als ich das alles meinen Eltern erzählte, füllten sich die Augen meiner Mutter mit Tränen. Mir will heute erscheinen, als ob sie sich damals etwas enger an meinen Vater geschmiegt hat.

 

Der Sohn der Waschfrau aber blieb blind. Herbert Schlobies.

 

 

Seite 4   „Grenzen der Sowjetmacht“. Von Universitätsprofessor Dr. Wilhelm Starlinger – Königsberg. Erschienen im Holzner-Verlag Würzburg.

III. Fortsetzung

 

Zur Sache des „Kreuzzugs“ selbst war jedem Erfahrenen folgendes klar: 1. Kein Fabrikführer, der für seinen Plan mit seinem Kopfe steht, und kein Partorg (Parteiorganisator der betreffenden Fabrikbelegschaft), der zu- und gleichgeordnet zum Fabrikchef bei Nichterfüllung des Planes genauso zur Verantwortung gezogen wird, könnte daran denken, für diesen Kreuzzug aufs Land seine besten Techniker und Mechaniker abzugeben. Im Gegenteil würden beide Verantwortungsträger eine genaue Liste aller der Arbeiter aufstellen, die sie am leichtesten entbehren und am liebsten verlieren könnten. Die Liste würde dann in der Parteiversammlung durch die Akklamation derer (die nicht zu gehen brauchten) auf Vorschlag irgendeines Rekordisten (der sich vorübergehend opfern müsste) bestätigt und keiner der Betroffenen könnte etwas anderes tun als Begeisterung und Dankbarkeit dafür zeigen, dass die Wahl gerade auf ihn gefallen wäre. – So wäre es wenigstens bisher gewesen, wobei allerdings bedacht werden müsste, dass die Schwäche des Terrorinstrumentes um diese Zeit auch in der Fabrik nicht wirkungslos geblieben sein könnte. – 2. Wer aber nun tatsächlich „rückgeführt“ würde und sich auf dem Kolchos (dem er sich in der Fabrik bereits für immer glücklich entronnen dünkte) bei härterer Arbeit wirtschaftlich wesentlich schlechter stellen müsste, abgesehen davon, dass keinem stadtverwöhnten jüngeren Manne das bereits ungewohnte Dorfleben an sich behagen könnte, dessen tatsächliche Arbeitsleistung müsste entscheidend sinken und könnte nicht zur Verbesserung der ländlichen Produktion in dem Maße beitragen, der allein Krustschews Plan zu realisieren vermöge.

 

 

Der Plan Krustschews

Andererseits war es von Anfang an klar, dass der Ruf und die Stellung Krustschews im Falle eines Misserfolges seiner großen Planung entscheidend vermindert werden würden. Und es war interessant zu beobachten, dass der so stark angegriffene Landwirtschaftsminister im Amte blieb, dass also Malenkow im Sektor des Staates stark genug war, seinen im ZK derart bloßgestellten Gefolgsmann weiterhin zu halten. Es wurde von meinen Gewährsmännern für sehr wahrscheinlich gehalten, dass der Machtkampf zwischen K. und M. nicht zuletzt durch den Erfolg „ihrer beiden neuen Kurse“ ausschlaggebend beeinflusst werden könnte, wobei K. das Schwergewicht auf die Nahrungsversorgung durch die Besserstellung des Kolchos, M. auf die Konsumgüterversorgung durch die Ausgestaltung der Leichtindustrie verteilt habe.

 

Wenn aber nun trotz aller Gegenbedenken der Plan Krustschews durch eine entscheidende Hebung der ländlichen Produktionskraft und gleichzeitige Besserung der bäuerlichen Leichtgüterversorgung gelänge, wie könnte die Schwerindustrie den zu solchem Erfolge unabdingbaren Verlust eines großen Kontingents hochqualifizierter Fabrikarbeiter tragen, ohne in ihrer Produktionskraft eine entscheidende Schwächung zu erfahren? Sie müsste nicht nur auf den immer wieder als nötig betonten weiteren eigenen Aus- und Aufbau verzichten, sondern auch ihre Kapazität für die militärische Aufrüstung einerseits, die „Bruderhilfe“ Chinas andererseits entscheidend verringern. Eine Gefährdung der Rüstung aber könnte die Armee niemals dulden und eine Zurückziehung der Chinahilfe (auf die noch zu kommen sein wird) müsste die potentielle Fernostgefährdung rasch aktualisieren. Und schließlich müsste zu allem übrigen auch die Leicht- und Konsumgüterindustrie beschleunigt und entscheidend ihre Leistung erhöhen. Dieses verlangte nicht nur Malenkow, der seinen Kurs auf diesen Erfolg abstellte, indem er in seiner großen Programmrede bindend versprach: „Wir können und werden binnen zwei Jahren unsern Konsumgütermangel voll befriedigen“ — dieses musste auch Krustschew verlangen, wenn er dem Kolchos unter Verminderung der Preisschere bei erhöhter Produktion und so erhöhter Kaufkraft eine vermehrte Befriedigung seiner Bedürfnisse vermitteln will. — Woher aber sollte der Ausbau der Konsumgüterindustrie 1. qualifizierte Arbeiter nehmen, wenn nicht aus der Schwerindustrie, die ihrerseits ihren Mangel schon nicht befriedigen konnte und zudem zur Abgabe eines Kontingents an das Land gezwungen wurde, 2. die Rohstoffdecke gewinnen, die schon bisher für die Schwerindustrie zu kurz war?

 

Drei Engpässe.

Aus dieser kurzen Darlegung ergaben sich drei klare Engpässe: 1. In der Landwirtschaft, die zu Lasten der Schwerindustrie gestärkt und zu Lasten der Leichtindustrie besser versorgt werden sollte, 2. in der Schwerindustrie, die zugunsten der Landwirtschaft personell und zugunsten der Leichtindustrie personell und materiell geschwächt werden musste, 3. in der Leichtindustrie, die zugunsten des Allgemeinbedarfs, vor allem zugunsten der Landwirtschaft, aber auf Kosten der Schwerindustrie mit aller Kraft gefördert werden sollte und musste! — Politisch musste die Überwindung dieser Engpässe zudem noch dadurch erschwert erscheinen, dass an ihrer Überwindung die großen rivalisierenden Machtgruppen nicht nur in verschiedenem Maße, sondern sogar gegensätzlich interessiert waren. Sicher schien es jedenfalls den Gewährsmännern des Berichterstatters, dass eine grundsätzliche Überwindung aller Engpässe auf einem Wege wenigstens vorübergehend möglich, auf einem zweiten Wege aber vielleicht endgültig erreichbar wäre. Ihre Formulierung war die folgende:

 

1.     Wenn es gelänge (und beabsichtigt wäre), den absoluten und totalen Terror neuerdings aufzubauen, könnte man mit einem Schlage wieder Kirchhofsruhe herstellen, alle Wünsche nach Verbesserung der Lebenshaltung in Land und Stadt zum Schweigen bringen, jede gewünschte Menschenverschiebung zum Zwecke ihrer Arbeitsnutzung ohne Widerstand durchführen, selbst das Tempo der Ernährungsverbesserung verzögern und das der Konsumgüterproduktion ermäßigen, um auf keinen Fall die Schwerindustrie und Rüstung zu gefährden und die „Chinahilfe“ zu schwächen. Dem aber stünde, abgesehen von größten massenpsychologischen Schwierigkeiten, die (bereits ausgeführte) ganz einfache Tatsache gegenüber, dass eine wieder vollfunktionierende Tscheka Stalinscher Prägung nicht aufgebaut werden könnte, solange der Machtkampf zwischen den großen Rivalen nicht entschieden wäre. Bis zu dieser Entscheidung aber könnten noch Jahre vergehen, namentlich wenn Woroschilow noch länger lebte und mit ihm zusammen die übrige „alte Garde“ (Molotow, Kaganowitsch, Mikojan) noch eine Weile im vermittelnden, hinauszögernden Sinne „funktionierte“. Da aber die dargestellte Problematik zu drängend wäre, um ihre Lösung hinauszuschieben, wären alle Rivalen wahrscheinlich gezwungen, den zweiten, echten Weg der Engpassüberwindung wenigstens zu versuchen. — Dieser zweite Weg wäre doppelgleisig und müsste zum miteinander gekoppelten Ziele haben, einerseits auf Jahre hinaus eine sichere auswärtige Friedensgarantie zu erhalten (die es gleichzeitig erlaubte, die weitere Verstärkung der Rüstung zu vermeiden und die Chinahilfe ohne Gefahr zu drosseln), um mit ermäßigtem Tempo den Ausgleich zwischen Landwirtschaft, Leicht- und Schwerindustrie zu finden, andererseits den auswärtigen Handel mit aller Macht zu aktivieren, um Konsumgüter hereinzubekommen (und gleichzeitig „Friedenspartnerschaften“ zu kaufen.) Da es klar wäre, dass diese Aktivierung der Handelsbeziehungen im Sinne eines echten Güteraustausches nur beschränkt möglich sein könnte, sei es an der Zeit, auf den Goldhort aus Kolima zurückzugreifen.

 

Wie groß dieser Goldhort ist, weiß niemand, dass er aber sehr groß sein muss, vielleicht nur mehr wenig hinter dem des Fort Knox hintansteht, kann kaum bezweifelt werden. Denn einmal kann die Union zum mindesten potentiell als größter Goldproduzent der Welt angesehen werden — und die Goldsuche wird nicht nur in Kolima mit allen Mitteln unterhalten und vorangetrieben — und zum andern ist Russland mit seinen Goldausgaben sehr zurückhaltend gewesen. Man wird daher wohl annehmen dürfen, dass diese Zurückhaltung aufgegeben wird, wenn es sich wirklich lohnt, dann aber unter vollem Einsatz aller Möglichkeiten in das Gegenteil umschlagen könnte.

 

Goldschatz der Union.

Dass die Union ihren Goldschatz einsetzen muss, wenn sie ihren Warenhunger wirklich befriedigen will, ergibt sich schon daraus, dass dieser Warenhunger viel größer ist, als sie im Warenaustausch ihrerseits liefern könnte, zumal sie die handelsfähige Produktion (Holz, Öl, Korn, Baumwolle) im eigenen Land selbst so nötig braucht. Sollte sich aber in der Zukunft erweisen, dass der Goldhort weiterhin in Reserve gehalten wird, dann allerdings müsste man annehmen, dass sein Einsatz für den letzten Ernstfall aufgespart wird, könnte dann aber auch schließen, dass alle „Neuen Kurse“ grundsätzlich aufgegeben sind und der Kampf um die Macht wenigstens hinter der Fassade so oder so mit dem Aufbau eines neuen totalen und absoluten Terrorsystems seinen Abschluss gefunden hat.

 

Der Berichterstatter hat bisher nur von den grundsätzlichen Schwierigkeiten gesprochen, welche die ökonomische Struktur des Sowjetsystems in ihrem Kern bedrohen. Sie bestanden alle potentiell schon zu Stalins Zeiten, konnten aber hinhaltend behandelt werden, solange die absolute Autorität dieses dämonischen Mannes alles überschattete. Wie sehr er selbst die drohenden Gefahren sah, kann man dem entnehmen, dass er sein letztes Buch „Über die ökonomischen Probleme in der Sowjetunion“ (das kurz vor der 19. Parteiversammlung, also kurz vor seinem Tode erschien) diesen Fragen widmete und ihre Popularisierung (in seinem Sinne) mit aller Macht gewissermaßen im letzten Zeitraum des eigenen Lebens erzwang oder wenigstens erzwingen wollte. Dass die Popularisierung gerade dieses Buches sofort nach seinem Tode ihr Ende fand, mag er nicht vorausgesehen haben. Das letzte Wort auf der 19. Parteiversammlung, von allen mit größter Spannung angehört (zumal im ganzen Verlaufe des Parteitages kein einziges Wort von ihm selbst bis dahin gesprochen worden war) und zugleich sein letztes öffentliches Wort überhaupt, lautete: „Trotz allem, was wir erreichten, vergessen Sie nie, dass wir nicht allein in der Welt stehen können, dass wir auf die andern immer angewiesen bleiben, insbesondere auf die brüderliche Hilfe der Genossen in aller Welt“. Diese Beschwörung (die selbst im Rundfunk außerordentlich eindrucksvoll klang und mit offensichtlich echter Bewegung von der Versammlung aufgenommen wurde), war natürlich in erster Linie politisch gemeint, aber sie wurde auch wirtschaftlich verstanden — und nicht zuletzt in diesem Sinne kommentiert.

 

Nach Stalins Tod.

Inzwischen ist der Gossudar gestorben, seine Autorität ist dahin, die drohenden Engpässe aber haben sich nicht erweitert, sondern sind noch schmäler geworden. Denn nicht nur, dass den vorläufigen Nachfolgern der Aufbau einer neuen endgültigen Autorität noch nicht gelungen ist, sie haben vieles getan, was im Bereiche der Planung und Lenkung sofortige neue, schier unübersehbare Schwierigkeiten zusätzlich schuf. Sie haben in den ersten Wochen und Monaten nach Stalins Tod Dutzende von Planungs-, Wirtschafts-, Industrieministerien aufgelöst, zusammengeworfen, neugebildet, wieder aufgelöst und abermals neu formiert, so dass in Kürze innerhalb der neubesetzten, zerrissenen, umgebildeten, verschmolzenen Befehlsstellen niemand mehr wusste, wer nun eigentlich der wirkliche Befehlsgebende sei, welche Linie noch oder schon nicht mehr Geltung besäße, wer alles Durcheinanderstrebende miteinander wieder in Einklang setzen würde. Diese Umbesetzungen und Neuformierungen waren wohl im Rahmen des personellen Machtkampfes unumgänglich, mussten sich aber im Rahmen eines total zentralisierten und auf Jahre abgestellten Wirtschaftsplanes verhängnisvoll auswirken, zumal der Machtkampf selbst schon mit genügend menschlich-emotionellen Kompetenzkonflikten innerhalb der Ämter wie zwischen ihnen behaftet war — in einem Lande, in dem, überspitzt ausgedrückt, „kein Nagel eingeschlagen werden soll, der nicht im Staatsplan vorgesehen ist“, in dem aber auf der anderen Seite die zeitliche wie mengenmäßige Versorqung des einzelnen Produktionszweiges bis herab zur kleinsten Fabrik nur gelingt, wenn die Mängel der Planung und ihrer gelenkten Durchführung gemildert werden durch illegale, aber „menschliche“ Verbindung der leitenden Männer nach dem Grundsatze: Ich gebe, Du gibst!

 

Meine Gewährsmänner pflegten zu sagen: „Nehmen Sie aus dem Planungs- und Vollzugsapparat bis hinein in die letzten Verzweigungen alle „menschlichen“ Verbindungen und Beziehungen weg (die zwar korrupt sein mögen, bei uns aber lebensnötig sind, weil sie allein die unendlichen Kompetenzkonflikte sowie allen Unsinn theoretischer Planung wie zentralisierter Schwerfälligkeit mildern können), dann bricht unser ganzes Wirtschaftsgefüge in sich zusammen“.

 

Totaler Arbeitsterror.

Sie sagten: „Glauben Sie nicht, dass das, was Sie hier in unseren kleinen Lagerfabriken vor Augen haben — dieses Durcheinander der Arbeitsgänge, diese Belieferungsstockungen, abwechselnd mit Arbeitshetze und Lieferung von Ausschussware (die nur abgenommen wird, weil sie abgenommen werden muss), den Wechsel von Übernormen und Arbeitsausfall —, etwa nur hier im Lager die Regel ist. Genau dasselbe nur in viel größerem Maßstabe, spielt sich zur gleichen Zeit in unzähligen Fabriken außerhalb der Palisaden ab. Hätten wir nicht den totalen Arbeitsterror mit Normenakkord, Brigadensklaverei und diktiertem sozialistischem Wettbewerb, hätten wir nicht das ganze System, das im Namen Stachanows ausgedrückt wird, hätten wir nicht auf der anders Seite so viel potentiellen Reichtum, den wir nur anzukratzen brauchen, damit etwas herauskommt, wir hätten längst den totalen Bankrott unseres Systems, wie unseres Landes erklären müssen!“

 

Alles dies wurde bitter und verbittert gesagt, es mag im Einzelnen auch überspitzt erscheinen, aber es wurde mit tiefem Ernste von Männern vorgetragen, die ihr Vaterland über alles liebten, und von dem System, zu dem sie dann in Gegensatz gerieten, alles für dieses Vaterland erwartet hatten.

 

Man kann zusammenfassen: Alle aktuellen Schwierigkeiten, bedingt durch die Desorganisation von oben bei gleichzeitiger Unsicherheit in der Befehlswartung von unten, überschattet vom Wegfall der großen integrierenden Autorität trotz Weiterbestehens der theoretisch noch totalen, praktisch aber in Auflösung begriffenen Zentralisierung, mussten die schon vor Stalins Tod potentiell vorhandenen Engpässe immer mehr verengen und ihre Überwindung sich immer mehr erschweren. Es kann daher nicht bezweifelt werden, dass im ersten Jahr nach Stalins Tod die Planproduktion ganz allgemein nicht erfüllt wurde.

 

Im Lager Jedenfalls rang die Buchhalterei buchstäblich die Hände und sagte dem Sinne nach: „Wie werden wir in diesem Jahre trotz aller Kunst und Wissenschaft unseres Zahlenapparates eine Bilanz aufstellen, bei einem Produktionsergebnis, das so weit unter der Norm liegt, dass keine Papiermanipulation dies mehr verschleiern kann“. Und die Fabrik dieses Lagers hatte im vorausgehenden Jahre trotz aller Mängel immerhin eine Produktion von rd. 6 Millionen Rubel zustande gebracht.

 

Die „Neue Kurse“

Die „Neuen Kurse“ der neuen Herren hat also, um es noch einmal herauszustellen, folgende Aufgaben in kurzer Frist, nach dem amtlichen Versprechen innerhalb von nur zwei Jahren, und „endgültig“ zu lösen: sie müssen die Landwirtschaft sanieren, die Leichtindustrie erweitern, die Schwerindustrie aber nicht nur erhalten, sondern ebenfalls verstärken, sie müssen die Armee (einschließlich der Atomrüstung) noch besser versorgen, zugleich aber den Konsumgüterbedarf voll befriedigen, sie müssen Chinas und Nordkoreas wirtschaftliche Forderungen erfüllen, aber auch den Handel mit dem Westen steigern, sie wollen auch nicht auf die Fortführung der großen Kanalprojekte verzichten, aber trotzdem deren arbeitsmäßige Sicherung (durch den Masseneinsatz der verurteilten Zwangsarbeiter) durch Milderung des Massenterrors gefährden — und sie wollen gleichzeitig den inneren Machtkampf der Diadochen ohne Störung von außen her austragen und zum Abschluss bringen.

 

Erst die Zukunft kann zeigen, ob die Erfüllung aller dieser Vorhaben, die sich in Durchführung wie Zielsetzung kaum vereinen lassen, überhaupt und — im günstigsten Falle — noch rechtzeitig möglich ist. (Fortsetzung folgt)

 

 

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Seite 6   Herbert Schlobies: Die Salzburger Emigration – Vorlösung zur europäischen Frage. (Schluss)

Foto: Salzburgerfest in Gumbinnen. – Umzug im Juni 1932 anlässlich der 200-Jahrfeier. Aufn.: Ehmer

Damit erhielt sie das politische Gewicht, das uns heute noch berechtigt, in ihr eine Vorlösung zur europäischen Frage zu sehen. Dies umso mehr, als die werdende Großmacht des protestantischen Preußens dabei eine dominierende Rolle spielte.

 

Man hat gerade in der jüngsten Zeit dem Preußentum eine geschichtliche Rechtfertigung zu teil werden lassen, indem man das Bild, das man im Laufe der Jahrhunderte von ihm gewonnen hatte, von allen Zügen einer bewussten oder auch unbewussten Verzerrung und Verfälschung befreite und das Wesentliche seines eigentlichen Kerns bloßlegte. Es muss hierbei auf die Rede von Professor Hans Rothfels, Tübingen, eingegangen werden, die dieser Historiker, der achteinhalb Jahre an der Königsberger Albertina den Lehrstuhl für neuere Geschichte innehatte, anlässlich der 700-Jahrfeier der Stadt Königsberg beim Festakt im Duisburger Stadttheater Pfingsten 1955 gehalten hat. Rothfels, der Schwerkriegsbeschädigte jüdische Offizier des ersten Weltkrieges, der 1934 nach den USA emigrieren musste, ist ein gewiss unverdächtiger Gelehrter. Man wird ihm kaum Subjektivität unterschieben können, wenn er bekennt, dass „die Königsberger Universität über den nächsten praktischen Zweck hinaus zwischen Städtern und Adel, zwischen Deutschen und Nichtdeutschen etwas wie ein gemeinsames geistiges Bürgerrecht geschaffen hat. Man wird das auf ein Land mit verschiedenartig zusammengesetzter Bevölkerung, mit Pruzzen und Kolonisten, mit neuen Einschüben im 17. und 18. Jahrhundert keineswegs unterschätzen dürfen. Nicht durch Maßnahmen der Germanisierung oder Prussifizierung, sondern durch die Kräfte des geistigen und sozialen Zusammenhalts, und in erheblichem Maße über die Universität hin, sind die Hugenotten, die unter dem Großen Kurfürsten nach Königsberg kamen, sind Engländer und Schotten, die sich im Zuge der Handelsbeziehungen am Pregel niederließen, ist die Bildungsschicht der Salzburger wie der Masuren und Litauer ins Preußentum einbezogen worden. Bezeichnend genug, dass an der Albertina im 18. Jahrhundert ein polnisches und ein litauisches Seminar begründet wurden, um den religiösen Bedürfnissen der nichtdeutschen Bevölkerung in deren eigener Sprache Genüge zu tun“.

 

Hier ist prägnant und klar das herausgestellt worden, worauf es auch bei dieser Betrachtung ankommt, dass Preußen zum Schmelztiegel europäischer Blutsströme im Sinne einer Vorlösung der europäischen Frage bestimmt war. Seine historische Mission war niemals eine militärisch-chauvinistische Antithese, sondern eine völkerverbindende Synthese durch die „Kräfte des geistigen und sozialen Zusammenhalts“, wie es Rothfels treffend charakterisiert. Wie vielfältig gerade auch in Preußen von jeher die Blutsströme waren, zeigt Rothfels an anderer Stelle seiner Rede auf: „Königsberg wurde in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein Sammlungspunkt des kriegerischen europäischen Adels. Aus dem Reich wie aus Dänemark und den Niederlanden, aus Frankreich, England und Schottland kamen im letzten Auslaufen der Kreuzzugsbewegung die Gäste, die Glaubenseifer und Abenteuerlust an die Grenze des christlichen Abendlandes führte“.

 

Befreiung Osteuropas gefordert.

Der exilpolnische Rat für nationale Einheit in London hat die drei Westmächte aufgefordert, kein Übereinkommen über die Sicherheit Europas mit der Sowjetunion zu schließen, das nicht die Befreiung der osteuropäischen Staaten von der kommunistischen Herrschaft vorsähe.

 

Wenn man heute Preußen aus der Geschichte tilgen will, dann tilgt man damit ein Stück Geschichte Gesamteuropas. Preußen ist von Gesamteuropa geformt und genährt worden. Preußen ist das eigentliche Europa. Es ist „das“ Beispiel, wie Angehörige verschiedener Stämme und Völker nebeneinander- und zusammenleben können, geeint durch das Band einer sittlichen Idee, der Friedrich der Große mit den Worten „in Preußen kann jeder nach seiner Facon selig werden“ unmissverständlich Ausdruck verlieh. Der Geist der Toleranz und die Achtung vor der Würde des Individuums war, wenn es Grundzug preußischen Wesens war, zugleich auch gesamteuropäisch. Hitler war Österreicher, und man ist heute fast versucht zu sagen, dass in ihm vielleicht etwas von einem zwanglosen Drang der Habsburger Hausmachtpolitik geschlummert haben mag, wenn er von einem Großdeutschland als europäischer Ordnungsmacht geträumt hat und es selbst mit den teuflischsten Mitteln zu verwirklichen trachtete. Diese Missachtung der Würde des Individuums war alles andere als preußisch; denn in Preußen bekam der Müller von Sanssouci gegenüber seinem König, eben weil es rechtens war. Darauf muss immer wieder hingewiesen werden, um endlich alle Diffamierungen auszutilgen und dem Argument den Boden zu entziehen, dass die mittel- und ostdeutschen Gebiete unter fremder Kontrolle bleiben müssten, um das Wiederaufleben eines militaristischen Chauvinismus, der eins sei mit Preußen, zu verhindern. Dabei ist Preußen ein Produkt Europas.

 

Ohne Europa kein Preußen.

Ohne Europa wäre Preußen nie Preußen geworden. Wie sah es denn um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert in Ostpreußen aus? Lassen wir den Chronisten sprechen: „Bei dem Tartaren-Einfall des Jahres 1656 wurden durch diese furchtbaren asiatischen Horden damals in der Provinz Preußen 13 Städte, 249 Flecken und Dörfer und 37 Kirchen in Asche gelegt, 23 000 Menschen erschlagen und 34 000 fortgeschleppt, um unterwegs vor Hunger und Kälte umzukommen oder in asiatischer Sklaverei zu verkümmern. Kaum waren aber im Verlaufe eines halben Jahrhunderts die Wunden einigermaßen vernarbt, welche der Tartaren-Einfall dem Wohlstande des Landes und der geistigen Hebung seiner Bewohner geschlagen hatte, als unter der Regierung Friedrich I. die furchtbare Pest der Jahre 1709 bis 1711, begleitet von Missernte und Viehsterben infolge des strengen Winters 1709, die unglückliche Provinz und namentlich auch Litauen aufs Neue zur Wüste machte. In der Stadt Königsberg selbst starben innerhalb acht Monaten 9827 Menschen und nach dem Bericht von Göcking tötete die Pest im Hauptamt Insterburg 66 000, im Amt Ragnit 28 000 Menschen“.

 

Wenn heute Polen und die Sowjetunion Anspruch auf Ostpreußen erheben, dann kann man sie mit Recht darauf hinweisen, dass die europäische Aufgabe einer Wiederbesiedlung dieses fruchtbaren und für die europäische Volkswirtschaft unbedingt notwendigen Gebiets nicht von Polen und Russen gelöst worden ist, sondern von Preußen, mit Unterstützung anderer europäischer Menschen.

 

In erster Linie der Salzburger.

 

Dabei hätten Polen und Russen es ja so leicht gehabt, etwa in ihnen schlummernde staatsbildende Kräfte zu einer Lösung der europäischen Aufgabe in Ostpreußen zu mobilisieren. Brandenburg wäre viel zu schwach gewesen, einer Unterwanderung Ostpreußens durch die slawischen Völker entgegenzuwirken. Preußen, der Schmelztiegel Europas, wurde dagegen von germanischen Menschen wiederbesiedelt. Diese Tatsache kann nicht oft und eindringlich genug unterstrichen werden. Polen und Russen wussten damals nicht um die in diesem Raum gestellte europäische Aufgabe. Und die Salzburger haben diese Aufgabe hervorragend gelöst. Sie bildeten ein unübersehbares Ferment, das einen geistigen Sog auf die überlebende Bevölkerung ausübte, so dass das preußische Litauen sehr rasch ein „europäisches“ Gesicht annahm. Lassen wir wieder den Chronisten sprechen: „Zwar soll nicht geleugnet werden, dass auch unter den Salzburgern sich einzelne unnütze und lasterhafte Leute gefunden haben, wie das auch nicht zu verwundern ist, wenn man bedenkt, dass sich dem Zug der Glaubenstreuen und Ehrenwerten auch ein Tross von losem Gesindel anschloss, dem es nicht um die Bewahrung des Glaubens, sondern um den mühelosen Erwerb zeitlicher Güter auf der Reise und in Preußen zu tun war — aber die überwiegende Mehrheit, der Kern der Einwanderer, kann dreist für alle Zeiten als Musterbild eines ehrbaren und echt christlichen Wandels aufgestellt werden. Ihre Wirtschaften, in denen sie großen Fleiß auf die sorgfältige Bestellung des Bodens verwendeten und auf den Höfen und in den Ställen Ordnung und Reinlichkeit walten ließen, erregten bald die Nacheiferung der umwohnenden preußischen Wirte. So berichtet Pfarrer Bräuer über einen Besuch, den er mit dem Amtmann Köler aus Gerßkullen bei dem neuangesetzten salzburgischen Bauerwirten Sinnecker in Taurunnen machte. Der Mann zeigte mir alles. Im Stalle hat er viele Kammern und Abteilungen gemacht, für jede Art Tiere apart. Die Scheuren hat er ziemlich mit Getreide und Heu angefüllet. Auf dem Hofe hat er sich einen vortrefflichen Brunnen gemacht, inwendig mit Steinen ausgesetzt. Vor dem Fenster des Hauses hat er ein anderthalb Mann tiefes, rundes, weites Loch in die Erde gegraben, inwendig mit Holz beschlagen, der Boden ist mit dicken Brettern, darinnen will er sein Sauerkraut für den Winter einmachen. Oben hinauf legte er Steine. So soll es in Salzburg gebräuchlich sein, das Kraut soll darinnen frisch bleiben. In den Kammern habe ich viele Gefäße mit schönster süßer Milch angetroffen. An Arbeitszeuge hat er einen großen Vorrath. Auch hatte er sehr viel Vieh. Dieser Sinnecker ist mit allem zufrieden. Seine Frau ist gar sehr herzlich fromm. Sie sagte unter anderem in unserer Gegenwart, mit vielen Tränen: „Wir können Gott und unserem lieben König nicht genug danken!“

 

Wie nun die Wiederbesiedlung Ostpreußens eine europäische Aufgabe war, so war auch, die Salzburger Emigration eine solche, auch wenn wir von dem politischen Aspekt im Hinblick auf die Pragmatische Sanktion absehen wollen. Die Auswanderung von 20 000 Menschen, ihr monatelanges Unterwegssein war eine Aufgabe, die nur gemeinsam vom protestantischen Europa gelöst werden konnte. Preußen allein hätte es nicht geschafft. Denn in Berlin hatte man mit 6000 Salzburgern gerechnet. Nach einer kurzen Frist der Verwirrung hatte man im protestantischen Europa sehr rasch die von der Geschichte gestellte Aufgabe begriffen. Auf Initiative reicher evangelischer Handelsherren in Venedig wurde in Regensburg eine Emigrantenkasse errichtet, in die die freiwilligen Spenden von Landesfürsten, Ständen, die Erträgnisse aus Kirchen- und Hauskollekten eingezahlt wurden. Die verschiedenen Quellen sowohl protestantischer wie katholischer Herkunft bekunden eine allgemeine Spendenfreudigkeit, die sogar die jüdische Bevölkerung ergriff. Nach Ludwig Carus „Die Auswanderung der protestantisch gesinnten Salzburger“ hat England 280 224, Holland 401 928, Dänemark 57 825, Hannover 90 000, die holländische Judenschaft 20 091 fl. gesammelt. Von London flossen in die Emigrationskasse nach anderen Berichten allein über 4000 Pfund Sterling. Von deutschen Städten wurden folgende Summen gespendet: Hamburg 3000 Dukaten, Leipzig 8000 Gulden, Königsberg 10 000 Gulden, Dresden 10 000 Thaler, Berlin 8000 Gulden, Nürnberg 9899 fl. Die Gesamtsumme wird auf über 500 000 Thaler geschätzt.

 

Der König von Preußen ließ dazu jedem Emigranten noch ein Tagesgeld auszahlen, das aber von den Emigranten gar nicht aufgezehrt werden konnte, da sie unterwegs von der Bevölkerung stets herzlich aufgenommen wurden. Und es wird schon stimmen, wenn Carus in dem bereits erwähnten Buch behauptet, manche Salzburger seien wohlhabender in Ostpreußen angekommen, als sie von Salzburg ausgewandert wären. Denn die Bevölkerung versah sie auch mit Kleidern, Wäsche und Hausrat.

 

Auch ist es nicht so, dass die Emigration von vornherein nach Preußen festgelegt war. Nach der zeitgenössischen „Ausführlichen Historie derer Emigranten oder vertriebenen Lutheraner aus dem Erzbistum Salzburg“ bei Teubner 1732, heißt es: „Der Hannoversche Gesandte hat zu Regensburg bekannt gemacht, dass Ihro Majestät der König von Großbritannien etliche tausend in ihren Landen aufnehmen wollen. Die Republik Holland hat sich auch erkläret, einigen hundert Familien in ihrem Gebiet Wohnung einzuräumen, Schweden ist gesinnt, zum wenigsten die vertriebenen Bergleute anzunehmen. Vielleicht wird es sich noch weiter entschlüßen, auch anderen ein Plätzgen einzuräumen, wenn es nur zuerst gesehen hat, dass es grundehrliche und fromme Menschen heißen. Man hat auch gesagt, dass einige hundert nach Hungarn gehen“.

 

Diese Bereitwilligkeit zur Aufnahme der Salzburger Emigranten in den protestantischen Gebieten Europas wird zweifellos, wenn auch zum Teil unbewusst, ausgelöst durch ein Streben zur europäischen Universalität, die nur ein gemeinsames Vaterland kennt, das ein und derselben Konfession. Wenn heute deutsche Bauern in Frankreich angesiedelt werden, dann liegt das auf der gleichen Ebene. Allein aus „Mitleid“ lässt sich auch nicht die Anteilnahme der europäischen Bevölkerung an dem Schicksal der Salzburger Emigranten erklären. Es ist mehr als ein Mitleid, es ist ein universelles Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich nicht nur auf die Protestanten beschränkte, sondern auch Katholiken und Juden ergriff, wie Carus es zugibt: „Kurz, das ganze protestantische Deutschland war im Jahr 1732 von einer Verehrungs-Epidemie für die heiligen Salzburger Märtyrer des evangelischen Glaubens ergriffen. Die Magie des Unglücks, worin man die Salzburger Dissidenten gestürzt zu sehen sich gewöhnt hatte, übte einen ans Wunderbare grenzenden Zauber. Sie elektrisierte selbst die kältesten Seelen. Sie ließ eine Bewegung in alle Nerven schlagen und weckte durch den bloßen Anblick der Auswanderer eine Gewalt des Augenblickes, welche die Gebieterin aller Empfindungen ward.“

 

Es war damals in Deutschland und Europa die gleiche Stimmung, wie sie nach 1945 in den USA und vielen auch feindlichen Ländern gegenüber der in eine unermessliche Katastrophe gestürzten deutschen Bevölkerung, vor allem gegenüber den Heimatvertriebenen, herrschte, eine Stimmung, die heute zur Aufnahme Deutschlands in die NATO und Westeuropäische Union geführt hat. Die Zeit war damals noch nicht reif, um aus einer solchen Stimmung heraus, Grenzen zu sprengen und Völker zusammenwachsen zu lassen. Aber die historischen Ereignisse, die sich mit und um die Salzburger Emigration abspielten, waren eine echte Vorlösung der europäischen Frage, besonders nach der geistig-seelischen Seite hin.

 

Aber auch nach der rein materiellen Seite hin kann die Durchführung der Salzburger Emigration als eine echte Vorlösung angesehen werden. Ich meine nicht nur die Kollektensammlungen in aller Welt, sondern auch die Regelung des Nachlasses der Emigranten durch die fürstbischöfliche Verwaltung, die das herbeiführte, was man heute einen gerechten „Lastenausgleich“ nennen würde. Der König von Preußen erhielt die Genehmigung, einen Kommissar nach Salzburg zu entsenden, der die Angaben der in Ostpreußen Angesiedelten über den Wert ihres Nachlasses an Ort und Stelle nachprüfen konnte. Dabei hat es sich öfters gezeigt, dass dieser Nachlass überhöht bewertet worden war. Auch waren in manchen Fällen nicht die auf den Höfen lastenden Schulden angegeben. Auch war der gegenwärtige Wert manchmal durch eine schlechte Bewirtschaftung durch die eingesetzten „Pfleger“ die man heute Treuhänder nennen würde, herabgemindert worden, so dass alles in allem zuerst ein Verhältnis zehn zu eins zwischen den Ansprüchen und der tatsächlich von Salzburg geleisteten Zahlung herauskam, von den mit etwa drei Millionen angemeldeten Forderungen wurden zuerst 300 000 Thaler erstattet. Zwar behauptet Carus, dass die Emigranten fast das Gleiche erhielten, was die amtliche Taxe festgesetzt hatte, muss aber gleichzeitig zugeben, dass eineinhalb Millionen Thaler an Abzugsgeldern einbehalten wurden, eine Summe, die verhältnismäßig hoch erscheint, auch wenn ihre Einziehung im Westfälischen Frieden gesetzlich verankert war.

 

Die Salzburger Emigration ist auch insofern eine Vorlösung, als sie gezeigt hat, dass eine Massenauswanderung nicht ohne weiteres wirtschaftliche Nachteile für das verlassene Land zu bedeuten braucht. Jedenfalls sind der Aufforderung des Fürstbischofs Firmian an die Katholiken der umliegenden Länder zur Ansiedlung auf den verlassenen Höfen nach Carus so viele Leute gefolgt, dass der bevölkerungsmäßige Verlust bald wieder ausgeglichen war. Die Salzburger Emigration hat sich günstig für das neue Gastland und nicht ungünstig für das verlassene Mutterland ausgewirkt.

 

Allerdings zwischen der Salzburger Emigration und der Austreibung der Ostdeutschen aus ihrer Heimat ist ein fundamentaler Unterschied; die Salzburger Emigration war als Vorlösung der europäischen Frage ein Prozess eines volkswirtschaftlichen Ausgleichs. In ein durch feindlichen Einfall und Pest verwüstetes und verödetes europäisches Gebiet strömten europäische Menschen aus einem europäischen Raum, der seinen Bewohnern nicht mehr genügend Nahrung bot. Heute sind aus der fruchtbaren Kornkammer des Deutschen Reiches Menschen geströmt in übervölkerte Gebiete, so dass diese auf ausländische Einfuhren angewiesen sind, während Kornkammern ungenutzt zu Wüsteneien werden. Wenn die Sowjetunion und Polen sich zu Europa rechnen, dann müssten sie einer europäischen Lösung für dies Gebiet zustimmen, die den Ostdeutschen ihre Heimat wiedergibt, damit sie ihre Heimat wieder zur, Kornkammer Europas machen können. Jeder Versuch, sich einer solchen Lösung zu widersetzen, ist uneuropäisch, ist Verrat an Europa und offenbart, dass die UdSSR und Polen asiatisch denken und handeln.

 

 

Seite 6   Berlin, 3. 11. 1955.

Firma Blahut, Furth i. Wald.  Am 01.11.1955 erhielt ich die Federbetten. Ich war angenehm überrascht. Die Federn sind herrlich und ich bin glücklich, Ihre Firma gewählt zu haben. Auch die Inlett sind wunderschön und ich kann und werde Sie überall empfehlen. Bemerken möchte ich noch, dass ich 62 Jahre alt bin, aber so schnell und gut hat mich in meinem Leben noch niemand beliefert. Ich danke Ihnen nochmals für Ihre Mühe. Freundlichst Anna Lattka , Berlin-Schl?chtensee, Ilsensteinweg 32a.

 

 

Seite 7   Wie die Puppe Adele ein Weihnachtsengel wurde. Von Erminia v. Olfers-Batocki.

Vor einem Jahre am 14. Dezember 1954, starb in Bad Harzburg unsere Heimatdichterin Erminia von Olfers-Batocki. Nachstehende Weihnachtserzählung stellte sie uns vor Jahren zur Veröffentlichung zur Verfügung. Die Dichterin schrieb uns dazu, dass sie diese Erinnerung in unserer ostpreußischen Heimat oft vorgelesen habe.

 

Wenn unsere Großmama uns Kinder ganz plötzlich aus unserem Elternhause abholte, musste der alte Landauer Wagen durch zwei Königsberger Tore zurückfahren. Erst über die Steindammer Festungsbrücke, wo wir den Wasserfall des Stadtgrabens anstaunten und wo die Schildwache vor dem schwarz-weißen Häuschen auf und ab ging. Im Tore hallten die Pferdehufe und die Räder unseres Wagens auf dem Steinpflaster, und dann durchfuhren wir die lange Straße, in der so viel Buntes in den Schaufenstern zu sehen war. Hin und wieder zog Großmama an der dicken Seidenschnur, die vom Inneren des Wagens aus mit dem Daumen des Kutschers in Verbindung stand. Dann hielt das Fuhrwerk still und Großmama stieg aus. Wir sahen durchs Glasfenster hindurch, dass sich eine Ladentür von innen öffnete und nach einer Weile wieder schloss. Dann folgte ihr ein junger Mann, der ihr mit tiefem Diener ein Päckchen in die Wagentür nachreichte und das hängende Fußbänkchen emporklappte. Fuhren wir durchs Friedländer Tor aus der Stadt hinaus, befanden wir uns mitten unter der hohen Wölbung, in der es ganz dunkel war. Dann wusste der Kutscher Riegel schon, dass er da ganz langsam fahren musste, denn dann rief die Großmama: „Kinderchens — Augen zu!“ und wir drückten gehorsam unsere Fäuste gegen die Augen. Dabei hörten wir, dass Großmama in Geschwindigkeit die Papiere zerriss und die uns wohlbekannten Verstecke im Wagen anfüllte. Oh, war dann das Suchen herrlich! Apfelsinen, Abziehbilder, Pfeifchen, Gerstenzucker, Singbeutel und was noch mehr. In den flachen Taschen der Wagentüren, unter den Schlummerrollen, in den hängenden Armschlingen, in den Polsterklappen, ja, sogar in den Taschen von Großmamas Mantille fanden wir Kostbarkeiten. Wie verkürzte all das die Zeit der langen Wagenfahrt. Kutscher Riegel, seine Pferde schonend, fuhr lange Strecken im Schritt. Einmal polterten die Räder über die Schienen der Ostbahn, endlich bog man in die Querchaussee ein und polterte über die Eisenstränge der neuen Südbahn. Dann wurden wir schon ungeduldig und bald hielt der Wagen vor der breiten Haustüre, — wir waren bei den Großeltern in Tharau!

 

Wir wussten niemals, in welcher Jahreszeit es hier am schönsten war. Einst, als wir das Erlebnis mit der Puppe Adele hatten, war es Frühling gewesen. Aber statt gleich in den blühenden Garten zu laufen, baten wir, in die Rumpelkammer gehen zu dürfen, um Adele zu holen. Ja, die Großmama erlaubte uns, wie jedes Mal, mit ihr zu spielen. Aber immer ermahnte sie uns in ihrer liebevollen Stimme, sehr vorsichtig zu sein, denn Adele sei doch die Puppe unserer Mutter gewesen, als die einst in diesem selben Hause ein kleines Mädchen gewesen und mit Adele gespielt habe. Und Großmama sagte auch, unsere Mama sei immer artig gewesen, habe ihre Spielsachen geschont und niemals eine Puppe zerbrochen.

 

Es wurden uns mehrere Türen aufgeschlossen, bis wir durch das lange Haus in die Rumpelkammer gelangten. In jedem Raume, durch den wir kamen, war eine andere Temperatur und ein anderer Geruch. Endlich klapperte das Vorhängeschloss unter seiner Eisenkrampe, wir kamen in halbes Dunkel, sahen aber gleich in unserer alten Kinderwiege Adele sitzen. Ihr Oberkörper kippte müde nach vorn, denn der Kopf war schwerer als der schlanke, lederne Körper. Ich wischte mit der Hand über ein Spinngewebe, mit dem das Puppengesicht überzogen war. Verwundert sah mein Bruder mir zu. Er war ein Jahr jünger als ich, klein und sehr beweglich, so dass die hiesigen Hausleute

ihn, der Ameise gleich, Hemske nannten. Wir betrachteten ein Mal, wies nächste Mal Adele, als wäre sie ganz neu. Der einzige Fehler, den wir immer wieder an ihr bemerkten, waren kleine Narben in den von weißlichem Leder genähten Händen, so als ob — wer weiß wann — spitze Kinderzähnchen da hinein gebissen hätten. Der ganze Körper war von solch glänzendem Überzug und an die rundlich mit Sägemehl ausgestopfte Brust war der Porzellankopf angeleimt. Welch tugendhaftes Frauengesicht, mit rot angemalten Wangen, treuen blauen Augen und einem kleinen lächelnden Mund. Uber der weißen Stirn teilte sich das angemalte schwarze Haar in zwei Scheitel, die am Hinterkopf einen Knoten markierten.

 

Adele, deren Unterwäsche gewiss verlorengegangen war, trug um die Kniegegend nur zwei leinene Röhren mit festumwickelten Häkelspitzen, die bis an die Füße reichten. Das Kleid war von rot-weiß-gestreiftem Kattun und erinnerte an die Krinolinenzeit, in der diese Mode gebräuchlich war. Darüber prunkte ein Mantel von rosinfarbenem Seidendamast, mit blanken Knöpfen und schwarzen Troddeln. Wirklich — Adele sah schön aus, das musste jeder finden, der sie sah.

 

Großmama saß im Saal mitten auf dem langen, grünen Kanapee und wärmte unsere Schokolade über dem messingenen Kohlenbecken. Dabei begann sie wieder mit ihren Verhaltungsmaßregeln — Adele — Mamas Puppe — Vorsicht — usw. — Wir nickten im Bewusstsein dieses wichtigen Versprechens. Großpapa tauchte einen Zuckerriegel nach dem anderen in seine riesige Tasse, schmunzelte und dachte sich das Seine.

 

Wir aber spielten unbesorgt mit Adele — da es zu regnen begann, wurde uns das Billardzimmer angewiesen. Neben dem rechteckigen Riesenmöbel stand nicht viel mehr da als ein Schaukelstuhl neben dem großen, weißen Kachelofen. Erst spielten wir Gewitter. Ich saß, die Adele im Arm, unter dem schützenden Dache des Billards und mein Bruder machte den Donner, indem er die schweren Elfenbeinkugeln über das grüne Tuch rollen ließ. Dann erklärte der Hemske, dass wir nun lieber „Seebad Cranz“ spielen wollten, das hieß: in der See baden. Das Billard sei der Badesteg, der Fußboden ringsum sei das Wasser und er — der Hemske sei der Bademeister. Schon stand er oben, die zu badende Adele im Arm. „Eins — zwei — drei —„ kommandierte er. Springend blieb er am Rande des Billards hängen. Adele entglitt seiner Obhut, sie stürzte gegen die Ofenkante. O weh, der Hals war gebrochen. Da lag der Kopf, weit ab von ihrem entkleideten Körper. Erst standen wir stumm da und sahen auf die Leiche hinab. Dann steckte ich mein Gesicht unter das Kissen des Schaukelstuhls und weinte. Aber der Missetäter tröstete mich mit sich forsch anstellender Stimme: „Plins nicht! Nun wird es grade fein! Wir gehen mit ihr in den Garten und spielen Begräbnis. Komm!“ Er drückte mir den Puppenkopf in die Hand, klemmte mir die traurig blickende Adele unter den Arm und wir drei verließen durchs Fenster das Billardzimmer. Im regensicheren „Thuja-Busch“ stand unser „Bullerwagen“, der schon mit den Rädern quietschte. Da setzten wir Adele, mit ihrem Kopf im Schoß, hinein und karrten mit ihr nach dem Gewächshaus zu. Hemske brauchte die Gärtnerkinder für den Gesang, zur Folge und als Grabmacher. Des Wiedersehens erfreut kamen Wenks Emil und Therese uns entgegen und gaben uns das Geleite zu den Nusssträuchern, ganz hinten am Staketenzaun. Da wurde in der feuchten Erde ein Grab gemacht. Es regnete noch immer. Die weichen Nussblätter waren blank. Dennoch stäkselten Therese und ich Fliederblätter, rund gebogen, ineinander, was schöne Kränze abgab und suchten Scharbockskraut und hellblaue Hundsveilchen. Unter dem Gesänge: „O wie wohl ist mir am Abend, wenn zur Ruhe die Glocken läuten“ wurde Adele mit ihrem Kopf auf die Blumen gelegt und die Jungens schaufelten das Grab zu.

 

Abends, als Großmama an unsere Betten trat, die so schön frisch nach Lavendel dufteten, beichtete nur ich, was geschehen war, denn der Hemske tat schon, als ob er schliefe. Großmama verschwieg das Leid, das in ihren guten Augen stand, denn Adele war ihr ein liebes Andenken gewesen. Als ich weinte, tröstete sie mich, indem sie sagte, die tote Adele würde nun schon im Puppenhimmel sein und ein schöner Engel werden, so schön wie ein Weihnachtsengel am Christabend und von oben würde sie auf alle Puppen hinunter sehen. Dies war mir sehr einleuchtend und mit feierlichen Gedanken schlief ich ein.

 

In späteren Jahren, wenn ich an der Tür zur Rumpelkammer vorüberging, war es mir, als müsse darin alles tot sein, denn die Puppe Adele war nicht mehr da. Sie lag begraben unter den Nusssträuchern am Gartenzaun. Und Großmama und Großpapa waren ja alt geworden und in die Stadt gezogen: Ich war kein Kind mehr und aus dem Großelternhause war unser Elternhaus geworden. Alles wurde ganz anders und keins der Geschwister spielte noch mit Puppen. Auf den Weihnachtstischen im großen Saal lagen keine Spielsachen mehr.

 

Es kam wieder einmal ein Christabend. Meine Mutter schickte mich ins Treibhaus, ich sollte Orangenblätter holen, sie in die Kristallschalen zwischen die Apfelsinen stecken. Eifrig lief ich durch den Schnee und öffnete die Tür. Woran stieß mein Fuß? Was lag da? — Adele! — Mit dem Porzellangesicht auf dem Ziegelboden, ohne Kleider lag sie da. — „Adele!“, flüsterte ich, hob sie empor, sah in ihr stilles Gesicht und steckte sie unter meine Pelzjacke. Schön fest, um nicht in meiner Heimlichkeit entdeckt zu werden. Warm sollte sie es haben. Unterwegs überlegte ich, wie konnte das nur sein? Was war geschehen? — Die damaligen Gärtnerkinder, Emil und Therese, hatten in aller Stille die Puppe wieder ausgegraben und als sie lange genug damit gespielt hatten, vielleicht nach Jahren, sie auf dem Gewächshausboden unter Strohmatten oder in einem Bienenkorbe versteckt. Dann waren Wenks fortgezogen. Vielleicht hatten die Kinder des neuen Gärtners Adele gefunden und heute, am Weihnachtstage, neuerer Geschenke achtend, die alte Puppe unachtsam im Gewächshaus liegen lassen. Aber Großmama hatte doch damals etwas vom Weihnachtsengel gesagt, war nun dies Wunderbare geschehen? Adele, ein Weihnachtsengel? Ich lief immer schneller durch den verschneiten Garten, direkt in die Küche. Da bat ich Mamselchen um ein paar weiße Flügel — es seien ja vorm Fest Gänse geschlachtet worden — und dann suchte ich nach Gardinenmull und fand auch Goldpapier. Während ich Adele ihr Porzellangesicht wusch, bemerkte ich, dass der Kopf sehr geschickt mit Fensterkitt geleimt und mit Blumendraht bestrickt worden war. Ich hüllte den unsauber gewordenen Lederbalg in weißen Mull, befestigte eine Krone auf dem dunklen Scheitel und die Hauptsache wurde das Flügelpaar, das aus der gestorbenen und beerdigt gewesenen Adele wirklich einen Weihnachtsengel machte. Ich schlich mich in unseren Saal, setzte den Engel auf den untersten breiten Tannenast und lehnte die Flügel gegen die Zweige.

 

Alle, die feierlich ins Weihnachtszimmer traten, staunten über den Anblick. Besonders meine Mutter, die vor 50 Jahren als kleines Mädchen an selber Stelle Adele auf ihrem Weihnachtstisch gefunden hatte, war gerührt, sie wiederzufinden.

 

An jedem Christabend kehrt nun Adele wieder. Sie wohnt das ganze Jahr über in der alten hohen Standuhr. Da geht das Pendel über Adeles Kopf hin und her — ticktack — ticktack — ticktack — von Jahr zu Jahr, von einem Weihnachtsabend zum andern. Wenn auch vieles vergeht, die Zeit — die Häuser — die Länder — die Menschen — etwas wird immer bestehen bleiben, das Kinderherz und der Kinderglaube in der Weihnacht.

 

 

Seite 7   Unsere Buchbesprechungen.

 Anton Zischka: „Welt in Angst und Hoffnung“. Eine Weltreise zu den Brennpunkten des Zeitgeschehens. 286 Seiten mit 43 Fotos. Leinen 6,85 DM. — C. Bertelsmann, Gütersloh.

 

Ein neuer Machtfaktor hat sich seit der Konferenz in Bandung in das große Spiel eingeschaltet: Asien. Wird diese Machtballung mit ihren tausend Millionen farbiger Menschen das Zünglein an der Waage Ost—West werden?

 

Anton Zischka, der in den 32 erregenden Kapiteln dieses Buches aufsehenerregende Berichte von seiner fünften Weltreise zu den „Brennpunkten des Zeitgeschehens“ im asiatischen Raum vorlegt, ist als unermüdlicher Vorkämpfer und Pionier weltweiten, vorurteilslosen Denkens bekannt.

 

Um seine eigenen Worte zu zitieren: „Weltweites Denken ist heute für jedermann lebenswichtig, denn unsere Welt gleicht einem einzigen Riesensystem kommunizierender Röhren. Nichts geschieht oder wird gedacht, was sich nicht eines Tages weltweit auswirken konnte. Dazu gilt es, längst überlebte Denkklischees von Völkerpolitik und Weltwirtschaft beiseite zu werfen und unsere Wunschträume ständig neu mit der Wirklichkeit zu konfrontieren“.

 

Hier seien aus seinem Buche nur einige der aktuellsten Probleme erwähnt: Die brennende Frage unseres Jahrhunderts nach den Ideellen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Sowjetunion, China und Japan. Das Werden der großasiatischen Wohlstandssphäre. Die Rolle Indiens. Wie sieht es in Russland wirklich aus? Wie denken jene tausend Millionen Unentschiedene zwischen Ost und West, die jeder Fahne folgen, auf der „Brot“ steht? Fragen über Fragen! Und wie denken die Nichteuropäer über das werdende neue Asien, die wir so gern unterschätzen? Wir haben da in jüngster Zeit genügend Überraschungen erleben müssen.

 

Zischka hat ein sicheres Gefühl für die langfristigen Entwicklungen der Weltpolitik und Weltherrschaft und weiß aus unscheinbaren Beobachtungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. So stehen in diesen „weltpolitischen Essays“ manche für das Denken des Westens unangenehmen Wahrheiten. Immer wieder haben Zischkas atemberaubenden Perspektiven der Weltpresse neuen Stoff zu aktuellen Schlagzeilen geliefert, zumal die weltpolitische Entwicklung Zischkas „Diagnosen“ noch immer recht gegeben haben. Wenn auch dieses Buch noch den Titel trägt: „Welt in Angst und Hoffnung“, so legt Zischka doch den Nachdruck auf das Wort „Hoffnung“. Möge er auch hiermit recht behalten.

 

Ein ungeheuer fesselndes Buch, das leicht verständlich in seine Materie einführt, wie man es von den früheren, viel gelesenen Zischka-Büchern gewohnt ist.

 

 

Seite 7   Bücher über den deutschen und europäischen Osten aus dem Holzner-Verlag Würzburg.

Rhode: Die Ostgebiete des Deutschen Reiches 14,70 DM

 

Breyer: Das Deutsche Reich und Polen 14,70 DM

 

Gause: Deutsch-slavische Schicksalsgemeinschaft (Abriss einer Geschichte Ostdeutschlands und seiner Nachbarländer 12,80 DM

 

Götz von Selle: Ostdeutsche Biographien 11,80 DM

 

Sammlungen: Schriftenreihe des Göttinger Arbeitskreises über alle Lebensgebiete des deutschen Ostens bisher erschienen 55 Titel im Preise von 80 Pf bis 1,80 DM

 

Deutsche Baukunst im Osten (Bildbände)

 

Jahrbuch der Albertusuniversität zu Königsberg i. Pr. bisher erschienen die Jahresbände 1 – 6. Beihefte zum Jahrbuch der Albertusuniversität bisher erschienen Band I – XIII der „Beihefte“

 

Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau. Band I. 1955: 9,-- DM

 

Romane:

G. Papendick: Die Kanterkinder. Roman der Stadt Königsberg 10,80 DM

 

Ruth Geede: Die Pflugschar (Ostpreußische Bauerngeschichten) 4,80 DM

 

Herbert von Böckmann: Pepita (Die Geschichte eines Trakehner Pferdes) 4,80 DM

 

 

Seite 8   Arwed Seitz – der Ostpreußenmaler.

Foto: Arwed Seitz – Selbstbildnis

Foto: Arwed Seitz: Immanuel Kant

Ehemalige Königsberger werden sich vielleicht noch der hübschen kleinen Bildnisse erinnern, die in einer Fensternische des Blutgerichts hingen. Es waren stadtbekannte Persönlichkeiten, Stammgäste, die Arwed Seitz hier portraitiert hatte; so lebensähnlich und so farbenfroh, dass die Besucher des altberühmten Weinlokals selten versäumten, einen Blick auf die kleine Galerie zu werfen.

 

Ein treuer Königsberger hatte sie geschaffen. Am 23. Februar 1874 in der Pregelstadt geboren, am 29. Juli 1933 daselbst gestorben, stammte Seitz aus einer alteingesessenen Familie, in welcher sich die künstlerische Begabung vererbte. So war z. B. sein Onkel Rudolf Siemering ein bekannter Bildhauer, dem Marienburg ein Denkmal Friedrichs d. Gr., Eisleben ein Luther-Standbild verdankt. Der Neffe besuchte das Altstädtische Gymnasium, dann die Königsberger Kunstakademie, wo Emil Neide, Heydeck, Reusch und Georg Knorr seine Lehrer waren. 1898 ging er nach Paris und arbeitete dort bei Bouguereau und Ferrier. Dann folgten (von 1900 ab) Studien an der Kunstakademie in Rom bei Jaccovacci und Cantalamesse. Wie in Italien, so hat Seitz später auch im Österreich, Holland und England vorwiegend die alten Meister studiert und ist dann mit geschultem Können nach Königsberg zurückgekehrt, wo er ziemlich zurückgezogen lebte: ein im Grunde gütiger, hilfsbereiter Mensch, den körperliche Beschwerden zunehmend menschenscheu und misstrauisch machten.

 

Um Seitz's künstlerische Leistungen gerecht zu beurteilen, muss man wissen, dass zu seiner Zeit die Portraitmalerei, die damals noch nicht von der Farbfotografie entthront war, einem vom Impressionismus herkommenden Maler ein dankbares Arbeitsfeld bot, wenn er sein Handwerk technisch vollkommen beherrschte und zur Kunst zu erheben wusste. Das war bei Seitz der Fall.

 

Von Anfang an hatte er sich vorgenommen, Bildnismaler zu werden. „Ein Portrait“, so pflegte er zu sagen, „ist leicht zu malen, wenn einer eine ausgesprochene Persönlichkeit ist — umgekehrt sehr schwer!“ Seitz setzte seinen Ehrgeiz darin, dem Auftraggeber ein möglichst „ähnliches“ Bild zu liefern, und da er nicht nur ähnlich zu malen wusste, sondern in Farbe und Form auch künstlerisch gestaltete, fehlte es ihm nicht an Aufträgen.

 

Eduard Anderson, der Königsberger Museumsdirektor, schrieb seinem Freunde einen Nachruf, in welchem folgende Sätze stehen: „Der wohlhabende Bürger, der Offizier, Beamte, Geistliche und Gutsbesitzer — sie alle pflegten ihrer Familie ein Bild zu stiften. Sie konnten es sich leisten, ging es ihnen doch allen gut. Etwas von dieser gesicherten bürgerlichen Existenz lebt in den Seitz'schen Portraits. Es sind Damen in Gesellschaftstoiletten, seriöse Herren in schwarzem Rock, mit Orden und Ehrenzeichen geschmückt, rosige Kinder, schön „zum Anbeißen“. Seitz war der Maler dieses wohlhabenden Königsberger Bürgertums ...“ Neben Bildnissen malte er auch Landschaften und Seestücke. Es waren vor allem Haff und Meer, die Kurische Nehrung, die Fischerkähne am Strand, die er in leuchtenden Farben festhielt. Im Mittelpunkte seiner Arbeit aber war und blieb das Portrait, und hier muss gesagt werden, dass Seitz durch sein Schaffen der ostpreußischen Familien- und Gesellschaftsgeschichte hohe Dienste geleistet hat. Bedauerlich nur, dass viele seiner Bilder in den Wirren des zweiten Weltkrieges verloren gingen, darunter auch das Bild Kants, das der Maler in enger Zusammenarbeit mit dem damaligen Universitätsprofessor Kowalewski nach alten Stichen und Beschreibungen und unter Berücksichtigung des Schädels des großen Philosophen schuf.

 

Vielleicht sind aber doch noch vereinzelte Portraits ostpreußischer Adliger (z. B. der Lehndorfs, Finkensteins, Henkel-Donnersmarcks, Lippes, Eggloffsteins), der letzten Königsberger Oberpräsidenten, Oberbürgermeister und Wirtschaftsführer, ferner hoher Geistlicher und Offiziere der Vernichtung entgangen und irgendwo verlagert worden. Die Familie des Malers lebt heute in Frankfurt a. M. und würde für Mitteilungen dankbar sein. (Zu richten an Urte Seitz, Frankfurt a. M., Grafenstraße 6.)

 

 

Seite 8   Zentrale Sammelstelle für kirchliches Heimatgut.

Das Kath. Kirchenbuchamt für Heimatvertriebene in München 8, Freysingstraße 21, ist von der Fuldaer Bischofskonferenz beauftragt worden, alle Erinnerungen in Wort und Bild an das kirchliche Leben der Vertriebenen in der alten Heimat zu erfassen und zu sichern.

 

Um dieses kirchliche Heimatgut zu retten, werden alle Heimatvertriebenen aufgerufen

 

1. Fotografien und Bildpostkarten von Kirchen und kirchlichen Gebäuden (Außen- und Innenaufnahmen), von kirchlichen Kunstwerken und Baudenkmälern, von kirchlichen Persönlichkeiten und vom kirchlichen Leben (Prozessionen kirchliche Feiern, Vereinsleben usw.),

 

2. Schriftgut und Literatur hierüber,

 

3. eigene schriftliche Aufzeichnungen aus der Erinnerung sowie

 

4. Pfarr- und Ortschroniken aus allen Vertreibungsgebieten dem Kath. Kirchenbuchamt zur Verfügung zu stellen. Von hier kann auch eine nähere Anleitung zur Erstellung einer Pfarr- und Ortschronik oder eines Teilbeitrages hierzu bezogen werden. Soweit das Material dem Kirchenbuchamt nicht übereignet werden kann, erfolgt Rückgabe nach Auswertung.

 

Jeder noch so kleine Beitrag ist ein großer Dienst an der Heimat.

 

 

Seite 8   Bodo Lüdke besiegte das endlose Dunkel. Blinder wurde Pastor – Eine tapfere Frau half.

Foto: Pfarrer Bodo Lüdtke. Aufn.: Bruns

Hannover (Eig. Ber.). Jeden Sonntag steht in Ahlum und Wendessen (Kr. Wolfenbüttel) ein Geistlicher auf der Kanzel, der die Menschen seiner Gemeinde noch niemals gesehen hat. Aber seine. Schritte sind sicher, wenn er durch das Kirchenschiff schreitet. Ein Fremder würde kaum feststellen können, dass ein Blinder den Gottesdienst hält. Nur seine Finger gleiten während der Predigt leicht über die Notizen in Blindenschrift.

 

„Ich bin doch ein selbständiger Mensch“, sagt Bodo Lüdtke, wenn ihm jemand in guter Absicht eine Zigarette anstecken will. Er zieht sein Feuerzeug aus der Tasche und reicht dem Gast Feuer. „Blindheit ist doch nicht das Schlimmste!“

 

Das Sturmfeuerzeug stammt noch aus den Tagen, in denen der Soldat Bodo Lüdtke sehen konnte. 1943 erlitt er eine Verletzung, die sein künftiges Leben tiefgehend ändern sollte. Beim Sturz vom Pferde erblindete er auf einem Auge. Die Sehkraft des anderen ließ von Jahr zu Jahr nach.

 

1948 nach gefährlicher Flucht in den Westen erblindete der westpreußische Landwirt Bodo Lüdtke auch auf dem zweiten Auge. Er stand vor dem Nichts. In diesen Tagen fasste er den Entschluss, Pastor zu werden. 1950 ließ er sich an der theologischen Fakultät der Universität Marburg immatrikulieren. Vom ersten bis zum letzten Tage begleitete ihn seine Frau Ursel in die Hörsäle. Vom ersten bis zum letzten Tage war sie der Steuermann des Tandems, auf dessen Hintersitz der Mann als „treibende Kraft“ saß.

 

Sie haben das Tandem mitgebracht und fahren mit ihm zwischen den beiden Gemeinden des Pfarrbezirkes Wendessen und Ahlum von Kirche zu Kirche. Mitgebracht haben sie außerdem ein Tonbandgerät, auf das in langen Nachtstunden die Frau des Vikars den Text wissenschaftlicher Bücher gesprochen hat.

 

Und sie haben den kleinen Jörg mitgebracht, der vor anderthalb Jahren als Dritter in die Familie des künftigen Predigers kam. Sein Vater hat ihn nicht mehr gesehen. Das Haar des kleinen Sohnes ist heller als seines, flachsblond und wuschelig.

 

Am 24. Februar dieses Jahres machte er sein Examen. Seine Frau saß wie immer neben ihm. Als er es mit dem Prädikat „gut“ bestanden hatte, gratulierten ihm die Prüfer bewegt und fügten hinzu: „Ihre Gattin hätte das Examen gleich mitmachen können“.

 

Die Gemeinden Ahlum und Wendessen haben ihren neuen Vikar schon gut kennengelernt. Der Gottesdienst ist zwar nicht bewegter und feierlicher als all die anderen bei Pastor Strothmann. Aber die Menschen spüren die Kraft und Inbrunst in den Worten dieses Mannes, der sich auch in den tiefsten Stunden seines Lebens niemals aufgegeben hat. Der Weg bis zu diesem Ziel war aber auch das Werk einer einfachen, aufopfernden Frau.

 

 

Seite 8   Das junge Ding war die Gutsherrin selbst.

Insterburg war Sitz des 56. Panzer-Korps-Generalkommandos. Generalfeldmarschall v. Manstein plaudert über seine Tage in Ostpreußen.

 

War Insterburg schon im ersten Weltkrieg eine Zeitlang Sitz des Hauptquartiers von Hindenburg und Ludendorff und zwar im Hotel „Dessauer Hof“, Ecke Wilhelm-Ludendorff-Straße gegenüber den Beamtenhäusern der Deutschen Reichsbahn, so ist es vor Beginn des Russlandfeldzuges im zweiten Weltkrieg Sitz des Generalkommandos des 56. Panzerkorps gewesen, dessen Führung Generalfeldmarschall von Manstein übertragen worden war. Er berichtet darüber in seinem Werk „Verlorene Siege“:

 

„Während der für uns nur kurz bemessenen Vorbereitungszeit lag der Stab des Generalkommandos in Insterburg. Ich selbst war mit meinem Ordonanzoffizier, Oberleutnant Specht, außerhalb der Stadt in der dicht am Wald liegenden Villa des Chefarztes des Insterburger Krankenhauses, Dr. Wiedwald, untergebracht. Wir wurden von dem Ehepaar Wiedwald mit all der Gastlichkeit und Herzlichkeit aufgenommen, die für Ostpreußen sprichwörtlich geworden sind. Es waren schöne Tage, die wir in diesem kultivierten Hause mit unseren liebenswürdigen Wirten verbringen konnten.

 

Gern gedenke ich aus dieser Zeit auch eines alten Försters, in dessen Haus wir nach einer verregneten Nachtübung einer unserer Divisionen durch eine heiße Tasse Kaffee und ein echt ostpreußisches Frühstück gestärkt wurden, während der Gastgeber abwechselnd von seinen Hirschen und Elchen und von seiner Militärzeit schwärmte.

 

Die letzten Tage vor Beginn der Offensive verbrachten wir auf dem schon an der Grenze liegenden Rittergut Lenken, das durch sein Gestüt einen guten Namen in Ostpreußen hatte. Der Besitzer, Herr v. Sperber, stand bereits als Rittmeister d. R. im Felde. Lenken lag in einem herrlichen Wald, und schon als wir ankamen, sahen wir eine Koppel mit Vollblütern. Es war ein Erdenfleckchen voll Schönheit und Harmonie. Sein Anblick schien uns ein gutes Omen zu sein. Wie schön war gerade doch diese äußerste Ecke unseres Vaterlandes, unser letztes Quartier auf deutschem Boden! Als wir vor dem für Ostpreußen typischen, niedrigen und einfachen Herrenhaus vorfuhren, erblickten wir ein reizendes, blutjunges Mädchen, das eifrig die Veranda schrubbte. Ein buntes Kopftuch umrahmte ein hübsches, frisches Gesicht. „Oh“, murmelte einer meiner Begleiter zufrieden, „wenn hier alles so nett ist“. Er trug das junge Ding nach der Dame des Hauses. Sein Gesicht war nicht allzu geistreich, als ihm freundlich lächelnd erwidert wurde: „Das bin ich. Herzlich willkommen!“ Große Heiterkeit allerseits. Die junge Gutsherrin hatte vor kurzem einen Sohn bekommen, und ich wurde dessen Pate. So knüpfte sich ein Band, das die Jahre des Krieges und der schweren Nachkriegszeit überdauert hat. Nachdem die junge Frau v. Sperber, während ihr Mann im Kriege war, Gut und Gestüt verwaltet hatte, musste auch sie vor den Russen fliehen. Mit ihrem Mann und ihren sieben Kindern lebt „das junge Ding“, das wir bei unserer Ankunft so verkannt hatten, nun in Eltville am Rhein. Als ich 1953 endlich aus britischer Gefangenschaft heimkehrte, schickte sie mir die beste Flasche Wein, die in diesem berühmten Weinort aufzutreiben war. (Entnommen „Erich von Manstein, Generalfeldmarschall, Verlorene Siege“ 1955, Athenäum-Verlag, Bonn.)

 

 

Seite 8   Reitunterricht ohne einen Pfennig Geld. Ostvertriebene Landwirtssöhne im Sattel — Landkreis bezahlt alles.

Hannover (Eig. Ber.). Der niedersächsische Landkreis Grafschaft Hoya griff zum dritten Male innerhalb von drei Jahren in die Tasche und zahlt sämtliche Kosten für einen fünfwöchigen Reit- und Fahrlehrgang in der Fachschule Hoya/Weser.

 

Zwölf ostvertriebene Landwirtssöhne aus dem Kreise Grafschaft Hoya durften auch in diesem Jahre nach Abschluss der wichtigsten Erntearbeiten wieder ihre Koffer packen.

 

n Hoya erhalten sie einen abgeschlossenen Reit- und Fahrunterricht. Sie brauchen keinen Pfennig Geld, denn der Landkreis begleicht nicht nur die Unterrichtskosten, sondern kommt auch für Wohnung und freie Verpflegung in der Weserstadt auf. Der Zeitpunkt des Lehrgangs wurde in die Vorweihnachtszeit gelegt, weil dann die Schüler — 16 bis 20 Jahre alt — leichter aus der Arbeit in ihren ländlichen Betrieben beurlaubt werden können. Es sind junge Männer, die durchaus mit Trecker und anderen modernen Maschinen umzugehen wissen. Aber ihre Liebe gehört dem Pferd. „Die ganze Pferdehaltung in der Landwirtschaft hapert vorwiegend daran, dass unsere Landwirte nicht mehr mit den Pferden umzugehen verstehen“, … meint Otto Meyer, erfolgreicher internationaler Turnierreiter und Leiter der Hoyaer Reitschule.

 

Denn: mit Treckern allein kommt man auf dem schweren Marschboden in der Weserniederung nicht aus.

 

Die Teilnehmer des kostenlosen Vertriebenenlehrgangs haben zum Teil bereits in ländlichen Reitvereinen geritten. Aber das ist nicht immer ein vollendeter, abgeschlossener Unterricht. Otto Meyer äußert dazu: „Es gibt zu wenig gute Reitlehrer auf dem Lande. Mit ihnen steht und fällt die Sache der ländlichen Reiterei!“ Vielleicht geben die Junglandwirte einst ihr Wissen weiter, das sie jetzt kostenlos erwerben. Br.

 

 

Seite 8   Danziger Marienkirche neu geweiht.

Die Marienkirche in Danzig, eine der größten Kirchen der deutschen Backsteingotik, die zu Kriegsende sehr starke Schäden davongetragen hatte, wurde wieder eröffnet und neu geweiht. Sie dient jetzt der katholischen Kirche als Gotteshaus. Bei der Weihe der Kirche waren neben Vertretern der Wojewodschaft und der Stadt Vertreter des katholischen Klerus Polens zugegen,

 

 

Seite 9   Weihnachten in unserer Stadt. Von Gerhard Kamin.

Foto: Alte Fließbrücke mit Theater und Wiener Kaffee in den 30-er Jahren des 19. Jahrhunderts.

Foto: Königsberger Marzipan ist heute ein Weltbegriff geworden. Nach der höchsten Auszeichnung auf der 1. internationalen Konditoreifachmesse in Düsseldorf erhielt jetzt unser Landsmann Hans Bader auf der internationalen Konditorei-Fachschau in London die Goldmedaille. Hans Bader stammt aus einer alten Konditoreifamilie aus Allenstein, wo er die Fa. Jos. Bader Konditorei und Marzipanfabrik führte. 1948 gründete er mit seiner Frau in Düsseldorf den Betrieb neu, wo er auch das Amt des Vorsitzenden der Meisterprüfungskommission in der Handwerkskammer bekleidet.

 

Ist die Erinnerung an jene versunkenen Zeiten nicht wie ein Hinabsteigen in den Urgrund unseres Lebens? Ja, als liege in ihnen, anders als das Leben es später jemals wieder schenkt, die ganze Seligkeit und Frömmigkeit der Kindheit und darüber hinaus das Wissen, wie tief diese Kindheit in das Unvergängliche des Lebens eingebettet war. „Sternstunden“ waren es, das Hineinleuchten des Ewigen in das Zeitliche. Freude, Zuversicht, mildes Glänzen und selige Verheißung über Vergangenem und Kommendem.

 

Sie hatten alle ihre eigene Weihnacht, die verschiedenen Stadtteile unserer Heimatstadt: der Löbenicht und der Kneiphof, die Altstadt und der Steindamm, der Tragheim und die Hufen. Und es ist mir unvergesslich, wie in den Weihnachtstagen hinter den schlichten Kirchentüren das gleiche feierliche Bild sich bot: die beiden kerzengeschmückten hohen Bäume neben dem Altar, hier und dort mit Silberketten und -fäden behängt, davor die vermummte Gemeinde, und auf der Kanzel einer der Männer, die im urtümlichen Dialekt unserer Heimat das Weihnachtsevangelium lasen. Aus den oft schneeverwehten Straßen kamen sie, schüttelten auf dem Vorplatz Mantel und Hut ab und traten dann in die warme, leuchtende Weihnachtsstille des Domes, der Burgkirche, der Schlosskirche oder wie wir auf den Hufen in das Weihnachtslicht der Luisenkirche.

 

Die Musikkapelle — ich weiß nicht, ob es mehrere gewesen sind oder nur eine — war von morgens unterwegs gewesen, und gewöhnlich wurde es fünf Uhr, bis im ganzen Hufenviertel die Menschen an den Fenstern standen und in die Stille lauschten, aus der, langsam näherkommend, der Choral der Bläser sich aufhob:

 

„Vom Himmel hoch, da komm ich her,

Ich bring euch gute, neue Mär'...“

 

Für uns Kinder die feierlichste Stunde des Tages, nicht, weil sie das Zeichen dafür war, dass in den Stuben nun die Kerzen an den Bäumen angezündet wurden, sondern weil mit dem Klang der Töne in unseren Herzen etwas angerührt wurde, was das ganze Jahr hindurch nicht hätte angerührt werden können: dass die Mutter vor unseren Augen ihre Tränen nicht verbarg, dass der Vater die Stirn gegen die Scheiben presste, während der Klang der Trompeten immer lauter anschwoll, und dass wir Kinder stumm in das Dunkel lauschten, während der Choral nun dröhnend zu uns hereinklang, als stände draußen der Himmel offen und die Posaunen der Ewigkeit rührten uns an.

 

In wieviel Jahren sind wir ihnen draußen im fallenden Schnee begegnet, während wir zur Kirche gingen ... bis irgendwo in den Nebenstraßen der Choral in die Stille zurücksank, aus der er gekommen war, und verstummte.

 

Hinter den Bäumen des Parks „Luisenwahl“ lag sie, die Kirche meiner Kindheit und Jugend mit dem Namen der unvergessenen Königin. Wer, wenn er in Königsberg groß geworden ist, hätte sie nicht gekannt? Ein Neubau und architektonisch im Vergleich zu anderen Kirchen meiner Heimatstadt kaum erwähnenswert. Aber für tausende von Menschen eine Stätte des Friedens und der Besinnung, eine Bewahrerin aller jener zarten und edlen Gedanken der Königin Luise, die ihr gegenüber gewohnt hatte und deren lebendige Erinnerung der Park wachrief, wo in einer Eiche die Glocke hing, die sie selbst geläutet .

 

Seit Tagen und wie in jedem Jahr ist der Park um die Weihnachtszeit das Rodelparadies der Kinder. Unvergesslich der abendliche Glockenton, der dröhnend aus nächster Nähe vom Kirchturm über den Park fällt, während  Hunderte und Aberhunderte von Schlittenglocken wie ein irdischer Nachhall in das Gewirr, Lachen, Rufen und Jauchzen der Winterfreuden hineinklingen.

 

Die Schlittenglocken sind verstummt, es ist Heiliger Abend; von überallher kommen sie aus den Häusern, Jung und Alt, in Mäntel und Kapuzen vermummt. In das Lampenlicht auf dem schönen Vorplatz vor der Kirche fällt der Schnee, friedevoll und unendlich leise wie ein stummer Segen. Unvorstellbar damals der Gedanke, alles das könnte einmal anders und für immer aus unserem Leben ausgelöscht werden.

 

Seht ihr sie noch? Die Buntfenster an den Seiten des Kirchenschiffes, in der Mitte das Bild des auferweckten Jünglings zu Nain und vorne hoch über dem Altar das Bild Christi mit der wallenden Fahne? Auch hier die beiden Christbäume. Riesen unserer ostpreußischen Tannenwälder, und die Lichter darauf sind kaum zu zählen. Sie stehen seitlich der weißen Marmorkuppel, die wie ein kleiner Tempel sich über dem Altar erhebt. Vier Säulen tragen das bestirnte Gewölbe der Kuppel, an ihren vier Stirnseiten knien Engel. Ein unauslöschliches Bild wie das Purpurlicht über dem Antlitz Christi am Kreuze.

 

Dann das Brausen der Orgel, Kinderchöre mit den vertrauten und jahrhundertealten Weisen, das Lied der Gemeinde, das Weihnachtsevangelium, und in allem die Zuversicht, hier und an dieser Stelle deiner Heimaterde ist dein „Zuhause“, dein Frieden, dein Bethlehem. Mochte der Bauherr der Kirche geahnt haben, in welchem furchtbaren Sinn jenes Wort Wahrheit werden sollte, das er in die Frontseite der Kirche einmeißeln ließ: „Wir haben hier keine bleibende Stätte, sondern die zukünftige suchen wir ...“ Flüchtig und unstet sollte das Schicksal der Kirche werden wie das der Königin, deren Namen sie trug, und der Menschen, die zu ihr gehörten.

 

Erinnerungen, ja ... auch die zwei, drei Tage, die folgten und an denen die Weihnachtsglocken der Heimat an den Abenden über Stadt und Land bis zu den Grenzen als eine Botschaft des Friedens hinausklangen. Das Bahrtuch des Grauens hat über Türme, Glocken, Häuser und Gräber das Stummsein gebreitet oder die Fremdheit, und keine liebende Erinnerung gräbt das darunter Verschüttete aus ... Und doch will es in allem Dunkel und Warten manchmal scheinen, als würden die dort in der Heimat verschütteten und hier in der Fremde ringenden Kräfte einmal das Große vollbringen: dass die Weihnachtsglocken der Heimat wieder klingen werden, wenn der Chor der erlösten Toten sich mit dem der verwandelten Lebenden in der Liebe, Zuversicht und in unerschütterlicher Treue vereinigt.

 

 

Seite 9   Königsbergs ältestes Theatergebäude.

Bis zur Regierungszeit Friedrich Wilhelm I. waren die Theaterverhältnisse in der alten Krönungsstadt schlecht bestellt. Der neue Geist, der mit Friedrich II. zur Herrschaft kam, zeigte sich in Königsberg zunächst darin, dass der König sogleich nach seiner Huldigung den Schauspieler Peter Hilferding die Erlaubnis zu theatralischen Vorstellungen gab und ihn im folgenden Jahr sogar zum Hofkomödianten ernannte, wodurch er ihn der städtischen Gerichtsbarkeit entzog und dem damaligen oberburggräflichen Amte unterstellte. Wohl eiferten die Geistlichen heftig von der Kanzel gegen den verhassten Eindringling, der mit seiner Schar Glauben und Sitte verderbe, aber Hilferding hatte einen festen Rückhalt an der Regierung, mit dem Terror der Pietisten war es zu Ende. Erzwang doch die Regierung, dass ein Schauspieler mit allen kirchlichen Ehren begraben wurde und ein Priester ihm den Segen sprach. Das wäre unter Friedrichs Vater nicht möglich gewesen.

 

Das Theaterwesen gedieh, als im Jahre 1753 der König dem Schauspieldirektor Ackermann den Kreyzentschen Platz schenkte, dadurch entstand hier das erste Theatergebäude der Stadt. Die Eröffnung fand in dem Jahre des 500-jährigen Bestehens Königsbergs statt (1755) und kann als ein Teil der Jubiläumsfeierlichkeiten angesehen werden, die sich vom Januar bis Oktober hinzogen. Im Jahre 1838 musste das Schauspielhaus dem Bau der neuen Altstädtischen Kirche weichen.

 

Zwar wurde das Schauspiel von der immer noch mächtigen Pietistenpartei auf das eifrigste weiter bekämpft und gar der Umgang mit den „Akteurs“ als etwas Unehrliches bezeichnet.

 

Bei der damaligen Einstellung der Bevölkerung ist es kein Wunder, dass auch das Theatergebäude von manchen Leuten als etwas Unheimliches betrachtet wurde und dadurch allerlei Sagen und Legenden entstanden.

 

So berichten die „Neuen Preußischen Provinzial-Blätter“ vom Jahre 1846 im II. Bande auf Seite 203 vom Spuk unter dem Schauspielhause:

 

Die ganze Gegend um das Alte Schauspielhaus neben dem Steindammer Kirchhof und Königsgarten galt für den Sitz des Teufels und der Gespenster, so dass niemand in der Nacht den Platz zu betreten wagte. Unter dem Theater befand sich ein Gewölbe, aus dem allnächtlich ein Reiter ohne Kopf gesprengt kam. Das Gewölbe stand 3 Fuß unter Wasser und war 100 Schritte lang. Man glaubte, es habe in älteren Zeiten unter dem Pregel fort zu einer jenseitigen Kirche geführt und erzählte sich, Verbrecher wären dadurch 12 Meilen von der Stadt entkommen.

 

Einige Beobachter hätten auch Ackermann, den verstorbenen Theaterdirektor, als Gespenst gesehen, andere hätten durch eine Flamme im Gewölbe Schätze entdeckt. Abergläubige behaupteten auch, dass, wer Finger und Zehen eines Geräderten unter der Türschwelle vergrabe, den Erwerb des Hauses vermehre. Hermann Stinz

 

 

Seite 9   Landsleute bitte herhören!

Wir suchen und wer berichtet:

 

Wagenführer Gustav Lakaschus,

 

Herm. Langheim,

 

Helfer Walter Lapuner,

 

Ferdinand Lentzky (K.W.S.),

 

Angestellter Franz Meretz (Sraßen-Bauamt),

 

Angestellter Magull,

 

St.-Ober-Sekretär Otto Mertens,

 

Angestellter Gustav Marienfeld,

 

Oberinspektor Meltzer (Fuhrges.),

 

Stenotypistin Gisela Marold,

 

Steuer-Inspektor Metschies,

 

Helfer Fritz Martin,

 

Gustav Meller,

 

Hans Mikincz (K.W.S.),

 

Angestellte Marie Milk (St-A. 17),

 

Bibliothekarin Müller,

 

St.-Insp. Mandel,

 

Angestellte Charlotte Mey,

 

Familie Gustav Motzkus (Bahnhof Ponarth),

 

Fritz Minuth (Fuhrges.),

 

Techn. Otto Meinz,

 

Meister der Feuerschutz-Polizei Moewe,

 

St.-O.-Sekr. Otto Müller (Schulamt),

 

Tischlermeister Franz Mann (Stadt. Kunstsammlg.),

 

Heizer Herm. Neumann,

 

Wagenführer Kurt Neumann,

 

Beleuchter Karl Nitsch,

 

Uhrmacher Ernst Nöske,

 

Spark.-Angest. Erich Neumann (Feldp.-Nr. 20 692 V),

 

Oberbaurat Dr. Neuffer,

 

Stenotypistin Hildegard Neuffer,

 

Konrektor Hugo Neumann,

 

Tierarzt Theodor Neumann,

 

Spark.Angest. Norkeweit,

 

Michel Naujoks (Lager Pr.-Eylau),

 

Rev.-Gärtner Naujoks,

 

GartenbauInspektor Gustav Naumann,

 

St.-Insp. Hans Nowakowsky,

 

Gartenmeister Erich Neuendorf,

 

St.-O.-Sekrin. Hedwig Olivier,

 

Elektr. Gustav Oschließ,

 

Verm.-Techn. Paul Offen,

 

Abrechner Ernst Passenheim,

 

Walter Petereit (K.W.S.Kasse),

 

Bote und Kraftfahrer Karl Pichottka,

 

Otto Plew (Hebewerk Dorotheenhof),

 

Spark. Hauptrendant i. R. Prauß,

 

Angest. Pöschel,

 

Steuervollz.-Sekr. Waldemar Promp,

 

Eduard Philipp (St.-Hpt.-Buchh.),

 

Angest. Hubertus Parschat (Spark.-Viehmarkt),

 

H. Powels,

 

Stenotypistin Martha Pyrczewski,

 

Dienststellenleiter der Obdachpolizei Petter,

 

Lehrer Horst Poschwalla,

 

Bauaufseher Pflug,

 

Arbeiter Ernst Packheiser (Gasanst.),

 

Arbeiter Putzer (Hafen),

 

Arbeiter Paulusch (Hafen),

 

St.-Insp. Petersdorf,

 

Angest. Rudolf Prenzel,

 

St.-O.-lnsp. Ernst Preuß (Stadtkämmerei),

 

Mittelschullehrer Maximilian Petrat,

 

Rektor Karl Podufal,

 

Wagenführer Hans Quadt,

 

Werkstattschreiber Quednau,

 

Otto Rehse (Wagenführer),

 

Werkmeister Arthur Rettig,

 

Dauerangest. Willi Rettig,

 

Gelderheber Erich Ritter,

 

Monteur Ernst Rogge,

 

Röhrich (Wasserwerk Hardershof),

 

Eugen Rutkowski (G.W.),

 

St.-Insp. Rusch,

 

St.-O.-Insp. Herm. Rehberg (Steueramt),

 

Frau Gertrud Reimann,

 

Angest. Rauchwetter (Wi.-A.),

 

St.-Sekr. Konrad Rogowski,

 

St.-O.-Sekr. Julius Rieck, Angest.

 

Richard Renner (Altersh. Waldau),

 

St.-Insp. Bruno Radtke,

 

Angest. Rieß (St.-A. 49),

 

Bibliothekarin Reger,

 

Emil Reiß (K.W.S.),

 

Schw. Erna Ricklinkat (St. Kr.-Anst.),

 

Lagerverw. Wilhelm Raddatz,

 

Schlosser Reuter (Hafen),

 

Frau Charlotte Ritter,

 

Kartograph Karl Rau,

 

Angest. Renner, geb. Kretschmann (Wi.-A. Domplatz),

 

Arbeiter Rippke und Ritter (Hafen),

 

Stadtobersekr. Franz Reimann,

 

Oberinspektor Ramminger (Fuhrg.),

 

Oberinspektor Roßack (Fuhrges.),

 

Inspektor Ruhr (Fuhrges.),

 

Straßenhilfsaufseher Roose,

 

Frau Doktor Günther Rosenstock,

 

St.-O.Insp. Sarakewitz und Frau,

 

St.-Insp. Karl Seilner,

 

Frau Spanndöck (St.-A. 49),

 

Obergärtner Erich Sprung,

 

St.-O.-Insp. Skibitzki,

 

Brückenwärter Richard Seikowski,

 

Lehrer Saretzki,

 

St.-Insp. Otto Sahm,

 

Lehrer Walter Sand,

 

St.Sekr. Oskar Salomon,

 

Verw.-Lehrling Gerhard Sobotzki,

 

Werkhelfer Fritz Soblowski,

 

Heinrich Schefe,

 

Wagenführer Albert Swakowski,

 

Heinz Scheffler (K.WJS.),

 

Schmied Otto Scheffler,

 

Wagenführer Gustav Schiemann,

 

Vorarbeiter Otto Schönteich,

 

St.-O.-Insp. Walter Schimmelpfennig,

 

Stadtrevisor Schmidt,

 

St.-Sekr. i. R. Hermann Schwarz,

 

Angest. Schwentack,

 

Gartenbauinspektor Schäfer,

 

Verw.-Gehilfe Gustav Schwarzrock,

 

Brückenwärter Heinrich Schrade,

 

Angest. Ellen Schultz (verstorben?),

 

St.-Insp. Schusterius (verstorben?),

 

Kranführer Schlenninger (Hafen),

 

Heizungskontr. Horst Schwarz,

 

Verw.-Ob.-Insp. Schimke,

 

die Hafenarb. Schwibbe, Schmischke, Schöttke und Schirmacher,

 

Wilhelm Schmidt (Pumpwerk, Liepersweg 15 a),

 

Artur Schmidt (Pumkwerk Ratshof, Gerlachstr. 91),

 

St.-Insp. Kurt Schröder,

 

Mag.-Schulrat Max Schimkat,

 

Leiterin Helene Schmidtke (Wi.-A. Sackh.),

 

Betr.-lng. Herbert Schneider (Masch. Amt),

 

Straß.-Aufseher Herm. Schlemminger,

 

Lehrerin Frieda Schlemminger (Volksschule Krausallee),

 

Lehrerin Frieda Schneider,

 

Angest. Schäfer (Wi.-Amt),

 

Meister Schink (Feuerschutzpolizei),

 

Arbeiter Gustav Sahm,

 

Gartenmeister Kurt Schenk,

 

Angest. August Stanzick,

 

Otto Stock (K.W.S.).

 

Anschriftensammelstelle der Königsberger Magistrats-Beamten, -Angestellten und –Arbeiter, (16) Biedenkopf, Hospitalstraße.

 

 

Seite 10   Weihnachtliche Vorfreuden und Vorbereitungen.

Der Bund heimattreuer Ost- und Westpreußen e. V. Berlin schreibt:

Die freudige Erwartung der Vorweihnachtszeit mit dem Aufflammen der erste Adventslichter alljährlich von neuem in alter sieghafter Kraft in Haus und Herz ein. Dass sich alle hoffnungslose Gespanntheit in selige Erfüllung wandelt, dass der Heilige Abend alles emsige Schaffen und alle geheimnisvollen Vorbereitungen festlich krönt, hängt vornehmlich von der liebenden Sorgfalt der Hausfrau und Mutter ab, mit der sie ihre weihnachtlichen Vorkehrungen trifft.

 

 

Für die heimattreue Frau steht die Weihnachtszeit noch in einem besonderen Zeichen. Ihrem Heimatsinn ist es zuzuschreiben, dass die Weihnachtsfeier daheim im kleinen Familienkreise oder in der größeren Gemeinschaft mehr ist als eine der landesüblichen Festlichkeiten, dass sich in ihren Begehungen, Sitten und Äußerungen das vertraute Gesicht der fernen Heimat widerspiegelt. Das heimatliche Gepräge der Weihnachtsfeierlichkeiten wird vornehmlich erreicht durch die sinnvolle Wiederbelebung des heimatlichen Weihnachtsbrauchtums. Die meisten Frauen können sich aus ihren Kindheitserinnerungen heraus noch auf schöne Bräuche und alte Sitten besinnen, die weiter zu pflegen, ihnen zur beglückenden Pflicht geworden ist.

 

Das Ausschmücken des Tannenbaums, des schönsten und zaubervollsten Sinnbildes des Weihnachtsfestes, findet leider nicht mehr überall die liebevolle Beachtung wie in früherer Zeit. „Stilvoll“ nur mit Silberfäden und weißen Kerzen, mit Goldbändern und gelben Lichtern oder in ähnlicher, wohl überlegter Art geschmückt, bietet die festliche Herrichtung des Weihnachtsbaums der kindlichen Phantasie und Betätigungsfreude kaum noch Raum. Jede Mutter aber, die im Nacherleben einstigen Weihnachtsglückes bedenkt, mit wieviel Romantik der „bunte“ Weihnachtsbaum umkleidet war, an dem mit eigener Hand vergoldete und versilberte Nüsse hingen, den selbst geflochtenen Ketten und Körbchen aus buntem Papier, blank geriebene rotwangige Äpfel, ausgesägte und farbig bemalte Figuren schmückten, frischt gern halbvergessene Fertigkeiten und Künste der Kinderzeit auf, um mit ihrer Familie gemeinsam das selige Weihnachtsglück solcher Vorbereitungen zu erleben.

 

Immer neue Weihnachtswunder erschließt die heimattreue Frau ihren eigenen Kindern durch eine recht ausgiebige Mitwirkung bei dem festlichen Teil der Weihnachtsfeier. Weihnachten, das Fest der Kinder, erfordert wie keine andere Festlichkeit bei dem Einüben der Darbietungen die stärkste Beteiligung der Jugend. Wieviel Freude bereitet trotz aller Mühe das Einüben der Weihnachtslieder! Mit welcher Hingabe helfen die kleinen, oft so ungelenken Hände bei der Anfertigung der Ausstattungsstücke, die für die Weihnachtsspiele benötigt werden! Die Herstellung der Kronen oder spitzen Helme aus Goldpapier für die heiligen drei Könige, des drehbaren Sterns für die Sternsinger, des Krippenhäuschens mit seinen Figuren für die „Schoppchenträger“ führt ebenso wie die rechtzeitig begonnene und gut durchdachte Bastelarbeit von Brummtopf und Brummbass oder der für den Schimmelreiterzug benötigten Gegenstände unsere Jugend in ein Zauberreich.

 

Besondere Anforderungen an Verständnis, Geschicklichkeit und Stilgefühl der heimattreuen Frau stellt die Herrichtung der Festtafel. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Symbole des Weihnachtsfestes auch beim Schmuck des weihnachtlichen Tisches vorherrschen. Mit frischgrünen Tannenzweigen, rotbackigen Äpfeln, vergoldeten und versilberten Nüssen, Tannenzapfen als Lichthaltern, farbigen Seiden- oder Papierbändern werden ohne große Kosten ganz wundervolle Wirkungen erreicht. Während der Familientisch schon mit einem geschmackvollen Weihnachtsstrauß, einigen Lichtern, in rote Äpfel gesteckt und vor jedes Gedeck gestellt, sinnig geschmückt erscheint, kommt es bei der Festtafel bei größeren Veranstaltungen hauptsächlich darauf an, die Tischflächen mit dem vorhandenen Material symmetrisch aufzuteilen, durch eine stilvolle Ausschmückung die einheitliche Note herzustellen und durch geeignete Symbole die verbindenden Feieridee wie auch den Heimatgedanken zum Ausdruck zu bringen.

 

In kluger Beachtung der alten Volksweisheit, dass die Liebe durch den Magen geht und in der Erkenntnis, dass der festliche Tafelschmuck allein noch keine restlose Bewunderung zu erwecken vermag, wendet die heimattreue Frau ihre besondere Aufmerksamkeit den Speisen und Getränken der weihnachtlichen Tafel zu. Wenn dem Hausherrn, wie einst in seiner Jugendzeit die unerreichbare Mutter, jetzt die Gattin die alten und beliebten Festtagsgerichte vorsetzt, rückt sie dem Ideal der ost- und westpreußischen Frau wesentlich näher. Zur Weihnachtszeit besinnt sich die heimattreue Frau darauf, dass graue Erbsen mit Speck oder Wurst zu den traditionellen Weihnachtsgerichten der Heimat zählen, dass im Volksglauben jedes Korn dieser segenbringenden Zauberfrucht bedeutungsvoll ist für das Gedeihen von Haus und Hof, die Festigung der Liebe und Ehegemeinschaft, die Fruchtbarkeit in Garten und Feld. Auch Haferbrei und saurer Kumst finden als heimatliche Gerichte, das eine als Sinnbild der Fruchtbarkeit, das andere als unumstrittenes und bewährtes, schon im altgriechischen Kult bekanntes Heilmittel, ihre Beachtung, wenn auch nicht immer ungeteilten Beifall. Ein appetitlicher, mild gepökelter Schweinskopf dagegen wird von keinem echten Landsmann verschmäht und mit demselben Behagen verspeist werden, mit dem in grauer Vorzeit unsere Augen beim Schein des glimmenden Julblocks auf dem Herd sich dem Genuss des Julebers widmeten und den Becher mit dem kräftigen Met kreisen ließen. Süße Mohnspeisen, würzige Hühnersuppe und Karpfen mit der im Osten beliebten Biertunke bilden gleichfalls schmackhafte und glückbringende Weihnachtsspeisen, die nach alter Sitte in den heimattreuen Familien Weihnachten aufgetragen werden.

 

Ein herzhafter „ostpreußischer Maitrank“, bei dem der Wasserzusatz nicht vorschmeckt, ist eine beliebte Beigabe der schweren Weihnachtsgerichte. Wenn die heimattreue Frau Met und Kaddickbier auch nicht mehr selber braut, so holt sie die alten Rezepte Bärenfang und Kaffeelikör, vom Rußer Milch- und Wasserpunsch oder Eiergrog nach den Original-Anweisungen des verewigten Landsmannes Dr. Arthur Kittel umso häufiger hervor. Diese wohlschmeckenden Getränke, die ihren Weg ganz sicher durch die Kehle des Ehegefährten zu seinem Herzen nehmen, sprechen durch ihre Güte und Stärke deutlich für die unumstrittenen Vorzüge der ostdeutschen Küche. ^

 

Volkstümlich - heimatlichen Charakter wie Speisen und Getränke weist auch das Gebäck der Weihnachtszeit auf. Neben dem bodenständigen Fladen, dick mit Streusel oder Butter und Zucker belegt, und dem überlieferten Mohnstriezel spielt das Schmalzgebackene als Festtagsgebäck eine Rolle. Die im alten Volksglauben verwurzelten Formengebäcke wie Reiter, Pferd, Schwein, Henne, Wickelkind, Stern, Herz und Brezel bereiten durch ihre Vielgestaltigkeit gerade den Kindern viel Freude und sind aus Pfefferkuchen- oder Mürbeteig bei Groß und Klein gleich beliebt. Wenn neben Äpfeln und Nüssen unter den käuflichen Süßigkeiten die berühmten Thorner Katharinchen und das weltbekannte Königsberger Marzipan nicht fehlen, dann wird die gefüllte Schüssel in Wahrheit zu einem „bunten Teller“ und zu einer leckeren Zierde des heimatlichen Gabentisches.

 

Der weihnachtliche Gabentisch des heimattreuen Hauses dient einem doppelten Zweck: Er steht zunächst im Zeichen der alten Sitte des Beschenkens und Erfreuens, die schon unsere Vorväter übten, um die guten Hausgeister freundlich zu stimmen und die Zuneigung der Mitbewohner zu festigen; darüber hinaus aber ist der Gabentisch der Heimattreuen ein sichtbarer Ausdruck heimatlichen Gedenkens und deutlich erkennbarer Bindung an die Heimat. Diesem Zweck entsprechen auch die Gaben, mit denen man sich erfreut. Werke heimatlicher Literatur, Liedersammlungen der Heimat, Bildwerke ostdeutscher Maler, Erzeugnisse der heimischen Industrie und Wirtschaft wie Bernsteinschmuck, Webwaren, Stoffe für die heimatliche Tracht, Flickerteppiche und Strickwaren auf dem Gabentisch der Heimattreuen bedeuten nicht nur eine herzliche Freude für Geber und Beschenkte, sondern stellen in gleichem Maße eine sinnfällige Werbung für den Heimatgedanken und eine nicht unbedeutende Unterstützung der im Aufbau befindlichen Wirtschaftsunternehmen unserer Heimatvertriebenen dar, derer alle heimattreuen Ost- und Westpreußen zur Weihnachtszeit mit ganz besonderer Liebeskraft gedenken.

Else Schattkowsky

 

 

Seite 10   Start aus Königsberg.

Am 30. November 1955 wird eine sowjetische Antarktis-Expedition von Königsberg abreisen. Sie wird ihre Fahrt auf zwei dieselgetriebenen Schiffen antreten.

 

 

Seite 10   Gruß an die Heimat. Bundeslied der Ost- und Westpreußen in Berlin. Worte: Erich Schattkowsky. Weise: Freiheit, die ich meine.

 

1.     Heimat, dich zu grüßen

sind vereint wir hier,

freudig aufzuschließen

unsres Herzens Tür

Dir sind wir ergeben,

sei's in Glück und Leid

dir ist unser Leben

immerdar geweiht.

 

2.     Heimat, dich zu preisen,

unser Lied erklingt,

das in hehren Weisen

in die Ferne dringt

über weite Felder

zu den blauen Seen,

über dunkle Wälder

zu den lichten Höh‘n.

 

3.     Heimat, dir zu dienen

treu aus Herzensgrund,

sind wir hier erschienen

in vertrauter Rund'

Zu dir woll'n wir halten

auch in Not und Nacht,

bis wir neu entfalten

unsres Banners Pracht.

 

 

Seite 10   Zum 300 jährigen Stiftungsfest.

Die Errichtung des Regiments zu Fuß von Schwerin vor 300 Jahren, welches 1919 als Grenadier-Regiment Kronprinz (1. Ostpr.) Nr. 1 aufgelöst wurde.

Am 20. Dezember 1655 erteilte Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, den die Geschichte später „den Großen Kurfürsten“ nannte, von Königsberg aus nachstehende „Kapitulation“:

 

„Wir Friedrich Wilhelm von Gottes gnaden Maerggraff zu Brandenburg des Heyligen Römischen Reich Ertz-Cämmerer und Churfürst, zu Magdeburg in Preußen, zu Gülich, Cleve, Berge, Stettin, Pommern, der Caßuben und Wenden, auch in Schlesien, zu Croßen und Jägerndorf Hertzog, Burggraff zu Nürnberg, Fürst zu Halberstadt und Minden, Graff zu der Marck und Ravenperg, Herr zu Ravenstein pp.

 

Geben hiermit allen und jeden, denen es zu wißen nöthig zu vernehmen, daß Wir mit dem Würdigen und Vesten unserm Cämmerern, Obristen Leutenandt und Commandanten zu Colberg auch Lieben Gefrewen Bogislaffen von Schwerin, des Johanniter Ordens Rittern, wegen richtung  Eines Regiements zu Fueß, nachfolgender getsalt capituliret und geschloßen:

 

Erstlich bestellen Wir obgemelten den von Schwerin zu unserm Obristen über ein Regiement zu Fueß dergestalt, daß Er solches Bestehendt in Acht Compagnien jede zu Ein Hundert und Fünfzig Köpffen sonder das Erste Blatt werben und uff die Beine bringen soll, und hat sich der Obriste anheisisch gemacht, solches innerhalb Vier Monatlicher Frist vom Ersten January folgenden Jahres anzurechnen, complet zu liefern.

 

2 Zum Werbegeldt thun Wir Ihm Guth auff jeden Gemeinen Sechs Reichsdahler, da es aber alte Knechte sein, auff jeden Achte, und Ihm das Werbe Geldt von Unß geliefert werden.

 

3 Den Musterplatz soll Er zur Hellfte im Herzogthum Hinter Pommern und zur Hellfte in der Newmarck haben, auch seine Quartier dergestalt nicht beleget werden, daß Er dadurch an seiner Werbung gehindert werden könnte.

 

4 Im Ersten Monaht soll er auff Vierhundert und in folgenden auff Achthundert und im dritten complet tractiret werden.

 

5. Die Fehnlein haben Wir machen zu laßen über Unß genommen.

 

6. Den Staab und das Erste Blatt bey jeder Compagnie thun wir dem Obristen so fort den Ersten Monaht gut.

 

7. Die justitz Bleibt dem Obristen, sowol in Criminal alß allen andern sachen, selbige Kriegßgebrauch nach frey zu exerciren.  

 

8. Wie nicht weniger zum Achten, die Behörige Staabs-Personen, Hauptleute und andere Officirer für sich selbst anzunehmen, auf genügsame erhebliche Ursache und rechtliche erkändtniß einen und andern abzuschaffen und auff was fall sich einige Chargen beim Regiement erledigen möchten, dieselben nach eigenem Guthfinden mit tüchtigen Officirern hinwieder zu bekleiden.

 

9. Wan das Regiement in Schlachten, unvermeidlichen einfällen, renconiren und dergleichen occasionen, durch Pest und andere gefährliche Krankheiten solte ruiniret werden, alstdan wollen wir solches hinwieder zu completiren, die recruiten hergeben laßen.

 

10. Von den Gefangenen, so beym Regiement eingebracht werden, soll die helffte der rancion dem Regiement verbleiben, und die andere helffte muß heimfallen. Was aber vom Regiement durch den Feindt gefangen wirdt, wollen wir auff unsere Kosten zu rancioniren auff unß genommen haben.

 

11. Würde auch der Obriste oder ein anderer Officirer, Er sey hoch oder nieder vorm Feinde bleiben, oder sonst mit tode abgehen, Sollen auff solchen fall deßen Güther und verlaßenschafft auch hinterstelliger Rest, seinen hinterbliebenen negsten Erben unaufhaltllch gefolget werden, und niemand befuget sein, unter dem Schein des Rechtes wieder des Obristen oder seine Officirer dieser Dienste halber einige prätenslon zu formiren.

 

12. Daß Reglement soll nach unserer Verpflegungsordonantz tractiret werden, auch da selbige erhöhet, würde solches Es auch zu genießen haben, würde aber in einem oder andern Monaht die Bezahlung In bahrem gelde nicht eben errfolgen, Soll es gleichwol herrn Dienste  zu thun schuldig sein.

 

13. Bey Abdankung des Regiements oder Licentirung einiger Compagien von denselben, welches doch vor verfließung dreyer Monaht nicht geschehen soll, wollen wir einen jeden, wegen deßjehnigen, so Er möchte ein rest Behalten, nach billigkeit satisfaction geben.

 

14. Gegen diese obstehende puncta verspricht offt erwehnter der von Schwerin, für sich und das gantze Regiement Sr. Curil. Dl und dero Churil. Estat unterthänigstgetrew, holdt und gewärtig zu sein, Deroselben, so lang es Ihro beliebet, und Sie seiner und des Regiements Dienste nöthig haben, in- und außerhalb des Landes zu Waßer und Lande in allen und jeden occasionen, wie die immer vorfallen und sich begeben können, und die nothwendigkeit es von getrewen Ehrlichen und gehorsamen Officirern und Soldaten erfordert, mit ungescheweter freywilliger auffsetzung Leibes und Lebens, Guts und Bluts unter dem Ihm fürgesetzten Capo zu dienen, und sich in allen stücken also zu verhalten und zu erweisen, wie das Ehrlichen Officirern und Soldaten wol anstehet, sich eignet und gebühret.

 

In Uhrkundt haben S. Churfl. Dchl. diese Capitulation eigenhändig unterschrieben und mit dero Insiegel bedrucken laßen, So geschehen zu Königßberg den Zwantzigsten Decembris Anno 1655. Friedrich Wilhelm (L. S.) 

 

 

Ein Schreiben des Kriegsministeriums vom 3. Februar 1887 hatte bereits dem Regiment mitgeteilt, dass diese Kapitulation vom 20. Dezember 1655 im Geheimen Kriegsarchiv mit den alten Musterungsprotokollen aufgefunden worden war. Danach ist die Kolberger Garnison nicht geschlossen — wie bis dahin angenommen —, sondern nur mit einzelnen, jeweils neu angeworbenen Leuten in das Schwerinsche Regiment übergegangen. Somit ist die Errichtung des Grenadier-Regiments Kronprinz Nr. 1 auf das Jahr 1655 und nicht — wie bis dahin angenommen — auf das Jahr 1619 durch den Obristen von Kracht in Küstrin zurückzuführen.

 

Dies wurde dem Regiment unter dem 6. November 1888 durch Allerhöchste Kabinetts-Ordre bekannt gegeben.

 

In der brandenburgisch-preußischen Armee bis 1807 führte das Regiment stets den Namen seines Chefs, der mehrfach ein ostpreußischer Gutsherr war; zweimal Dönhoff, Kanitz, zweimal Stutterheim, Brünneck. Daneben hatte es nach seinem Alter die Stammllsten-Nr. 2. Bei der Scharnhorstschen Heeresreorganisation von 1808 blieben nur 18 geschlossene Truppenteile bestehen, welche nicht vor den Franzosen kapituliert hatten. Da das tapfere Regiment Graf Kunheim Nr. 1 im Herbst 1807 mit dem Blücherschen Korps bei Lübeck hatte kapitulieren müssen, rückte das dem Alter nach folgende Regiment v. Rüchel an die erste Stelle. Im Jahre 1819 beging es nach der alten Überlieferung sein 200-jähriges Jubiläum und bei dieser Gelegenheit wurden ihm die Auszeichnungsschilder mit der Jahreszahl 1619 am Tschako und Säbelgriff verliehen. Es hieß nun 1. Ostpreußisches Infanterie-Regiment. Als der Prinz-Regent, spätere Kaiser und König Wilhelm I. im Jahre 1860 eine Parade der Garnison auf dem Herzogsacker abnahm, ernannte er am 4. Juni, dem 115-jährigen Gedenktag der Schlacht bei Hohenfriedberg, seinen Sohn und künftigen Erben der Krone zum Chef des 1. Infanterie-Regiments. Wenige Wochen danach, als die damals so stark umkämpfte Heerereorganisation zu einem glücklichen Abschluss geführt war, erhielten die Regimenter allgemein wieder die Bezeichnung nach Landesteilen und die 12 ältesten Infanterie-Regimenter den ausgezeichneten Namen „Grenadier-Regimenter“.1864 erhielt das Regiment als Auszeichnung für seinen Chef als den siegreichen Feldherrn im Kriege gegen Dänemark den Namen „Kronprinz“, den es dann 24 Jahre lang getragen hat. Während der 99 Tage währenden Regierung seines Hohen Chefs führte es den Namen Kaiser-Grenadier-Regiment Nr. 1 und trug seinen Namenszug. Dann trug es zu seiner Erinnerung 12 Jahre lang den Namen „König Friedrich III.“ bis zum 6. Mai 1900, wo Kaiser Wilhelm II. den mit 18 Jahren volljährig gewordenen Kronprinzen Wilhelm à la suite des Regiments stellte und diesem die alte Stickerei der Offiziere des Regiments Kanitz bzw. weiße Litzen und am Helm den Gardeadler ohne Stern verlieh, auch den alten Namen „Kronprinz" wieder aufleben ließ. Unter diesem stolzen Namen hat das Regiment dann wie schon 1866 und 1870/1871 auch 1914/1918 gekämpft. Der Kronprinz wurde nach der großen Frühjahrsschlacht in Frankreich am 24. März 1918 Chef des Regiments. Es verlor in seinem letzten Waffengang 5535 Tote, darunter 143 Offiziere und Sanitätsoffiziere.

 

 Im Jahre 1919 wurde das Regiment aus Freiwilligen im Rahmen des Freiwilligen-I. Armeekorps noch einmal aufgestellt und fand im Grenzschutz seiner ostpreußischen Heimat Verwendung. Allmählich erfolgte dann die Überführung des vorübergehend Schützen-Regiment 1 bezeichneten Regiments in das 1. (preußische) Infanterie-Regiment des neuen Reichsheeres. Der Regimentsstab mit Nachrichtenzug und die Minenwerferkompanie wurden geschlossen übernommen; die MG-Kompanien gingen in der neuen 4. (MG)-Kompanie auf, während aus den Schützenkompanien nach Entlassung der Zeitfreiwilligen die 14. und 15. Kompanie des Ausbildungsbataillons aufgestellt wurden. — Beim Aufbau der neuen Wehrmacht im Jahre 1934/1935 wurde dem II. Bataillon, der 13. (JG)-Kompanie und der 14. (PzAbw)-Kompanie des IR. 1 die Überlieferung des ehemaligen Grenadier-Regiments Kronprinz anvertraut. CEzE

 

 

Seite 11   Wie Hermann Sudermann seine „Ehre“ verlor. Eine kaum bekannte Episode aus dem Leben des großen Ostpreußen.

Foto: Kapelenfriedhof im Winterkleid in Tilsit. Aufn.: Austin.

Welche entscheidende Rolle spielt doch oft der Zufall im Leben des Menschen! Lesen Sie bitte die folgenden Zeilen, und Sie werden erkennen, wie sehr ich recht habe, denn nur einem Zufall ist es zu verdanken, dass eines der wertvollsten Werke unseres großen Dichters Sudermann, die „Ehre“, für die Nachwelt gerettet werden konnte, nachdem es durch die Schuld des Dichters in Verlust geraten war. Und ein glücklicher Zufall war es auch, der mich auf die Spur dieses „Ehrverlustes“ führte. Am 6. November 1955 war ich in Berlin, um am 35-jährigen Stiftungsfest des Bundes heimattreuer Ost- und Westpreußen aktiv mitzuwirken, bei welcher Gelegenheit übrigens der verdienstvolle Heimatforscher, Dichter und Komponist Schulrat a. D. Erich Schattkowsky zum Ehrenvorsitzenden ernannt wurde. Während einer Pause machte ich die Bekanntschaft eines kernigen Ostpreußen, des in Wilmersdorf im Ruhestand lebenden Verwaltungsdirektors Georg Samel, eines Schwiegersohnes unseres unvergessenen Dr. Fritz Skowronnek, der im Alter von 82 Jahren in Oranienburg starb und dort auch seine letzte Ruhestätte fand. Schlank und hager, Typ des geraden, untadeligen Beamten, fröhlich und aufgeschlossen, zog er mich ohne große Umstände an einen freien Tisch und kramte aus seinen Erinnerungen die seltsame Episode heraus, die ich nun wiedergeben und damit uns allen und der literarischen Forschung erhalten will. Er tat es mit einem Temperament, das dem 77-jährigen alle Ehre machte, und ich hatte den Eindruck, daß er glücklich war, diese Kostbarkeit weitergeben zu dürfen.

 

Hier muss ich zunächst des bekannten Feuilletonisten Sternau gedenken, der die Begebenheit aus Sudermanns eigenem Munde erfuhr und wenige Jahre nach dem Tode des Dichters im „Berliner Tageblatt“ veröffentlichte. Aber diese Zeitung hatte in Ostpreußen keinen ins Gewicht fallenden Leserkreis, und ich halte es auch für sehr unwahrscheinlich, dass ein Exemplar gerade dieser Ausgabe die „Trümmerzeiten“ überstanden hat. Deshalb ist es notwendig, den „Ehrverlust“ zu neuem Leben zu erwecken. Sternau war in Sudermanns letzten Lebenstagen Gast des Dichters in der Mark und nahm die literarische Lebensbeichte entgegen, die auch diese Episode enthielt. Später, so sagte Sudermann, könnte er sie, wenn er wolle, der Nachwelt zur Kenntnis bringen.

 

Es war in den schweren Anfangsjahren seines dichterischen Schaffens. In seiner Heimat Matzicken im Memelland hatte Sudermann das große dramatische Werk vollendet, das später in die Weltliteratur einging. Nun musste er einen Hamburger Verleger aufsuchen, um seine „Ehre“ zu verkaufen. Erschienen ist das Werk schon im Jahre 1889, und um diese Zeit spielt wohl auch die „verlustreiche Episode“. Der Dichter lebte damals noch in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen und musste sich das Reisegeld „zusammenpumpen“, In dem Rittergutsbesitzer und Ökonomierat Scheu und dem Apotheker Schmidt, die in der Nähe seines Heimatortes ansässig waren, fand er zwei hilfsbereite Freunde. Auch Sudermanns Eltern dürften die Reisekasse ein wenig aufgefüllt haben, obwohl sie mit jedem Pfennig rechnen mussten. In der Schmidt’schen Apotheke hatte der Dichter übrigens in den jüngeren Jahren Tüten geklebt und Pillen gedreht.

 

So trat Sudermann von Heydekrug aus die große Reise an, die zunächst über Tilsit und In Insterburg führte. Er fuhr standesgemäß IV. Klasse, wie es sich für einen armen Poeten geziemte. Als der Zug in den Insterburger Bahnhof einlief, entdeckte er auf dem „Perron“ zwei gute Bekannte, einen Artillerieoffizier und einen Referendar. Flugs wechselte Sudermann über die Plattform aus der IV. in die II. Wagenklasse hinüber, um bei seinen Freunden einen „wohlhabenden“ Eindruck zu machen, und winkte ihnen aus dem geöffneten Fenster stolz und jovial zu. Es gab ein großes Hallo, und die stürmische Begrüßung endete in dem Beschluss eine kleine Bierreise zu unternehmen. Dass es keiner allzu großen Mühe bedurft hat, Sudermann zu dieser Unterbrechung seiner Hamburger Fahrt zu bewegen, kann als sicher angenommen werden, denn der Dichter war ein Freund des Pokulierens. Für Unternehmen dieser Art hat er ja in seinen Werken manche treffende Bezeichnung geprägt und hinterlassen. So sollte also aus Anlass dieses unverhofften Wiedersehens wieder einmal „durchgelumpt“ werden und es begann der Umzug von einer Gaststätte zur anderen im Zeichen der „roten Laterne“, mit der die Lokale ortsfremden Gästen ihre „Damenbedienung“ zur Kenntnis brachten. Kein Chronist wird jemals ermitteln können, welche Mengen ostpreußischen „Maitranks“ und „dreistöckigen Körner“ in jener Nacht von den drei Unentwegten vertilgt worden sind, aber bei der Trinkfestigkeit ostpreußischer Kumpane kann der Leser gewiss sein, dass jeder „letzte“ Schnaps immer wieder zum „vorletzten“ ernannt wurde. Der Morgen tagte, als die Zechgenossen Sudermann zur Bahn brachten und — im Abteil IV. Klasse — nach Berlin verfrachteten. Als er nach einem tiefen und gesunden Schlaf von etwa zehn Stunden Dauer erwachte, galt der erste Gedanke seiner „Ehre“, die er wohl verwahrt in seiner Brusttasche wähnte. Aber die Taschen waren leer, die „Ehre“ war trotz eifrigen Suchens nicht zu finden.

 

Was war zu tun? Sudermann beschloss, auch ohne „Ehre“ nach Hamburg zu fahren und vom Verleger das Geld für die Rückreise zu erbitten. Der kühne Plan glückte, und so konnte er, mit der Fahrkarte nach Heydekrug ausgestattet, wieder, den heimatlichen Gestaden zueilen. Es war ein schwerer Verlust, der ihn getroffen hatte, aber als robuster Ostpreuße ertrug er den Schlag mit Ruhe und Gelassenheit. Ja, es kam ein harter Trotz gegen das Schicksal in ihm auf. Er soll Sternau gestanden haben, dass er nie in der Lage gewesen wäre, das Manuskript noch einmal so niederzuschreiben, wie es in seiner Größe und Klarheit aus der ersten Eingebung entstanden war. Dieser Gedanke mag ihn auch bei der Heimfahrt bewegt und veranlasst haben, die Reise in Insterburg wieder zu unterbrechen, um in einer abschließenden „Durchlumperei“ seinen großen Kummer zu vergessen. So zog er, diesmal allein, noch einmal durch die Gaststätten mit den roten Laternen, und niemand weiß, welche Mengen der tröstenden Labe durch seine Kehle rannen und wer sie bezahlte. Es war mitten in der Nacht, als er ein menschliches Rühren verspürte und die Kellnerin des Lokals, in dem er gerade reichlich „getankt“ hatte, um Laterne und Schlüssel bat, mit deren Hilfe er über den Hof zu einem gewissen Örtchen gehen wollte. Und dort entdeckte er im flackernden Schein des Lämpchens seine „Ehre“. Gevierteilt und auf einen Nagel gespießt, erwartete sie, in ihr Schicksal ergeben, ihr blattweises Ende unter den Händen rauer Zecher, die sie ohne Erbarmen einem zwar nützlichen, aber wenig ehrenvollen Bestimmungszweck zuführten, wie er ihr von ihrem geistigen Vater niemals zugedacht worden war. Ein paar Blätter waren schon in die Versenkung gegangen, aber eben nur ein paar. Sudermann hat dann das Manuskript behutsam vom Nagel gelöst und an sein Herz gedrückt. Zu Hause hat er lange Zeit gebraucht, um das System herauszufinden, nach dem er die Viertelseiten ordnen musste, um seine „Ehre“ wieder herzustellen und der Welt die Urschrift dieses großen Werkes zum zweiten Male zu präsentieren. Bevor er aber die Heimfahrt antrat, auch das ist verbürgt, hat er das Wiedersehen mit seinem wertvollen Manuskript bis in den frühen Morgen hinein so reichlich begossen, wie es dem frohen Anlass entsprach. Und es ist auch ziemlich sicher, dass er dabei immer wieder verstohlen in seine Brusttasche griff, um sich vom Vorhandensein seiner „Ehre“ zu überzeugen.

 

Die Berliner Erstaufführung des Werkes mit der sozial-kritischen Tendenz (im Kaiserreich!) im Lessingtheater am Schiffbauerdamm hatte einen geradezu sensationellen Erfolg und wurde zu einem Ereignis allerersten Ranges. Von hier aus, wo in den folgenden Jahren auch zahlreiche andere dramatische Werke unseres großen Landsmannes ihre Uraufführung erlebten, nahm die „Ehre“ ihren Weg über die Bühnen der Welt. Dr. Alfred Lau

 

 

Seite 11   Betrachtungen über eine Rundfunksendung.

In der Sendung „Alte und neue Heimat“ brachte der NWDR Köln am Samstag, dem 27. November 1955 eine „Betrachtung über die Salzburger in Ostpreußen“ als letzte Hörfolge von vieren, nämlich einer Rundfunkansprache des wiedergewählten Bundesvorsitzenden der Vereinigten Landsmannschaften Baron von Manteuffel-Szoege, einer Betrachtung über die polnischen Versuche, die Marienburg zum „polnischen Nationaldenkmal“ umzuwandeln, einer Erinnerung an Gleiwitz. Da noch die aktuellen Meldungen vorausgegangen waren, blieben für diese Sendung im Falle nur zehn Minuten.

 

Die Sendung war aufgebaut auf dem Dreiklang Salzburg, Gumbinnen und Bielefeld. Markante Stellen der Sendung: Nach einem Trommelwirbel die Bekanntgabe des Emigrationsediktes vom 28.10.1731, bzw. Teile aus ihm. Dann aus einer zeitgenössischen Quelle die Schilderung des Empfanges der Salzburger in Gera, Begegnung zwischen dem Preußenkönig und Salzburgern, Ausschnitte über Verordnungen zur Ansiedlung der Salzburger in Ostpreußen, der Ausspruch eines höheren preußischen Beamten über den Einfluss der Salzburger auf die Hebung des kulturellen Niveaus und des Lebensstandards in Ostpreußen. Schließlich Bezugnahme auf die Patenschaft der Stadt Bielefeld und die Versicherung des österreichischen Bundeslandes Salzburg, das konfessionelle Unrecht durch Betreuung evangelischer Kinder Salzburger Herkunft wiedergutmachen zu wollen. Für die Hörfolge verantwortlich zeichnete Werner Liborius.

 

Eine auf einen so kurzen Zeitraum zusammengepresste Hörfolge konnte naturgemäß nur andeuten. Und damit ergibt sich ganz von selbst die Frage, ob einem so zentralen Problem, wie es die Emigration der Salzburger nach Ostpreußen darstellt, damit gedient ist oder nicht eher geschadet wird.

 

In unserem Artikel über die Salzburger Emigration als Vorlösung der europäischen Frage „wird versucht darzulegen, dass durch die Salzburger Emigration ein sehr wesentlicher Beitrag zur Erhaltung Ostpreußens für das Abendland geleistet worden ist. Nach Tartareneinfall und Pest haben Polen wie Russen nichts dazu getan, das menschenleere und verödete Ostpreußen wieder zu besiedeln, wozu sie ohne weiteres in der Lage gewesen wären. Dass sie also dies verabsäumt haben, nimmt ihnen jedes moralische Recht, dieses Ostpreußen für sich zu beanspruchen.

 

Man hätte dieser Hörfolge schon einen Zeitraum von wenigstens 20 Minuten einräumen müssen, um auch nur das Allernotwendigste zu sagen, um dem Nichteingeweihten — und das sind heute auch bereits schon die ostpreußischen Kinder selbst — verständlich zu machen, worum es bei dieser Salzburger Emigration gegangen ist. Die Ausweisung konfessionell Andersgläubiger stand dem Erzbischof als Landesherrn zu, lediglich die Kürze der Frist und die mit ihr verbundenen Ausweisungsmethoden waren staats- und völkerrechtswidrig. Ferner kam überhaupt nicht zum Ausdruck, dass die Emigration damals als eine gesamteuropäische Angelegenheit betrachtet wurde. Schweden holte sich Salzburger Bergleute. In Holland und England wurden Salzburger angesiedelt. Die Salzburger Emigration war eine für damalige Zeiten grandiose organisatorische Leistung, die ohne Mitwirkung des gesamten protestantischen Abendlandes, das sich in der Augsburger Emigrationskasse beim  Corpus Evangelicorum die finanzielle Grundlage dafür schuf, unmöglich gewesen wäre. Die Bedeutung für Preußen ist auch nicht annähernd dargelegt worden.

 

Wir jedenfalls melden unsere Bedenken gegen eine so oberflächliche Behandlung dieses zentralen Problems durch den NWDR an. hschl.

 

 

 

Seite 11   Dr. Friedrich Schroeder 75 Jahre alt.

Foto: Dr. Friedrich Schroeder

Am 26. November 1955 wurde der Hochschuldozent i. R. Dr. Friedrich Schroeder 75 Jahre alt. Mir, seinem ehemaligen Schüler, sei es gestattet, eine bescheidene Würdigung der Lebensarbeit dieses hochherzigen Menschen und bedeutenden Wissenschaftlers in den folgenden Zeilen vorzunehmen:

 

Als Sohn eines Kaufmanns wurde Friedrich Schroeder am 26.11.1880 in der ostpreußischen Stadt Rastenburg geboren und bestand dort im Jahre 1900 am Königl. Herzog-Albrecht-Gymnasium sein Abiturium. Nach Beendigung seines Studiums an den Universitäten Königsberg und Freiburg i. Br. machte er in Königsberg sein Doktorexamen summa cum laude und erwarb 1905 die Lehrbefähigung für die Oberstufe in Deutsch, Englisch, Französisch und Philosophischer Propädeutik. Im Jahre 1908 kam er als Oberlehrer (heute Studienrat) an die Königl. Oberrealschule auf der Burg in Königsberg/Pr. Es war eine besondere Ehre für den jungen Oberlehrer, dass er schon damals der „Gesellschaft der Freunde Kants“ und der „Königl. Deutschen Gesellschaft“ angehören durfte. 1912 führte ihn ein halbjähriger Studienaufenthalt nach England, dem sich dann in der Folge längere Studienfahrten nach Frankreich, Italien und Nordamerika anschlossen. 1913 wurde er Mitglied der Prüfungskommission für Mittelschullehrer und Rektoren. In den verschiedensten Arbeitsgemeinschaften und Verbänden wurde er zu Vortragsreihen herangezogen und veröffentlichte in Fachzeitschriften und auch in der Tagespresse eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten. Seine schriftstellerische Betätigung fand Anerkennung. In ernster Forschungsarbeit hat er sich mit den Persönlichkeiten Kant und Goethe befasst. Sein besonderes Interesse als Schulmann und Erzieher galt der angewandten Psychologie. 1920 wurde Dr. Schroeder zu den Sitzungen der Reichsschulreform über die Erneuerung des deutschen Unterrichts nach Berlin berufen. Neben seiner erfolgreichen Tätigkeit als Schulmann und Erzieher wurde er auch schon 1920 Mitbegründer der Volkshochschule in Königsberg. Vorsitzender des Verbandes zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur, Ehrenmitglied des Ostpreußischen Schriftstellerverbandes. Die größte Anerkennung seiner wissenschaftlichen Forschungsarbeit und seiner sonst auf vielen geistigen Gebieten gezeigten hervorragenden Leistungen widerfuhr ihm 1929 durch seine Berufung zum 1. Vorsitzenden des Goethebundes in Königsberg. Der dortige Goethebund war ein Kulturring, der mit seinen mehr als 3000 Mitgliedern wohl den Kulturfaktor der in ganz Deutschland als östliches Geisteszentrum geachteten „Stadt der reinen Vernunft“ bildete.

 

Über die Bedeutung des Goethebundes in Königsberg und Ostpreußen und damit wohl auch seines langjährigen und letzten Vorsitzenden, unseres Friedrich Schroeder, heißt es in einem Artikel aus dem Jahre 1952: „Der Goethebund war der Treuhänder und Geschäftsführer des Königsberger Geisteslebens und hat auch das geistige Leben Ostpreußens in weitgehendem Maße befruchtet, was umso wichtiger gewesen, als das Diktat von Versailles Ostpreußen vom deutschen Vaterlande abschnürte“. Wie viel namhafte Größen wurden herangezogen, mit wieviel wissenschaftlichen Vereinigungen und Kunstinstituten strebte der Goethebund nach durchschlagenderen kulturellen Erfolgen! Aus der Liste der Ehrenmitglieder dieser Kulturvereinigung seien hier nur genannt: Louis Corinth, Hermann Sudermann, Arno Holz, Dr. h. c. Ludwig Dettmann, Käthe Kollwitz, Dr. Max Halbe, und Dr. h. c, Agnes Miegel. Friedrich Schroeder hatte es sich in der Leitung des Goethebundes zur Aufgabe gemacht, das instinktive Heimatgefühl von Stadt und Provinz durch anregendes Wissen und eigene Anschauung um ihre Gegenwart und Vergangenheit zu vertiefen und zu stärken, ihre anerkannten und aufstrebenden Exponenten einem größeren Publikum zu erschließen und mit führenden Köpfen Gesamtdeutschlands in Lebens- und Zeitfragen, die alle angingen, in Fühlung zu bleiben. Soweit die kulturell bedeutsame und von vielen Stellen Deutschlands anerkannte Arbeit Friedrich Schroeders bis zu dem unglücklichen Fortgang aus seiner Heimat Ostpreußen.

 

Dass er auch in Schleswig-Holstein nach 1945 sich nicht geistig zur Ruhe setzte, darf noch besonders hervorgehoben werden. In Wüster, seinem ersten Wohnort nach der Flucht, war er an der Gründung der Volkshochschule beteiligt. Bald bekam er dann eine Berufung auf den Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur an der Pädagogischen Hochschule in Flensburg. Als Hochschuldozent wurde er mit Vollendung seines 68. Lebensjahres in den Ruhestand versetzt und verbringt nun in seltener Rüstigkeit und geistiger Aufgeschlossenheit seinen Lebensabend in Itzehoe. Die Volkshochschule Itzehoe und die Landsmannschaft Ostpreußen, der er sich in echter Heimattreue verbunden fühlt, sind dem Jubilar zu aufrichtigem Dank verpflichtet. Dem Menschen Schroeder, der in seinem immerwährenden Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit, in seiner Begeisterung für alles Edle und Schöne und in seinem hochherzigen Bekennermut uns allen ein leuchtendes Vorbild bleiben wird, sollen unsere tiefempfundenen und dankbaren Wünsche zu seinem Ehrentage auch auf diesem Wege übermittelt werden. Schulrat i. R. Richard Grohnert, Itzehoe

 

 

Seite 12   Landbriefträger Ernst Trostmann erzählt

Liebe ostpreißische Landsleite!

Ach nei, ach nei, was hab ich bloß mit die Kuigelei angericht! Se wissen doch, schlachten kann ich unserm Pochel nich, weil er so treiherzige Augen hat, und verkauft krieg ich ihn auch nicht, weil er zu fett is. In meine große Bedrängnis hädd ich Ihnen aller um e gutem Rat gebeten, und nu versauf ich direkt in Briefchens und Karten. Aus alle Himmelsrichtungen kamen se geflattert, und ich hab Tag und Nacht gewiehlt und gelesen, und komm und komm nich durch. Ei die Handschriften missen Se mal sehen! Augenpulve, Kriggel-kraggel, und denn noch Plattdeitsch mit eigene Ortogravieh. Erbarmen sich! Manche haben ja sehr scheen und leserlich geschrieben, e paar sogar mitte Maschien, aber de meisten ebend doch so, dass einer wie e Pollizeihund riechen missd, was das eigentlich bedeiten soll. Da missd de Emma rann, und mit e geborgtes Vergreeßerungsglas haben wir uns denn in die Wildnis miehsam zurechtgefunden. Wenn aber alles nuscht mehr half, denn hab ich anne Knöpfe abgezählt. Nu hab ich gute Ratschläge zum Aussuchen wie beim Säsong-Ausverkauf innes Warenhaus. De meisten sind doch fieres Schlachten, was e richtiger Ostpreiße is, der will was Handfestes fierem Bauch. Sogar unsre weichherzige Frauens sind dafier. So schreibt zum Beispiel Frau Ella Schalnat aus Hildesheim:

 

Lieber Trostmann, lass Dir raten,

Der Kuigel gibt 'nen Festtagsbraten.

Mach, bitte, einen großen Schmaus

und lad uns alle in Dein Haus.

Ich setz mich still in eine Eck

Und koch mir Königsberger Fleck.

 

(Aber Madamche, doch nich vom Kuigel! Ich besinn mir wirklich nich, dass das in Insterburg ieblich war.

 

Der Podschus reißt sich unterm Nagel

E Stickche vonnem Schweinezagel,

Und unser lieber Dokter Lau

Macht unterdeß die Fleischbeschau.

 

So geht es weiter — ich hab e bißche korregiert! — bis wir, gestärkt und getreestet, bald nach Hause fahren können.

 

Auch de Frau Treinies-Krogh aus Hamburg denkt zuerst annem Magen und schickt mir dem gut gereimten Rat:

 

Du sagst, de Sau die is zu fett .. ?

Na heer bloß auf zu liegen ..

So drittehalbe Zentnerchens

Das muss de Sau doch wiegen!

Du sagst, dass ihr nich schlachten kannst. ?

Willst ihr lebendig essen .. ?

Bei Silzkopp und bei Karmenad

Wirst Juljus-Franz vergessen!

.. und tu mit frische Griebchens nich

Dem Magen Dir verrenken.

E Teller Spirgels kannst emmend

Mich altes Muttche schenken!

 

In Groß-Girratischken bei Skaisgirren wurd, mir scheint, besonders gut gegessen! Aber ich hab gar nich gewusst, dass unter die Ostpreißen so viele Dichters giebt! De Frau F r o h m e aus Hannover (das Fr. heißt doch nich womeeglich Friedrich?) hat e andrem Vorschlag:

 

Schaff dem Zäsar, falls ein Mann,

Doch e liebes Frauche an!

Bald sind denn der Ferkel drei (e bißche wenig!)

Welche scheene „Schweinerei“

Und welch scheenes Stickche Geld! —

Ob's dem Bauerochs' gefällt?!

 

Und nu kommt e kleines Mädchen (stimmt das?) aus Hildesheim, Adelheid Wiesemann. Ihr is was ganz Besondres eingefallen:

 

Ruf doch den Zaubrer Simsili,

Der kann Dir helfen! — Komm und sieh:

Ein Marzipanschwein!! O welch Jubel,

Das wird verputzt im Weihnachtstrubel.

Und alle Kinder, -Groß und Klein,

Die finden sich zum Schlachtfest ein.

 

Noch ein Wiesemännchen meldet sich, und zwar aus Unterlüß-Celle. Ihr seid doch bestimmt verwandt, oder nich, Manfred? Der schreibt, ich soll dem Kuigel versteigern lassen:

 

Mit dem Erlös fährst Du nach Haus.

Und baust Dir dort ein schönes Haus.

Mich nimmst als Untermieter rein,

Vergessen war dann alle Pein ---

 

(Wenn Du nun aber doch ein Wiesemann bist, denn hab ich mir ebend geirrt, und Du musst als alter Moosgrunder Spaß verstehen.)

 

So, nu is aber genug gedichtet, sonst denken Se emmend, wenn e Ostpreiß dem Mund aufmacht, denn kommt immer foorts e Vers raus. O nei, es giebt auch noch ostpreißische Landsleite, wo nich dem Dichteritus haben, z. B. der Herr Albert Ciekaitis aus Lehre bei Braunschweig. Dabei is er einer von die wenigen, wo e gefiehlvolles Herz haben und dem Kuigel leben lassen wollen. Er erzählt von seinem Hundche in Ostpreißen, wo langsam alt geworden war und nu der Knecht totschlagen solld. Aber der schmiss dem Possekel weg und war nich dazu zu bewegen. „Da nahm ich ihm inne Hand, und der Knecht sagd: „Du hast dem Herrn treu gedient und den Hof bewacht, und jetz will er dich totschlagen!“ Da hab ich dem Hund wieder nach Hause gefiehrt und ihm gut gefittert, bis er gestorben is. Und wenn Ihnen Ihr Schweinche so an Herzen liegt, wie mir damals mein Hund, dann machen Sie es, wie ich’s gemacht habe!“ Bravo, lieber Landsmann Ciekaitis. Aber wenn der Kuigel nu immer dicker wird, denn muss ich ja den Stall anbauen!

 

E langem prattdeitschem Brief kriegd ich aus Württemberg, aber der Schreiber besteht dadrauf, dass ich seinem Namen nich nennen darf. Warum eigentlich nich? U. a. schreibt er: „Dä eene segge, öck häbb noch de Melkhoar, on de andre segge, mien Kopp ös am Schömmle. Man mott jedem recht gäwe, denn kömmst noch am beste torecht! Moak man so, wie et bi oarme Lied togeiht. Keep Di e grotem Steentopp, on wenn de Pochel so fett ös, denn broatst em als Schmolt ut, on de Grewe an de Röppes möt rön noa unde öm Topp, doa ös noch nuscht verdorwe. Denn nuscht geiht öwer Röppspeer möt e Stöck growet Brot on e gode Kornus! On wenn Du dem Kuigel schlachte deist, denn nömm e langet Messer, sonst geiht Di wi ons ohlem Nachtwächter tohus. Dem siene Su wog säwe Zentner, on he mussd erscht de Dät utbräke, dat he se rutkreeg. Denn wer dat Messer to kort, on wie he de Su värem Kopp haud, doa full se öm Schloap, obber se weer nicht dot. Nu mußde e poar Mann de Su behuckte, on denn keem he mött e Schleppsäg an. Ohne Kopp kunn se denn nich mehr läwe.“ „Ja, mein lieber Landsmann aus Württemberg, ich glaub Dir gern, dass das vor 45 Jahre bei Eich so gewesen is, aber mir geht es heiß und kalt ieberm Puckel, wenn ich mir diese Prozedur im Geiste vorstell. Und wer das liest, dem wird es genauso gehen wie mir. Aber Gott sei Dank haben wir heite ja die Meeglichkeit, dass das Schweinche gar nuscht von merkt, wenn ihm de Lebenspust ausgeblasen wird.

 

De Frau Minna Jenett aus Mehrum, Kreis Peine macht sich die Sache e bißche zu leicht. Ich soll dem Zäsar auf Susi umtaufen, und mit die Jahre wird er denn emmend doch, so hofft se, e Dutzend Schweinekinderchens kriegen. Aber was mach ich, wenn die nu auch zu fett werden und treiherzige Augen haben? Denn hab ich nachdem zwölffache Sorgen! Ich glaub auch nich, dass der Zäsar „umlernt“. Haben Se das im Kreis Pillkallen mal ausprobiert? Ganz gewitzt is der Oberschüler Erhard Reinbacher aus Clenze/Hannover. Der giebt mir dem Rat, Pastetchen zu backen und aufern Jahrmarkt zu verkaufen, aber fragen Se nich, was in die  Pastetchens drin sein soll. Dazu hat er noch zwei hibsche Bilderchens gemalen. Und das Platt,  schreibt er, hat er von meine Geschichtchens gelernt. Lassen Se man Ihre  Jungens und Mergellens plattdeitsch lesen und sprechen, dass es nich mit die Zeit ganz vergessen wird.

 

So könnd ich nu immer weiter von die Briefchens erzählen, wo ich hier aufem Tisch drin rumwiehlen tu, aber einmal muss ja auch Schluss sein. Bloß schnell noch ein Leser (oder Leserin?) aus Volmarstein, wo nich emal m i r ihrem Namen verraten will, weil se sonst nich ostpreißisch erzählen kann. Se hadde im ersten Weltkrieg e kleine Sau von deutsche Soldaten geschenkt bekommen, weil se kein Futter mehr hädden. „Dä beide Schwien, wo öck hadd, hebbe ähr obber gebäte. Se schreeg tom Gotterbarme, on ons Ernst ging önne Bucht rön on verpemsd dä Kräte. Obber et half nuscht. Doa nehm öck ähr rut on geef ähr e Extra-Bocht. On dat Suke wurd ganz toahm on motte Tiet schmeet et acht Farkels. Dä ginge möt ähr äwerall spazeere, on eenem Dag find öck dä Kräte aller ön miene Stoaw, on de Kiekel oppem Dösch opp miene Afräknungsbeeker önne Sonnke ligge. Beklackst hadde se tom Glück nuscht. On de Su leeg utgestreckt, on öck schoawd ähr dem Buk möttem Schlätelbrett, on se grunzd behoaglich on hadd de Ooge togeknäpe. Obber wenn e Fremder keem on wull ähr striekle, denn Sprung se opp wie e Blötz on schmeet em foorts om. Utet Huus kreeg ähr keiner rut, denn musste se mi roope! On wie se denn de Klompe oppsette mussd, doa bön öck weggerennt, dat öck de Hecke verlor. On äte kunn öck ook nich e Happke von ähr. Öck häbb alles de Soldoate gegäwe. Sehne Se, Herr Trostmann, so wart dat ook bi Enne wäre! Dat ös nu moal nich andersch!“ Diese scheene und gemietvolle Sau-Geschichte wolld ich Ihnen doch nich vorenthalten. In dem Brief stehen noch e paar andre Erlebnisse auße Heimat, die sind auch sehr intressant, aber die kriegen Se erst zu lesen, wenn der Verfasser (oder die Verfasserin?) mir ihrem Namen mitteilt. Ich schreib dem Namen bestimmt nich inne Zeitung rein, aber ich möchd ihm gern erfahren, weil ich glaub, dass da noch mehr Heimaterinnerungen „rauszuholen“ sind, wo wir uns aller drieber freien können. Geben Se Ihrem Herzen e Stoß und schreiben Se mir! Ja, aber nu de Preisverteilung! Wie soll einer da nu e gerechtes Urteil fällen? Was fängt einer in solch eine Lage an? Scheenstem Dank an alle, wo geschrieben haben, besonders an die, wo nich gedruckt sind. Schreibt man weiter, wenn Ihr was von zu Haus zu erzählen habt, vleicht haut es auch bei Eich mal hin! Was es is, is ganz egal, bloß lustig muss es sein. Heite hab ich mir folgendermaßen entschieden: Einem Preis kriegt Frau K. Karasch, Eutin/Holstein, und einem kriegt Herr Dr. Paul, Leichlingen. Die beiden Biecherchens sind all unterwegs, und die beiden Zuschriften finden Se auf diese Seit abgedruckt. Is der Brief heite lang geworden! Dabei wolld ich Ihnen auch noch allerhand erzählen, aber ich muss nu aufheeren, sonst schimpft der Herr Redaktöhr. Verleben Se scheene und gemietliche Weibnachtstage und schraggeln Se frisch und gesund iebre Schwell vonnes Neie Jahr! Vergessen Se auch nich das Glickgreifen und dem Silvester-Grog, soweit de Dittchens reichen. Das winscht Ihne mit viele herzliche Ostpreißengrieße Ihr alter Ernst Trostmann, Landbriefträger z. A.

 

 

Die beiden Preisträger schrieben:

 

Lieber Ernst!

Mensch, was hab ich mir immer ieber Deine Briefe inne Ostpreußen-Warte gefreit, aber immer, wenn ich zu Feder und Papier greifen wolld, denn hat de Bertha, wo doch nu mal meine Frau is, gesagt: „Paul, Du mit Deine ungleiche Fingers kannst ja doch keinem vernimftgen Brief schreiben, ieberlass das man die Federfuchsers!“' Aber nu hilft aller nuscht, ich muss Dir in Deine Bedrängnis mit Deinem Pochel als Dein Freind doch mit Rat helfen. Ich mein man, wenn Du vernimftig wärst, denn sollst ihm doch zu Wurscht machen. Ich kenn ja Dein Herz, das so weich is wie Maibutter inne Sonn, aber Du brauchst dem Franz oder Julius doch nich selbst zu schlachten, lass Dir doch dem Fleischer kommen, der hat bestimmt mehr Kurasche wie e Landbriefträger z. A. Sieh mal, Du und Deine Emma, ihr klagt immer von wegen die zu knappe Dittchens. Mensch, Ernst, nu liegen de Dittchens doch vore Tier! Lass dem Fleischer den Kuigel schlachten und zerteilen, aber Du und de Emma, ihr macht denn anständige Leber- und Blutwurst, richtig mit Meiran, Bohnenkraut und Feffer, dann setzt e Annongs inne „O.-W.“ von wegen angereicherte ostpreußische Leber- und Blutwurscht, und Du wirst sehen, das Geschäft blieht, denn hier können se ja alle keine richtige Wurscht nich machen. Na, und von die Dittchens kaufst Dir denn beim Kuppscheller zwei kleine Pochels un so weiter. Wir Landsleite wirden uns de Fingerchens ablutschen nach die Trostmannsche Wurscht, und Du hast e gutem Zuschuss zu Deine Pängsion.

 

Aber wenn Du das nu absolutemang nich willst, denn wissd ich noch was Besseres. Besinnst Dir noch, Ernst, wie wir noch auf Holzschlorren inne Schul beim alten Endrikat gingen, da kam denn manchmal auch so e Zirkus inne Kreisstadt, und wenn der Olle uns zwei Dittchens spendierd, denn gingen wir fein inne Nachmittagsvorstellung. Und weisst nu noch, dass da frieher immer e dummer August mit e dressiertes Schweinche inne Manäsche kam? Mensch, was haben wir immer ieber die Kerdels gelacht! Inne spätere Jahre is das mit die dressierte Schweine auße Mod gekommen. Aber ich mein man, se suchen doch ieberall neie Addakschonen oder wie das dammlige Wort heißt. Nu is Dein Kuigel Julius doch schon so scheen zahm, und Du verstehst Dir doch im Umgang mit schwierige Lebewesen, wie Du ja auch mitte Emma und dem Bauerochse fertig wirst. Emmend sollst doch auch mit dem Pochel fertig werden! Sieh man, Ernst, Deine Emma und meine Bertha kriegen uns ja auch immer anne Kandarr, indem daß se uns mal Kartoffels mit dinne Schmunzelsoß aufem Tisch stellen, wenn wir mal e bißche ieberm Durst getrunken haben, oder se geben uns orndlich Erbsen mit scheenem, durchwachsenem Bauchstick, wenn se von uns Geld fier e neie Blus oder sonstwas haben wollen. Ich mein man, wenn Du Deinem Kuigel so mit das Fressen langsam auf die Method dressierst, denn kannst ihm schon zu was bringen. Der leift Dir bestimmt wie e Hundche nach, und wenn mittem Eimer klapperst, denn springt er bestimmt auch ieber e Hird. Was meinst, was de Schweinchens fier gelehrige Tierchens sind, die kannst Du allerhand beibringen. Ich hädd mal so e ziemlich großem Kuigel aufem Hof, wo immer frei rumlaufen dirfd, und meine Jingste, die Urte, die wo nu de Hiehner- und Eierschul durchgemacht hat, die hädd dem Lorbaß von kleinauf immer betreit, und nu war er zahm wie e Hund, se dirfd auch immer auf ihm reiten, von was mal so e Mann auße Stadt e scheene Aufnahm gemacht hädd. Aber die hat nu der Iwan, und der wird denken: „Germanski nix Kultura, reit sich auf Schweinl“ Na ja, so mein ich man, Du sollst ihm dressieren und denn im Friehjahr mal bei so e Zirkus versuchen, Du wirst bestimmt scheene Dittchens verdienen. Aber natierlich mussd ihm jetz erst mal e bißche aufe schlanke Linie bringen, denn sonst is er bestimmt zu faul. Du kennst doch dem Endrikat sein Sprichwort, wenn wir e bißche viel zu Kleinmittag verdrickt hädden: Voller Bröch studiert nich gern! Und mitte Emma mach Dir man keine Sorgen, die hat doch e scheenem Busen, vleicht setzten se die anne Kass von wejen die junge Lorbasse, wo ja immer e bißche was sehen wollen, wenn se im Zirkus gehen. Und e gutes Mundwerk hat se ja auch, um die junge Bengels und ihre Mergellens de Bullerlosche anzudrehen. Ich mein man, mit meine guten Ratschläge hab ich mir nu e Leberwurscht oder Freibilljets fier mir und de Bertha verdient. Es grießt Dir herzlich Dein Freind Paul

 

 

Lieber Landsmann Trostmann

Was hast du mit Juljus doch fier Sorg,

Wo nich mal es Kuigel is, bloß man e Borg!

Zu futtern da warst du ihm stets bereit,

Doch ihm nu zu schlachten, das tut dir leid.

Verkaufen? Mannche, du bist wohl verricktl

Der wird geschlacht un denn „verdrickt“!

Denn all deine Arbeit — ich will dir nich prahlen —

Die is doch nich mit kein Geld zu bezahlen.

Vor einem Jahr, da gingst du ihm kaufen,

Denn gabst ihm Schleidermilch du zu saufen

Und hast ihm mit Griesklei aufgezogen,

Bes er so an fuffzig Pfund hat gewogen.

Doch hat er denn mal schlecht abgefiehrt,

Denn hast ihm mit G!aubersalz kuriert.

Denn bist jedem Tag nach Molke gerannt,

Hast beim Nesselflicken de Händ dir verbrannt.

Und de Nachbar'sche lachd, — ließd du ihm raus —,

Denn din Juljus sah wie es Windhund aus.

Denn gingst aufe Felder zum Ährenlesen,

Denn bist mittem Korn aufe Miehl gewesen,

Wo der Miller draus dem Schrot hat gemacht,

Denn hast dem Pungel nach Haus gebracht,

Mit Kartoffelstoppeln dir „abmaracht“,

Vor Kreizschmerzen konndst nich schlafen de Nacht.

Auch Holz gingst lesen, dass bloß de Mutter

Konnd kochen viel Kessels voll Schweinefutter.

Aus Schrot und Kartoffels wurd dicker Drank,

Und der Juljus der putzd dem Trog immer blank.

Der „Einschlag“ is ihm auch gut bekommen,

Im Zusehens hat er zugenommen,

Und wie im hast „mitte Augen gewogen“,

Hat er all foorts drei Zentner „gezogen“. —

Ging de Emma denn mit Futter im Stall,

Wo der Juljus am Trog stand, dick un prall,

Mit e großem Kader und Backen so feist,

Denn weckd se ihm immer II ein „im Geist“.

Doch wenn du ihm frisch hast eingestreit,

Hast dich auch all auf „saure Spirgel“ gefreit.

Drum, Trostmann, vernimmt hier nu meinem Rat

Und setz ihm denn auch gleich um inne Tat:

Zu Weinachten kitzelst dem Juljus am Hals,

Denn kriegst foorts e großem Topp voll Schmalz.


 

Gepökelt werden de Schinken, der Bauch,

Und nach vier Wochen hängst alles im Rauch.

Auch dem Zagel haust inne Pökellak rein,

Im „sauren Kumst" schmeckt der nachher fein.

Inne Rauchwurscht nich dem Salpeter vergessen,

Denn rosige Wurscht magst noch mal so gern essen.

Inne Leberwurscht Meirahn wegnem Duft,

Und auch viel Zippels, denn das giebt Luft!

De Zung, die kommt innem „Presskopp" rein,

Und mich, — mich lädst denn zu „Schmeckwurst“ ein.

 K. Karasch.

 

 

Seite 12   Lustige Stunden mit Dr. Lau.

Dr. Alfred Lau, der Verfasser der ostpreußischen Gedichtbändchen , „Schabbeibohnen“ und „Plidder-Pladder“, erschienen im Verlag Gräfe & Unzer, hat sich bereit erklärt, anlässlich von landsmannschaftlichen Veranstaltungen der Kreis- und Ortsgruppen im Bundesgebiet Rezitationen aus seinen humorvollen Arbeiten in ostpreußischer Mundart und Platt vorzutragen. Eventuelle Anforderungen bitten wir, direkt an Herrn Dr. Alfred Lau, Bad Grund (Harz), Hübichweg 16, zu richten. Da Herr Dr. Lau beruflich tätig ist, kommt nur das Wochenende in Frage. Honorar wird nicht beansprucht, nur die tatsächlich anfallenden Unkosten bittet Herr Dr. Lau, ihm zu vergüten.

 

 

 

Seite 13   Unsere weihnachtliche Bücherschau. Dr. Ottomar Schreiber: „Erbe und Aufgabe des Deutschen Ostens“.

 

Reden und Aufsätze, herausgegeben von Dr. Fritz Gause. – Gräfe & Unzer Verlag München. – 160 Seiten, mit einem Photo Dr. Schreibers. Leinen 11,50 DM

Erbe und Aufgabe des Deutschen Ostens Dr. Ottomar Schreiber: „Erbe und Autgabe des Deutschen Ostens". — Reden und Aufsätze, herausgegeben von Dr. Fritz Gause. — Gräfe & Unzer Verlag München. — 160 Seiten, mit einem Foto Dr. Schreibers. Leinen 11,50 DM.

 

Überall, wo der fast aussichtslos erscheinende, und deshalb nur als umso notwendiger empfundene Kampf um die Rückgabe unserer geraubten Heimat geführt wird, ragt ein Name aus der Vergangenheit in die Gegenwart: Dr. Ottomar Schreiber. Einst Präsident des Memelland-Direktoriums, nach der Vertreibung Mitbegründer, erster Sprecher und zuletzt Ehrenpräsident der Ostpreußischen Landsmannschaft, bis 1945 Staatssekretär im Bundesministerium für Vertriebene. Aber seine wahre Bedeutung geht über das, was diese Titel umschließen, weit hinaus. In seinen Überlegungen und seinem Wirken ist er nicht provinziell gebunden, sondern sein Herz und sein leidenschaftliches Kämpfen gehören dem ganzen Deutschen Osten. Er ist kein Mann der billigen tagespolitischen Schlagworte, sondern ein ernster Wissenschaftler großen Formats, der sich eine geschichtliche Schau erarbeitet hat, die dem Werden und der Bedeutung des Deutschen Ostens in unwiderlegbarer Weise gerecht wird. Groß ist die Zahl der Reden und Aufsätze, in denen er diese Schau und die sich aus ihr zwingend ergebenden Forderungen klar, sachlich, überzeugend und maßvoll dargestellt hat; und niemand, der guten Willens ist, kann seine Stimme überhören.

 

Aus der Vielzahl der vorhandenen Unterlagen hat Dr. Fritz Gause die markantesten Äußerungen mit dem kämpferischen Herzen unter dem Titel „Erbe und Aufgabe des Deutschen Ostens“ zusammengefasst. Es ist äußerlich nur ein Aneinanderreihen von Teilstücken mit einigen unvermeidbaren Wiederholungen, in Wahrheit aber weit mehr: Eine schlüssige Beweiskette, in allen einzelnen Gliedern fest fundiert und begründet, das Werden und Wachsen des gegenüber dem Westen um rund tausend Jahre jüngeren ostdeutschen Bruders, die rechtliche und sittliche Rechtfertigung der Inbesitznahme des Ostraumes, der Prozess der echten Verschmelzung als Voraussetzung zur Volkwerdung und zur eigenständigen Leistung. Unter der Wucht seiner Beweisführung brechen alle Zwecklügen zusammen. Nichts mehr bleibt vom „Kolonialland“ und vom „preußischen Imperialismus“, und aus der „niederen Kultur" wird eine einmalige geschichtlich-kulturelle Großtat, von der das gesamte Abendland heute noch zehrt und lange zehren wird, wenn es das Erbe des Deutschen Ostens bewahrt. Wie präzise und dem einfachsten Menschen verständlich sind Schreibers Formulierungen, wenn er z. B. feststellt, dass das Abendland mit der Preisgabe des ostdeutschen Raumes „seine Wachstumsspitze nach Osten" vernichtet hat.

Unerbittlich — bei aller Mäßigung — seine Abrechnung mit dem polnischen Imperialismus und mit dem Widersinn der Oder-Neiße-Linie, nach meinem Empfinden das Herzstück des Buches. Damit will ich aber nicht sagen, dass die anderen Themen etwa eine weniger wertvolle Behandlung gefunden haben: Der landsmannschaftliche Gedanke, das Recht auf Heimat, Memels ostdeutsches Schicksal usf. Es ist eine Fülle grundlegender Erkenntnisse, die auch den Gegner zum Nachdenken zwingt, und eine nicht zu überhörende Mahnung an das Abendland. „Die Leistung unseres Volkes im Osten hat dieses Und zu einem Teil des Abendlandes gemacht, durch den deutschen Niederbruch ist der Raum des Abendlandes zur Elbe zurückgeworfen: denn der Eiserne Vorhang scheidet eine Kraft aus unserer Welt aus, die das Beste von dem umschließt, was wir in der Geschichte unseres Volkes schmerzvoll errungen zu haben glaubten“.

 

Ich habe das Buch aus der Hand gelegt mit dem Bewusstsein, trotz guter Kenntnis der geschichtlichen Zusammenhänge erst in ihm die unverrückbaren Marksteine gefunden zu haben, die das Gewissen braucht, um eine gerechte Sache vor jedermann vertreten zu können.

 

„Wenn man das einmal so sieht", sagte Schreiber in einer Rede in der Hamburger Universität im Jahre 1949, „dann gewinnt man ein besonders sicheres Verhältnis zu all den Geschichtsphilosophien und neuen Geschichtsbildern, die man uns seit einigen Jahren zu bringen versucht“. Dieses Rüstzeug für unsere große Aufgabe sollte sich jeder aneignen, der an irgendeiner Stelle für die verlorene Heimat streitet und schafft.

 

Es ist das besondere Verdienst des Gräfe & Unzer Verlages, dass er in Erkenntnis seiner großen Verantwortung diese Sammlung noch im Todesjahr unseres Dr. Schreiber herausgebracht hat. Seine Stimme schweigt, aber seine Reden und Aufsätze lassen nun keine Lücke aufkommen in seinem unermüdlichen Ringen um Wahrheit und um das Recht. Auch die weltpolitischen Kräfte, die den Torso des großen Zusammenbruches neu zu ordnen haben, können an diesen Erkenntnissen auf die Dauer nicht achtlos vorübergehen. Und so wird Ottomar Schreiber weiterwirken und den Weg bahnen helfen aus einer dunklen Gegenwart in eine lichtere Zukunft. Dr. Alfred Lau.

 

 

Wie die Wirtschaft funktioniert.

Von Professor Dr. Horst Wagenführ: 480 Seiten mit über 300 Zeichnungen, Karten, graphischen Darstellungen und Übersichten, dazu 16 Schwarzweiß-Fototafeln und 16 dreifarbige Tafeln mit graphischen Schaubildern und Karten. Ganzleinen DM 9,80. C. Bertelsmann Verlag, Gütersloh.

 

Gibt es ein „Deutsches Wirtschaftswunder"? Die Welt spricht davon, und der Wiederaufbau unserer Städte, das Anwachsen der deutschen Industrieproduktion, die Steigerung der Ausfuhr deutscher Waren ins Ausland scheinen diese Meinung zu bestätigen. Dennoch wollen die Stimmen nicht schweigen, die uns auf die Schattenseiten dieser Entwicklung hinweisen. Wir verdienen zwar heute mehr als vor 10 oder 20 Jahren, die Löhne der deutschen Industriearbeiter sind seit 1948 sogar um 100 Prozent gestiegen, aber folgen die Preise nicht ständig nach? Und erst die Steuern! Wie verwendet der Staat die Unsummen, die ihm monatlich und jährlich zufließen? Welches Vertrauen dürfen wir in die Entwicklung unserer Wirtschaft setzen? Können wir unser Geld getrost zur Sparkasse tragen, ohne eine neue Entwertung fürchten zu müssen? Oder sollen wir es lieber in Sachwerten anlegen, vielleicht einen Bausparvertrag abschließen oder ein Fernsehgerät kaufen, bevor die Preise wieder anziehen? Müssen wir eines Tages mit Lohnkürzungen, mit der Verlängerung unserer Arbeitszeit rechnen, damit noch mehr und billiger produziert werden kann, oder stehen wir endlich vor der Einführung der 40-Stunden-Woche? Fragen über Fragen! Sie rühren unmittelbar an das Gefüge unserer Wirtschaft und lassen sich nur dann beantworten, wenn wir uns mit den Kräften vertraut machen, die das Räderwerk der Wirtschaft treiben oder zügeln.

 

„Wie die Wirtschaft funktioniert" ist eine aktuelle Wirtschaftskunde, die der Bertelsmann Verlag soeben als Band 1 einer neuen Reihen, der „Bertelsmann Bildungsbücher", vorlegt. Prof. Dr. Horst Wagenführ spürt darin die Einflüsse der Wirtschaft auf allen Gebieten des privaten und öffentlichen Lebens auf, klärt Worte und Begriffe, die zum Vokabular aller Zeitungen gehören, und gibt, ausgehend von praktischen Beispielen, ein lebendiges und übersichtliches Bild vom Ablauf des Ganzen und seiner inneren Zusammenhänge. Der Autor, einem weiten Leserkreis durch sein Buch „Schöpferische Wirtschaft" sowie durch mehrere umfassende Veröffentlichungen aus verschiedenen Wirtschaftsbereichen bereits bekannt, steht selbst als Berater großer Industrieunternehmen und Wirtschaftsverbände mitten in der Praxis.

 

Das sehr sorgfältig ausgestattete Werk enthält auf 480 Seiten über 300 Zeichnungen, Karten und graphische Darstellungen, die den Text lebendig veranschaulichen, außerdem 32 ein- und mehrfarbige Tafeln.

 

Wirtschaft ist heute nicht mehr Sache einzelner; sie geht jeden an, der als Arbeiter, Angestellter oder Unternehmer im Wirtschaftsleben steht. Dieses Buch ist ein ausgezeichneter Weg dazu, die Zusammenhänge der Wirtschaft zu verstehen — und daraus die Nutznießung für den eigenen Berufsalltag zu ziehen.

 

 

Hans Schnoor: Oper, Operette, Konzert.

Ein praktisches Nachschlagbuch für Theater- und Konzertbesucher, für Rundfunkhörer und Schallplattenfreunde. 560 Seiten mit über 400 Notenbeispielen und Zeichnungen, dazu 32 Kunstdrucktafeln mit 172 Fotos von Komponisten und Interpreten. Leinen 8,50 DM. C. Bertelsmann Verlag, Gütersloh.

 

An Hand ausführlicher Charakteristiken von fast 200 Komponisten und ihrer Werke vermittelt dieser neue „Praktische Ratgeber“ des Bertelsmann Verlages einen umfassenden Überblick über das Musikgeschehen unserer Tage, wie es sich etwa in den Programmen der Konzertveranstaltungen und Rundfunksendungen oder auf den Theaterzetteln der Bühnen niederschlägt. Der umfangreiche, sehr sorgfältig bearbeitete Stoff wurde aufgegliedert in ausführliche Würdigungen der einzelnen Komponisten — Biographie, Entwicklungsgang, Schaffensgebiete, Bedeutung in der zeitgenössischen und heutigen Musikwelt usw. — und in übersichtliche Darstellungen ihrer wichtigsten, heute noch lebendigen Werke. Bei allen bekannteren Musikschöpfungen wurden Entstehungszeit, Uraufführung, Spieldauer, Orchesterbesetzung und — bei Opern und Operetten—das Besetzungsverzeichnis angegeben. Inhaltsbetrachtungen und Werkanalysen erschließen jede einzelne Tondichtung. Bei jedem Werk werden genaue Angaben über vorhandene Schallplattenaufnahmen gemacht, dabei wurden auch Anmerkungen über Orchester und Solisten nicht übersehen.

 

Über 1000 Musikwerke, von der Oper und Operette über das Orchesterwerk bis zum Chorwerk, werden dem Musikfreund durch dieses Buch erläutert und aufgeschlossen. Zahlreiche Abbildungen von Komponisten und Interpreten, auf 32 Kunstdrucktafeln zusammengefasst, lockern zusammen mit mehr als 400 Notenbeispielen und Zeichnungen den Text auf. vom unmittelbaren Gebrauchszweck des Buches bestimmt wurden die Abschnitte über die Komponisten und ihr Werk nach den Namen alphabetisch angeordnet und je nach dem Umfang des Schaffens übersichtlich untergliedert, so dass mit Hilfe der Seitentitel jede gewünschte Einzelauskunft schnell und mühelos aufgefunden werden kann.

 

Ein einleitender Überblick gibt eine Übersicht über die Welt der Tonkunst, behandelt die wesentlichen Grundbegriffe der Musik und ihre Entwicklung von der Antike bis zur atonalen und elektronischen Musik. Weitere Kapitel besprechen die verschiedenen Instrumente, den Aufbau der wichtigsten Orchesterformen, den Gang einer Operninszenierung, die Kunst der Interpreten und die Entwicklung von Funk und Schallplatte als Musikmittler. Ein kleines Lexikon musikalischer Begriffe ist dem Buch angefügt.

 

Dr. Hans Schnoor, dessen vor einigen Jahren im Verlag C. Bertelsmann erschienene „Geschichte der Musik" neben vielen anderen Veröffentlichungen Zeugnis über das reiche musikwissenschaftliche Schaffen des Autors ablegt, hat mit diesem neuen Werk ein Buch geschaffen, das dem Theater- und Konzertbesucher ebenso wie dem Rundfunk- und Schallplattenfreund ein unentbehrlicher Ratgeber und praktischer Leitfaden durch die Welt der Musik sein wird.

 

 

Unsere Kinderchens

Lustige Geschichten und Gedichte in ostpreußischer Mundart. Gräfe und Unzer Verlag München. 44 Seiten. Broschiert DM 2,--.

 

Für den diesjährigen Weihnachtstisch ist gerade noch rechtzeitig ein Büchlein erschienen, das in Vers und Prosa alles zusammenfasst, was es über unsere ostpreußischen Kinderchens zu sagen gibt. Über die Butzer und die Genossen, über Lorbass und Mergellchen, über Oma und die Dienstboten in ihrem Verhältnis zu den Kindern. Kinderspiele und -reime, Aufsätze und Schulhumor folgen in buntem Wechsel, und ein Schlafliedchen beschließt das Büchlein. In gemütlichem Tonfall, mit vielen vertrauten heimatlichen Worten „schabbert" die ostpreußische Rezitatorin Marion Lindt von all den genannten Dingen, zum Teil in eigenen Dichtungen, zum anderen in volkstümlichen Redensarten. Und eine ganze Reihe anderer ostpreußischer Autoren haben zu dem Inhalt beigetragen. So ist daraus fast eine praktische Anweisung für den Umgang mit ostpreußischen Kindern geworden, die man schmunzelnd oder laut lachend zur Kenntnis nimmt. Eugen O. Sporer, München, hat eine nette Umschlagzeichnung dazu geschaffen. Wir wünschen dem Büchlein einen guten Erfolg.

 

 

„Unser Ostpreußen"

In der ansprechenden ostdeutschen Kalenderreihe des Verlages Hellmut Möckel, Leer/Ostfr., erschien soeben der Bildkalender

 

„Unser Ostpreußen 1956"

 

Dieser Kalender bringt auf 25 großformatigen Blättern Fotos aus allen Teilen Ostpreußens, von der Küste wie vom Innern des Landes, von den ostpreußischen Bädern wie von der Hauptstadt Königsbergs; einzelne Bilder zeigen Szenen aus dem Volksleben, andere die Schönheit großer Kunstwerke. Jedes Bild wird begleitet von einem erklärenden Text oder von dem Wort eines ostpreußischen Dichters. Ferner erhält jedes Kalenderblatt neben dem übersichtlichen Kalendarium den Ausspruch eines großen Landsmannes sowie wichtige Gedenktage der ostpreußischen Geschichte.

 

Der Kalender, der von unserem Landsmann Dr. Georg Dabinnus bearbeitet ist, bildet mit seinem großen würdigen Format und seinen schönen Bildern ein Schmuck für jedes ostpreußische Heim. Der Preis von 2,80 ist bei der vorzüglichen Ausstattung sehr gering bemessen.

 

 

Unser Danzig

Auch der Kalender Unser Danzig 1956 (2,80 DM) bringt auf 25 großformatigen Blättern Fotos aus Danzig und seiner schönen Umgebung, Bilder von Kunstwerken, Bauten und auch von alltäglichen, aber dem Danziger vertrauten und lieben Winkeln. Jedes Bild wird ebenfalls begleitet von erklärendem Text oder von dem Wort eines Danziger Dichters. Neben dem übersichtlichen Kalendarium enthält jedes Kalenderblatt den Ausspruch eines großen Danzigers und wichtige Gedenktage aus Danzigs großer Geschichte.

 

 

„Unvergessenes Land"

heißt ein Quartettspiel, das in 40 Karten mit farbigen Bildern, Texten und Landkarten jenen Teil unserer deutschen Heimat zeigt, der noch von uns getrennt ist. Die Marienburg, der Dresdener Zwinger, der Magdeburger Dom und der Marktplatz von Hirschberg — viele vertraute Bilder aus den zehn abgetrennten Ländern werden während des Spiels zu neuem Leben erweckt. Jedes Quartett setzt sich aus einer kleinen Landkarte und aus drei Spielkarten mit herrlichen Stadtbildern des entsprechenden Gebietes zusammen. Die drei Bildkarten jedes Quartetts sind mit einem aufschlussreichen Text versehen. Das ansprechend gestaltete, gediegene Quartettspiel ist durch den Sebastian Lux Verlag in Murnau vor München erhältlich (Preis 1 DM).

 

 

Das gute Jugendbuch <II>

Neuerscheinungen des Ensslin & Laiblin-Verlages Reutlingen.

 

Nachdem wir in der November-Nummer die diesjährigen Jugendbücher des Bertelsmann Verlages, Gütersloh, besprochen haben, bringen wir heule eine kurze Betrachtung über die Neuerscheinungen des Ensslin & Laiblin-Verlages, Reutlingen, der sich ebenfalls von jeher die Pflege des guten Jugendbuches zum obersten Leitsatz seiner Verlagsarbeit gemacht hat.

 

Siegfried Winter, Das große Flieserbuch, 301 Seiten mit 40 Fotos, Ln. 8,50 DM. Wenn heute nach der Wiedererlangung der Souveränität die Jugend der Bundesrepublik wieder Segelflug- und Motorflugsport treiben kann, wenn die Deutsche Lufthansa sich unter den internationalen Luftverkehrsgesellschaften rasch wieder nach vorn gearbeitet hat, dann ist ein Buch wie das vorliegende so recht am Platze für ein Weihnachtsgeschenk. Denn welcher deutsche Junge möchte nicht auch einmal diesem ewigen Traum der Menschheit, sich frei in den Lüften bewegen zu können, nachhängen und alle Stationen durchlaufen, die die Fliegerei durchmachen musste, um zu der gegenwärtigen Höhe zu gelangen. Die Sage vom Ikarus als die ewige Sehnsucht des Fliegenkönnens, der fliegende Mensch Leonardo da Vincis, der Heißluftballon der Montgolflers, der Todessturz Lilienthals und die ersten geglückten Versuche der Brüder Wright, das sind die einführenden Kapitel zu den Berichten über die abenteuerlichsten Flüge von berühmten Segel- und Motorfliegern, die das Einmalige, Herrliche, aber auch Gefährliche ohne jede Phrase zeichnen. Namen aus dem ersten Weltkrieg werden dem Leser in Erinnerung gerufen: Immelmann, Boelcke, Richthofen. Die Kameradschaft der Flieger im zweiten Weltkrieg findet ihr hohes Lied.

 

Und dann zeigt das Buch, welche kühnen Leistungen die Fliegerei vollbracht hat, um das Wissen der Menschen zu erweitern, mit der Ju 52 über dem Dach der Welt, Lindberghs Flug über den Atlantik, die Eroberung der Arktis. Idealisten haben dabei ihr Leben hingegeben, damit aus ihren Opfern die Wirklichkeit wurde, was ihnen selbst zu erleben nicht vergönnt war.

 

Natürlich kann man auch lesen, wie man Flugkapitän wird. Dabei wird mancher erkennen, dass er das niemals schaffen wird, was verlangt wird, um am Steuerknüppel einer Super-Konstellation zu sitzen. Und auch mit Raketen und der Weltraumforschung und -eroberung beschäftigt sich das Buch. Es ist spannend und atemraubend geschrieben. Es wird jeden fesseln, der erst einmal darin geblättert hat. Klar, dass sich jeder Junge es zu Weihnachten wünscht.

 

Fellze Knott. Sabine und der Luftballon. 63 S., Lackierter Pappdeckel, für siebenjährige Kinder. Zeichnungen Brunhilde Trautwein. Das ist wieder so ein echtes, rechtes Ensslin-Buch. Die kleine Sabine lässt einen Luftballon, mit ihrer Anschrift versehen, fliegen, der von einem kleinen Jungen, Rainer, gefunden wird. Es entwickelt sich daraus eine schöne Kinderfreundschaft. Die netten, lustigen Zeichnungen verleiten zum langen Betrachten und Nachdenken.

 

 

Fritz Steuben, Müllers ziehen um, S. 171, Halbl. 4,80 DM. Zeichnungen von Ulrik Schramm.

 

Für Mädchen ab 10 Jahre. Fortsetzung von „Zwei Mädel wie Hund und Katze". Vater Müller ist Schriftsteller, der im Neckarland lebt, obgleich er und Mutti Norddeutsche sind. Eines Tages hat er so viel verdient, dass er sich in seiner holsteinischen Heimat ein Haus kaufen und dort leben kann. Steuben ist ein guter Erzähler, der vor allem auch das „Schwäbeln" heraushat, dass man aus dem Lachen nicht herauskommt. Diesen Umzug der Familie Müller muss man miterlebt haben. Es ist nicht nur für zehnjährige Mädchen eine lustige Lektüre.

 

 

Hansi Keßler, Zu viert nach Italien, S. 183, Ln. 5,80 DM. Für Jungen und Mädchen ab 14. Mit 25 Fotos. Zeichnungen von Rudolf Misliwietz. Karte von Gottfried Wustmann. Eine Italienreise, wie man sie sich nicht netter vorstellen kann, weil sie von einem echten Familiensinn getragen ist, der das Trampen von Jugendlichen ohne Aufsicht Erwachsener ausschließt, weil es dem deutschen Ansehen schädlich ist, dafür die gemeinsame Fahrt von Eltern und Kindern und deren Schulfreunden zu einem wirklichen Erleben der Schönheiten Italiens werden lässt. Eine gute Vorbereitung auf eine richtige Italienfahrt. Herbert Schlobies.

 

 

„Der Deutsche Gartenfreund"

Ein Wegweiser zum Gartenglück und zur Freude an der Blumenpflege ist der im Energie-Verlag Heidelberg seit Jahren erscheinende Tagesabreißkalender:

 

„Der Deutsche Gartenfreund", der jetzt für 1956 vorliegt.

 

Die Texte auf den Rückseiten der täglichen Abreißblätter wurden von zwei unserer bekanntesten Fachschriftsteller aus der Fülle ihrer Erlebnisse und Erfahrungen heraus geschrieben. Der Kalender plaudert von allem, was für ein erfolgreiches Gärtnern im Blumen-, Gemüse- und Obstgarten wissenswert ist, und gibt Ratschläge für die Blumenpflege im Heim. Die Rückwand mit ihrem farbenprächtigen Strauß Chrysanthemum carinatum bildet einen hübschen Wandschmuck.

 

Der „Deutsche Gartenfreund 1956" kann von allen Buchhandlungen, Papier- und Schreibwarengeschäften oder direkt vom Energie-Verlag Heidelberg zum Preise von DM 2,10 bezogen werden.

 

 

Seite 14   Im Weserbergland liegt der „Kaiserhof“. Lycker als Gastronom in Holzminden – Bei Willi Witt aus dem „Alten Rathauskeller“

Wer das liebliche Weserbergland durchstreift, gleichgültig ob mit der Bahn, mit dem Auto, mit dem Faltboot oder auch mit dem Rad, der wird überrascht sein von der Fülle landschaftlicher Reize, zu denen nicht wenig auch die viele Jahrhunderte alten Städtchen beitragen mit ihren Bauten aus dem 15. und 16. Jahrhundert, den verträumten Gässchen und vielen Wassermühlen, deren Rauschen an Gebirgsdörfer erinnert. Uralter Kulturboden birgt unzählige Zeugen einer berühmten Vergangenheit. Ein solches Städtchen ist auch Holzminden an der Strecke Altenbeken — Kreiensen. Ungefähr 24 000 Einwohner, mit etwas Industrie, einer Glashütte, einem Holzverzuckerungswerk und Sperrholzfabriken, die Gastwirte und die kleinen Mädchen freuen sich, dass auch der Grenzschutz hier eine Garnison hat. Auch die  Staatl. Hochbauschule bringt manchen Groschen nach Holzminden.

 

Und wer als Ostpreuße eine Stätte zum Ausruhen aufsuchen will, er findet im „Kaiserhof" eine liebevolle Aufnahme bei einem ostpreußischen Landsmann, dem Gastronomen Willi Witt aus Lyck, wo er in der Straße der SA 67 die Gaststätte „Zum Alten Ratshauskeller“ besaß.

 

In der Unterhaltung mit dem Ehepaar Witt wird ein gut Stück lieber Erinnerung an Ostpreußen wach. Die Frau Witt stammt aus Insterburg und hat unter Rektor Anbuhl noch die dortige Mädchen-Mittelschule in der Forchestraße besucht. Wie klein die Welt dabei doch ist! Da kommt eines Tages auch ein Gast zu ihnen. Man gerät ins Plachandern. Und es stellt sich heraus, dass zu gleicher Zeit der Gast das Insterburger Gymnasium besucht hat, das unmittelbar an die Mädchen-Mittelschule grenzte, so dass die Schneebälle der Gymnasiasten und Realgymnasiasten oft auf den Hof der Mädchen-Mittelschule flogen und dort manche holde Maid trafen — oder auch eine Lehrerin, die gerade Aufsicht führte. Herr Witt ist gebürtiger Neidenburger. Er gehört zu jenen Ostpreußen, die mit Zähigkeit und Beharrlichkeit sich wieder eine neue Existenz aufgebaut haben. Bis 1952 war er in Bad Gandersheim. Allerdings nicht in selbständiger Position. Dann traf sich die Möglichkeit, den „Kaiserhof" zu übernehmen, Hotel und Gaststätte auf dem Platz vor dem Wilhelm-Raabe-Denkmal. Das Darlehn, das Witt erhielt, war klein, davon ging der größte Teil auch noch für die Kaution drauf. So musste aus dem Nichts heraus das wieder aufgebaut werden, was der Vorgänger heruntergewirtschaftet hatte.

 

Heute kann Witt sagen, dass er aus dem Gröbsten heraus ist und aus dem heruntergekommenen „Kaiserhof" wieder eine geachtete und gern besuchte Gaststätte gemacht hat. Die Tische sind gut besetzt. Am Mittwoch, Sonnabend und Sonntag findet in einem kleinen, aber gemütlich ausgestatteten Saal Tanz statt. Auch bei Witt findet man auf Speise- und Getränkekarte die vertrauten ostpreußischen Spezialitäten. Drum, wer durchs Weserbergland kommt, muss unbedingt bei Landsmann Witt im „Kaiserhof" zu Holzminden einkehren. Er wird dort gut aufgehoben sein.

 

 

Seite 14   Foto: Dr. Ingeborg Baatz ist Oberstudiendirektorin an der Anna-Vorwerk-Schule in Wolfenbüttel geworden. Damit tritt wieder eine Ostpreußin in eine führende Stellung des öffentlichen Arbeitslebens.

 

Dr. Ingeborg Baatz ist in Königsberg (Pr.) geboren; sie besuchte dort das Hufen-Oberlyzeum, an dem sie 1933 die Reifeprüfung ablegte. Sie studierte dann in Königsberg und München. Während des Krieges arbeitete sie in Rostock, Straßburg und Wien. 1948 kam sie an die Städt. Oberschule für Mädchen Kleine Burg nach Braunschweig, an der sie bis Oktober 1955 als Studienrätin tätig war.

 

Menschliche Qualitäten, Bildung und Neigungen machen Frau Dr. I. Baatz für diese neue Stellung besonders fähig. Schon in der Oberschule in Braunschweig gründete sie den „Ring", einen Schülerklub für internationale Freundschaft. In dieser „Weltfreunde-Organisation", die in Verbindung mit dem „Internationalen Arbeitskreis Sonnenberg" steht, hielten Redner des In- und Auslandes ausgezeichnete Vorträge. Eine weltoffene und weitgespannte Denkart ist Frau Dr. B. eigen, große Initiative, ein Erbteil des Ostens, das auch in ihrem neuen Wirkungskreis Eingang finden wird.

 

Sie wird bemüht sein, die Tradition und den guten Ruf auf der Anna-Vorwerk-Schule in Wolfenbüttel zu bewahren und zu vergrößern, die Schülerinnen nach modernsten Gesichtspunkten zu unterrichten und 60 im Geiste der Pädagogin Anna Vorwerk zu arbeiten. Bei der Erziehung der Schülerinnen zu Selbstverantwortung bleibt ihr immer die alte Schule in Königsberg (Pr.) in Erinnerung, die auch nicht nur Wissen vermittelte, sondern die Schülerinnen zu ganzen Menschen erzog.

 

Was wir Frau Dr. I. B. wünschen, ist dies: dass sie nicht aufgerieben wird im Strudel des Großbetriebes, sondern dass sie Zeit findet für die großen Aufgaben, die sich ihr auf diesem Wirkungsplatz öffnen, und dass sie den Geist des Ostens auch an dieser Stätte zur Wirkung bringen möge. Jürgen Bodschwinna.

 

 

Seite 14   Vermisstenschicksale ostpreußischer Pioniere warten noch auf Klärung.

Vergesst niemals die Schicksale unserer tapferen Verteidiger Ostpreußens, die noch immer ungewiss sind. Die Angehörigen und Kameraden sorgen und bangen sich um sie. Nicht alle Pioniereinheiten aus Ostpreußen haben sich zu Kameradschaften zusammengeschlossen.

 

Es bestehen nur die Kameradschaften des Pi.-Batl. 11 u. 126 (H. H. Neumann, Helmstedt. Friedrichstraße 10) und Pi.-Batl. 41 (Herbert Bussick, Essen-Altenessen, Fundlandstr. 13).

 

Doch die Angehörigen warten auf Klärung des Schicksals und so kommen die Suchbitten auch an die Suchdienstverbindungsleute dieser Kameradschaften. Haben doch viele Vermisste, gerade in den Pi.-Batl. 1, 11, 21 und 41 im Frieden gedient und sind mit diesen eng verbunden. Darum erhofft man von uns Hilfe.

 

Aus dem Pi.-Ers.-Batl. 311 (Lötzen) wurde die Sturm-Pi.-Brigade 46 (Kampfr. Lötzen — Balga — Pillau) die dann in Pillau die Sturm-Pi.-Brigade 627 aufnahm. Doch weiter ist uns leider nichts bekannt. Nicht alle Pionier-Einheiten aus dem Kampfraum Balga—Pillau kennen wir. Sie haben der Nachwelt ihre Kriegsgeschichte nicht übergeben (sowie die 21. L-D. und die 11. I.-D. — Ende in Kurland —). Bei Balga kämpften die Reste des Pi.-Batl. 1 und Pi.-Batl. 243 und wurden zum Pi.-Batl. 156 (südlich Balga 18.03. - 29.03.). Dort waren ebenfalls die Männer eines Pi.-Parks eingesetzt und ergaben die Kampfeinheit (Nr. unbekannt) des Hauptmanns Hand. Die Geschichte der 21. I.-D. erwähnt in diesen Endkämpfen die ruhmreichen Pi.-Batl. 21 und die Landungspioniere des „Papa Henke". Es fehlen aber neben den Div.-Pionieren der 1. I.-D., 21. I.-D., 61. I.-D., 55. I.-D. und Div. Großdeutschland die Heerespioniereinheiten.

 

Gleichfalls schwer ist die Suche nach den Vermissten des (He.)-Pi.-Batl. 50 (ostpr.) ehem. Pi.-Komp. 665 (Endkämpfe Brandenburg a/Havel) und des Pi.-Batl. 160 (ostpr.) (in der 60. I.-D. Danzig) in Stalingrad. Um Hilfe aller ehem. ostpreußischen Pioniere wird gebeten. Helmut Gronen, (20a) Celle Hugoweg 2 I

 

 

Seite 14   Dr. med. Friedrich Spurgat, Gumbinnen 90 Jahre alt.

Am 9. Dezember 1955 wird der ehemalige prakt. Arzt und Oberstabsarzt d. L.a. D. Dr. Spurgat, geb. 1865, 90 Jahre alt. Nach Studium, Staatsexamen und Promotion in Freiburg, wo er seine — 1941 verstorbene — Lebensgefährtin fand, ließ er sich in Gumbinnen nieder, wo sein Vater Regierungsbeamter war. Den ersten Weltkrieg machte er als Bataillonsarzt bei den Gumbinner Roon-Füsilieren (33ern) und anderen Formationen mit. Nach der Vertreibung aus der ostpreußischen Heimat wurde er noch bis Herbst 1946 in Köslin zurückgehalten. Er lebt jetzt in völliger geistiger Frische und guter körperlicher Verfassung mit seiner Tochter, der Arztwitwe Annixe Wilke, in Holxen bei Uelzen.

 

 

Foto: Das Banner des MTV. Lyck in Danzig 1934 beim Ostlandturnfest (Ernst Grego, Fritz Neubauer, Helmut Gronen und Gescfiw. Rewitz)

 

 

Seite 14   Völkerverbindende Arbeit der Grenzland –Turner.

Mitglieder des Männer-Turn-Vereins Lyck von 1877 haben auf Anregung des letzten Oberturnwarts Adam Lojewski für ein Turner-Archiv in Briefen und Bildern die Geschichte des Vereins neu erstehen lassen und damit ein Urkundenwerk geschaffen das Nachahmung verdient. Zwei Briefe befassen sich u. a. mit turnerischen Erlebnissen an der Grenze und wecken die Sehnsucht, dass solches doch bald wieder möglich sein möchte. Die Turnerin und Turnerfrau Elfriede Stodollik schreibt:

 

Als ich 1900 nach Lyck kam, war 1. Vorsitzender des MTV Lyck Stadtrat Kaufmann Becker, 2. Vorsitzender Juwelier Walter Adam, 1. Turnwart mein Mann, Franz Stodollik. Der Verein stand turnerisch in hoher Blüte und ebenso auch gesellschaftlich bis 1914. In den Jahren 1912 und 1913 gab es für den 1. Turnwart ein schönes menschliches Erlebnis. In einer der wöchentlichen Turnstunden erschien ein höherer russischer Offizier in Begleitung eines jungen russischen Leutnants und bat, zuschauen zu dürfen, da sein Begleiter auch Gymnastik treibe. Natürlich wurde es erlaubt und dem Leutnant auf Wunsch auch gestattet, mitzuturnen; er zeigte sehr gute Leistungen. Seinen Begleiter zurücklassend ging der ältere Offizier in die Stadt, was damals etwas alltägliches war, da viele russische Offiziere und namentlich auch Offiziersdamen die Stadt, Garnison und Geschäfte, besuchten. Die Turnstundenbesuche der beiden Russen wiederholten sich bis in den Herbst 1913, dann kam einmal der ältere Offizier allein, erzählte, dass sein junger Kamerad nach der Krim versetzt sei und bedankte sich aufrichtig für die schönen gemeinsamen Stunden. Damit hatte diese Episode ein Ende. —

 

1914 beim Einzug in Lyck wurde der Vorsitzende, Stadtrat Becker mit noch fünf  angesehenen Herren von den Russen als Geisel nach Wladiwostok verschleppt und kehrte erst nach Kriegsende in die Heimat zurück. Mein Mann mit Familie flüchtete nach Neustettin (Pommern), von wo er am 1. April 1915 von der damaligen Stadtverwaltung Lyck (Kom. Bürgermeister Auschwitz) zur Leitung der Städt. Sparkasse berufen wurde, nachdem er ein Angebot des Neustettiner Gymnasiums, als Turnlehrer dort zu bleiben, ausgeschlagen hatte.

 

Der Turner Helmut Gronen schreibt:

 

1935 herrschte noch die reine Vernunft im Osten. Herrlich und friedlich lag in den Masuren die Natur. Friedlich waren auch ihre Bewohner; und das waren auch ihre Nachbarn in Polen. Als 1935 der Sportverein „Masovia Lyck" im polnischen Grajewo ein Freundschafts-Fußballspiel austrug (ein Sonderzug aus Lyck brachte Schlachtenbummler mit), weilte die Jugend-Handballmannschaft des Männer-Turn-Vereins Lyck in Prostken zu einem Pflichtspiel. Nach diesem Spiel hatten wir viel Zeit bis zur Rückfahrt nach Lyck und wir beschlossen, uns jenseits der Grenze in Grajewo das Fußballspiel anzusehen. Aber — ohne Ausweis, ohne Pass? Der deutsche Zoll gewährte uns den Übergang, wenn uns die polnischen Zollbeamten wieder zurücklassen würden. Wir fragten höflich an und sie gaben uns die Zusicherung. Nun stand nichts mehr im Wege und wir marschierten nach Grajewo. Nach dem Spiel machten wir einen Stadtbummel und ließen uns das gebratene Hühnchen mit Piwo (Bier) gut schmecken. Bei Piwo und Wodka wurde es sehr gemütlich. Zur Grenze zurück fuhren wir sogar mit einer Panjekutsche. Wir hatten einen schönen Sonntag in Polen verlebt.

 

Einige Zeit später kamen die Polen zum Gegenspiel nach Lyck und fühlten sich in unserem Städtchen auch wohl.

 

Zehn Jahre später hat sich die Welt so verschlechtert, da sswir nicht mehr in unsere Heimatstadt Lyck können. Sogar im eigenen Deutschland können wir Deutschen nicht von Westdeutschland nach Mitteldeutschland und umgekehrt. Auch wir Turner aus Lyck sind dadurch getrennt; und doch sind wir noch eins und halten fester denn je die Freundschaft. Gingen wir damals gemeinsam nur durch die reine Vernunft der Zöllner zweier Nationen über die Grenze, so appellieren wir heute an die Welt: Ist diese Trennung nicht Unvernunft, und warum ist das nötig?

 

 

Seite 14   Turnerfamilie Ostpreußen - Danzig –Westpreußen.

Mein lieber Turnbruder und liebe Turnschwester!

Ob Du Weihnachten im engeren Familienkreis oder in einem Turnverein feierst, ja auch dann, wenn es einsam um Dich geworden ist, Du hast die Pflicht die Heimatliebe wachzuhalten und heimatliche Tradition zu pflegen und weiterzugeben. Deshalb erinnere Dich eines Wortes von Bröger:

 

„Und wenn wir sterben,

unseren Erben wird dann die Pflicht,

es zu erhalten und zu gestalten.

Deutschland stirbt nicht“.

 

Lass Dich vom Tannenbaum zur Treue mahnen und feiere den Empfang der Gottesgeburt als Mysterium der Stille. Wir wollen Gott die Ehre geben, ihn anflehen, uns in Frieden die Heimat zu bescheren, und wir wollen uns bemühen, Menschen göttlichen Wohlgefallens zu werden.

 

In diesem Sinne Euch allen ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein glückliches neues Jahr! Gut Heil! Euer Fritz Babbel.

 

Allen im Dezember geborenen Christkindern, herzlichste Glückwünsche zum Geburtstage, ganz besonders anlässlich der Vollendung eines Jahrzehnts:

 

am 06.12.1955: Gertraud Aspodien, KMTV Königsberg (30 Jahre);

 

am 26.12.1955: Ulrich Wallner, Lyck (40 Jahre);

 

am 05.12.1955: Emil Cziepluch, KMTV Königsberg, (60 Jahre) und

 

am 10.12.1955: Anna Heeling, Landsberg/Ostpreußen (60 Jahre);

 

am 23.12.1955: Frieda Tomscheit - Leitmeyer, Allenstein, (70 Jahre) und

 

am 28.12.1955: Walter Amnion, KMTV Königsberg (70 Jahre).

 

Das neunte Wiedersehenstreffen der Turnerfamilie findet vom 31.08. bis 03.09.1956 in Espelkamp-Mittwald (Kreis Lübbecke/Westf.) statt. Näheres enthält Onkel Wilhelms Weihnachtsrundbrief, der jedem in der Kartei erfassten zugeht. Wiedersehen in E.-Mittwald!

 

Fröhliche Weihnachten rufe ich Euch allen, liebe Turnschwestern und Turnbrüder, zu. Das Fest legt jedem von Euch hoffentlich mit reichem Segen große Freude ins Herz, nicht durch kleine und große Gaben, die Ihr selbst empfangt, sondern mehr noch durch Glückseligkeit bei den von Euch beschenkten lieben Mitmenschen. Auch wer vereinsamt ist und niemand hat, von dem er eine Weihnachtsfreude erwarten könnte, oder — schlimmer noch — niemand, den er als Nächststehenden weihnachtlich erfreuen könnte, mag sich nicht in dieser Einsamkeit vergrämen. Es findet sich doch irgendeine Gelegenheit, Freude zu spenden, die in das eigene Herz zurückstrahlt.

 

Prosit Neujahr! Möge es jedem gelingen, recht viel Freude aus den Weihnachtstagen im Herzen wie in einem großen Sammler festzuhalten und dadurch für das ganze Jahr über einen Kraftstrom zu verfügen, der immer wieder Freude und Fröhlichkeit weckt!

 

Für 1956 gebe ich der Turnerfamilie das Losungswort: Frisch und frei im Handeln, fröhlich und fromm im Wandeln! Onkel Wilhelm.

 

 

Seite 15   Suchanzeigen

Wer kann Auskunft geben über den Verbleib des Georg Juschus aus Alt-Stremehnen, Kreis Heidekrug, geboren 12.10.1896. Letzter Aufenthalt in Mülhennau b. Liebenfelde/ Ostpreußen, vermisst seit Januar 1945. Nachricht erbeten an A. Schloßna, (24b) Süderau b. Glückstadt.

 

Zur Vervollkommnung meiner Versicherungsunterlagen suche ich Arbeitskollegen der Städtischen Betriebswerke Allenstein (Ostpreußen), früherer Name Franz Barczewski), Tätig gewesen in der Lagerverwaltung. Nachr. erb. an Franz Bahr, Berg.-Gladbach, Odenthaler Str. 118.

 

Elisabeth Siedler, geb. Schulz, geboren 30.07.1891, zuletzt wohnhaft in Königsberg/Pr., Jahnstr. 7, bzw. Königsberg-Ponarth, Schreberstraße. Frau S. ist angeblich zuletzt im März 1948 in Königsberg gesehen worden, als ein Transport zusammengestellt wurde, der nach Löbau/Sa. geleitet wurde. Wer kann etwas über das Schicksal meiner Mutter aussagen? Nachricht erbittet Gertrud Siedler, (20b) Bad Gandersheim, Neustadt 11

 

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Seite 16   Weltverlorene Einsamkeit. Von Karla Coste.

Irgendwo gibt es noch stillen Wald,

Weiten, stillen Wald und tiefverschneit,

Wo des Christkinds Hütte stehen könnte

In der weltverlor'nen Einsamkeit.

 

Hoch am sonnenblauen Himmel kreist

Dort der Bussard, schimmernd silberbleich,

Wie ein greiser König ruhevoll

Über seinem stillen Märchenreich.

 

 

Seite 16   Aus den Landsmannschaften.

Lachorkane um Matzebill und Putzkedun.

Ein Jahr ist es her, dass der überaus rührige Vorsitzende der - Holzmindener Ostpreußen-Ortsgruppe, Rektor Müller, einen Abend mit Dr. Lau, dem Verfasser der Briefe der Auguste Oschkenat und „Vater" von Briefträger Trostmann, veranstaltete. Dieser Abend wurde ein ganz großer Erfolg; viele, die vielleicht in geistiger Überheblichkeit die Nase über diese so echt ostpreußischen Gestalten und Ausdrücke gerümpft haben mochten, mussten sich fortreißen lassen von der urwüchsigen, kraftvollen Sprache und ihrer Wirkung“.

 

Wenn Dr. Lau feststellt, dass von 1000 mundartlichen Ausdrücken, die um die Jahrhundertwende noch bekannt waren, ihm, der sich von Kindheit an mit den ostpreußischen Mundarten beschäftigt, 300 nicht mehr geläufig waren, so erhellt das blitzartig die ganze Gefahr, die den ostpreußischen Mundarten droht. Sie sind im Aussterben begriffen, und selbst die intensivste Arbeit am Preußischen Wörterbuch und die Konservierung auf Schallplatten und Tonbändern kann es nicht aufhalten, wenn nicht aus den ostpreußischen Heimatvertriebenen heraus wieder das Verlangen nach dem Hören und eigenen Sprechen dieser Mundarten ersteht und gepflegt wird. Dann sind die ostpreußischen Mundarten für uns nichts anderes als etwa das Niederdeutsche, das nur noch auf den Hochschulen gelehrt wird, weil es zum Pflichtwissen jedes Germanisten gehört.

 

Dr. Lau will in seiner Weise seiner ostpreußischen Heimat dienen. Er, der Lehrerssohn aus Neu-Stobingen im Insterburgischen, der in dem allbekannten Ausflugsort Tammowischken einen großen Teil seiner Jugend verbracht hat, will gerade die kleinen und kleinsten Gruppen betreuen. Er nimmt kein Honorar, lediglich die Fahrt- und Unterkunftskosten möchte er ersetzt erhalten, so dass ihn auch die vielen ländlichen Gruppen heranholen können.

 

Wenn eine Ortsgruppe einmal einen vollen Saal haben will, dann braucht sie nur einen Vortragsabend mit Dr. Lau anzukündigen. So war es wieder kürzlich in Holzminden. Zu seiner Freude konnte Rektor Müller feststellen, dass viele neue Gesichter zu sehen seien, die beim ersten Abend nicht dabei gewesen waren. Nach Besprechung einiger Ortsgruppeninterna gab er die Bahn frei für Dr. Lau, der von 19.30 bis 23.30 Uhr einen Lachorkan nach dem anderen erregte, so dass selbst die Männer Tränen lachten. Nur unterbrochen durch zwei kurze Pausen, und als Dr. Lau fragte, ob sie noch nicht genug hätten, da hieß es einstimmig, es könnte fortgehen bis „morgen früh“. Und auch der Berichterstatter muss es gestehen, er hat noch nie eine so festgeschlossene Gemeinschaft fröhlicher und lachender Menschen gesehen wie an diesem Abend. Da war auch kein einziger Griesgram.

 

Dr. Lau begann mit der Frage, wer wisse, was Matzebill und Putzkedun bedeuteten. Ein einziger wusste es: eine kleine, rundliche und auch etwas faule Frau. Und was ein Diesling sei. Nämlich Kopfschmerz. Es ist einem so dieslig im Kopp. Der Vortragende wartete mit einer Reihe neuer Gedichte auf, darunter „der neje Gille", womit wie Dr. Lau schmunzelnd erklärte nicht der Bundessprecher der Ostpreußen gemeint sei, sondern der neue Gulden. Vom Briefträger Trostmann erfuhr man, dass er kein Fantasieprodukt sei, sondern leibhaftig gelebt habe in Neu-Stobingen als Briefträger z. A. „zur Aushilfe", wenn die beiden anderen blau waren. Die Auguste-Briefe werden wohl im Spätsommer neu herauskommen. Auch der „Trostmann" wird als Buch erscheinen. Unermüdlich und unerschöpflich ließ Dr. Lau das Floche und den Sport, die Muschekuh und die beste Medizin zum Angriff auf das Zwerchfell der Anwesenden antreten. Mit dem Gedicht „Mang Sonne, Sand und See" erlebte man so richtig einen Sommersonntagsausflug in die überfüllten Cranzer oder Samlandbahn mit dem Gewühl am Strand. „De nächtliche Schlettenfahrt" zauberte einen der so prächtigen ostpreußischen Winter in die Erinnerung. Kurz und gut. Kein Bereich ostpreußischen Volkslebens war vergessen. Überall hat Dr. Lau hineingeschaut und sofort das Wesentliche an den Menschen erkannt und nachgestaltet. Rektor Müller stattete den Dank der Anwesenden ab durch Überreichung einer vom ostpreußischen Landsmann Jungblut geschaffenen Kant-Plastik. hschl.

 

Zu diesem Bericht sandte uns Herr Mittelschullehrer Georg Grentz im Auftrag der Ostpreußischen Landsmannschaft Holzminden folgende Zeilen mit der Bitte um Aufnahme: Ein Saal voller Ostpreußen, die Bedienung hat Mühe, sich zwischen den dicht besetzten Tischen hindurchzuwinden. Der Vorsitzende, Herr Mittelschullehrer Müller, kann es gar nicht fassen, woher die vielen Menschen gekommen sind. Gesichter sind dabei, die er noch gar nicht oder nur einmal im Jahr gesehen hat. Heute sind sie da, sind gekommen, weil es in der Ankündigung hieß, dass Dr. Lau dabei sein wird.

 

In buntem Reigen lässt unser Gast nun seine Musenkinder vorüberziehen, nicht als bestellter und bezahlter Rezitator, sondern als Ostpreuße unter Ostpreußen. Ältere Gedichte, die man oft gelesen und im Freundeskreis vorgetragen hat, und die jetzt, vom Dichter selbst vorgetragen, neues Leben gewinnen. Kaum einer, der nicht sein Taschentuch zieht, um sich die Lachtränen abzuwischen. Ganz neue Schöpfungen, zum Teil noch nicht veröffentlicht, folgen. Und alles in solch unauffälliger, bescheidener Weise, dass man beim Zuhören daran erinnert werden muss, dass er ja selbst das alles erdacht und erdichtet hat. Diese echte Bescheidenheit, die ihn selbst, sein ganzes Wesen und Auftreten kennzeichnet, ist es, was ihm so ganz besonders alle Herzen gewinnt. Dass jeder das Gefühl hat, es ist unser Dr. Lau! Man fragt sich, was es eigentlich ist, das seine Mundartgedichte, Parodien und Betrachtungen so liebenswert macht, dass man sie immer wieder hören kann. Ist es nur seine große Begabung, mit einigen treffsicheren Worten eine Stimmung, eine Situation so herauszustellen, dass man sich geradezu hineinversetzt fühlt? Ist es der echte ostpreußische Humor, frei von jedem Zynismus? Seine Musenkinder sind einfach das, was man bei uns in Ostpreußen als trautst und goldig bezeichnete. Er greift hinein ins volle Menschenleben und formt mit Meisterhand in wenigen Zeilen Menschen, Typen, Situationen, wie sie nur der Ostpreuße verstehen. und würdigen kann. Er malt nicht mit derbem, breitem Pinsel, seine Schöpfungen sind Aquarelle des feinen Humors mit vielen Glanzlichtern. Nur hier und da mal ein kräftiger Farbenklecks bei derberer Pointe. Alles ist gekonnt und nicht gewollt! So fährt Dr. Lau nun überall hin zu den Landsmannschaften, die ihn rufen, ohne auch nur einen Pfennig an Honorar zu fordern oder anzunehmen. Allein in den letzten Monaten war er in Berlin, Stuttgart, Hamm (Westf.), Göttingen, Seesen, Osterode, Gandersheim, Lehrte, Northeim, Baden-Baden usf. Weitere Besuche bei anderen landsmannschaftlichen Gruppen sind vereinbart, zahlreiche neue Einladungen warten der Zusage. Immer größer wird der Kreis derer, die von seinem Dasein Kenntnis erhalten und ihn zu sich bitten. Und überall, wo er ist, spricht aus seinen vorgetragenen Werken die ostpreußische Heimat, rührt und bewegt er die Herzen, spornt an und weckt manchen müde Gewordenen zu neuer und weiterer Treue gegenüber der Heimat. Und allen muss er versprechen, doch recht bald wiederzukommen.

 

Wir haben leider nur noch sehr wenig Persönlichkeiten, die durch ihr Schaffen und Wirken imstande sind, größere Kreise der ostpreußischen Landsmannschaft anzusprechen, das Gedenken an Sprache, Brauchtum und heimatliches Wesen wachzuhalten oder wieder zu erwecken. Dr. Lau ist einer dieser wenigen, die Zeit, Geld und viel Mühe opfern für diese so segensreiche und so bitter nötige Aufgabe.

 

 

In der kürzlich durchgeführten November-Versammlung der Ostpreußen-gruppe Holzminden wurde beschlossen, am 18. Dezember eine Vorweihnachtsfeier zu veranstalten.

 

 

Lübbecke Westf.

Die Landsmannschaft nahm am Volkstrauertag an der Einweihungsfeier eines neu errichteten Kriegerdenkmals teil. Am Totensonntag fand sie sich mit anderen Verbänden an unserm Mahnmal des Ostens zu einer kurzen Kundgebung zusammen, bei welcher unser Sprecher Hardt die Ansprache hielt.

 

Die in der Woche darauf stattfindende Monatsversammlung war zu einem Nachklang des Totensonntags ausgestaltet worden. Unser Sprecher hielt eine eindringliche Ansprache über die Bedeutung des Totensonntags und seiner Forderung an die Lebenden. Darauf las Frau Czapla eine Geschichte aus dem Novellenbuch „Im Wandel der Tage" von W. Hardt mit dem Titel „Es rief der Tod'. Dann führte Herr Freimark Lichtbilder von Kriegerfriedhöfen vor, die er mit zu Herzen gehenden Ausführungen erläuterte.

 

Fräulein Meyer sprach zur Umrahmung der Darbietungen passende Gedichte und Frau Pieper sorgte für die musikalische Ausgestaltung des Abends.

 

 

Detmold

Vor mehreren Wochen fand in Detmold die erste Versammlung der Landsmannschaft Ostpreußen unter der Leitung von Stadtrat Horst Benkmann statt. Die von dem Ehepaar Erich und Erika Dommasch zum Teil in ostpreußischer Mundart vorgetragenen Gedichte, Erzählungen und „Wippchen" wurden von den 50 Teilnehmern aus der Stadt und dem Kreis Detmold mit Beifall aufgenommen. Sämtliche Anwesenden wünschten, auch in Zukunft regelmäßig zusammenzukommen, um das Heimatgut zu pflegen.

 

Eine Vorweihnachtsfeier unserer ostpreußischen Landsmannschaft findet am Sonntag, dem 11. Dezember, im Anschluss an die Theatervorstellung für Vertriebene um 17 Uhr im Hotel „Stadt Frankfurt" statt

 

 

Seite 16   Die Stadtkapelle blies in Insterburg.

Die Erinnerung an die Heimat wird für jeden mit anderen Bildern und Vorstellungen verknüpft sein, sie ist sehr subjektiv. Und sie soll es auch sein, denn nur so ergibt sich ein vielfältiges, buntfarbiges Mosaik und kein uniformes Massenerlebnis. Für mich ist die Erinnerung an das weihnachtliche Insterburg mit viel Schnee verbunden.

 

Weihnachten ohne Schnee, das war überhaupt kein richtiges Weihnachten. Wenn man eines morgens in den ersten Tagen des Dezember aufwachte und man sah, wie ein weicher Flockenteppich langsam und stetig vom Himmel herabrieselte, dann zog einem die Vorweihnachtsfreude ins Herz. Da wusste man, „es weihnachtet sehr". Die elterliche Wohnung lag in der Friedrichstraße mit dem Blick auf der einen Seite ins Schützental mit seinen vielen, hohen Bäumen, die dann ihre weißen Pelzmützchen und Pelzkleidchen anlegten, so dass das Schützental ein richtiger Weihnachtsmärchenwald wurde. Nach der Straßenseite hatte man die Aussicht auf die ganze Stadt. Den Turm der Lutherkirche, der Katholischen Kirche und der Reformierten Kirche konnte man sehen, wie das Tote Gebäude unseres Gymnasiums und das weiße des Oberlyzeums. Ihre Dächer und die zahlloser anderer Häuser hatten ebenfalls weiße Pelzmützen aufgesetzt. Das sah sehr lustig aus.

 

Ja, und dann hörte man das Geläut von Schlittenglocken. Die Bauern, die ihre Weihnachtsgänse und Puten zum Markt brachten, waren mit dem Schlitten gekommen. Das war jedes Mal liebliche Musik in unseren Ohren.

 

Der Schnee war oft so hoch, dass man, geriet man vom Bürgersteig ab, manchmal bis zu den Knien einsank. Das gab nasse Füße, denn man kannte noch keine Trainingshosen oder gar Skianzug.

 

Und mit dem Schnee kam der Frost Der zauberte an die Dachrinnen meterlange Eiszapfen, die abzuschlagen ein besonderes Vergnügen war. Und in den Lausbubenjahren lutschte man auch an ihnen, was einem die Eltern und Lehrer streng verboten hatten.

 

Man holte Schlitten und Schlittschuhe vor. Die zum Tal abfallenden Wege des Schützentals waren beliebte Rodelplätze, die dann so glatt wurden, dass alte und gebrechliche Leute sie nicht mehr ohne Lebensgefahr betreten konnten — es wurde fürchterlich über die rodelnden Kinder geschimpft, bis der Parkwärter kam und die Wege mit Sand und Asche bestreute. Dann hatte die ganze Herrlichkeit ein Ende, und man musste, wie die anderen Kinder zu den „Schluchten" wandern, wo die hohen Ufer des Angerapptales ein ideales Rodel- und Skigelände bildeten. Dort versammelte sich in den frühen Nachmittagsstunden die ganze Insterburger Jugend mit den unmöglichsten Schlittenmodellen. Hauptsache, das Ding glitt in rasender Talfahrt bergab. Es hat dabei auch manchen Knochenbruch gegeben. Aber der Betreffende nahm es nicht zu tragisch. Meistens wurde der erste Schnee zum Schulfest. Die Klassen zogen mit ihrem Klassenlehrer gemeinsam in die „Schluchten", um sich den Freuden des Winters hinzugeben.

 

Die Anhänger des Schlittschuhlaufens aber hatten auf dem „Gawehnschen" Teich, im Schützental zwischen „Gesellschaftshaus" (späterer Stadthalle) und Brauerei (die zur Drahtfabrik Malk & Huth und eine Zeitlang zur „Ostpreußischen Fleisch- und Wurstwarenfabrik" umgewandelt wurde) eine ideale, windgeschützte Eisbahn, für die der „Insterburger Eisklub" verantwortlich zeichnete. Zu seinen Gründern und ewigen Vorstandsmitgliedern gehörte auch unser „Professor Zühlke", kurz „Pepi" genannt, ein kleiner rundlicher Herr, mit einem Zwicker und rötlichem Gesicht. Sein jüngster Sohn war uns ein lieber Klassenkamerad und hatte ebenfalls den Namen „Pepi" geerbt. Zu den Koryphäen der Eislaufkunst gehörte auch Konrektor Grabowski, der noch mit achtzig Jahren diesem gesunden Sport huldigte. Der „Dittchenklub" befand sich auf dem Schlossteich. Es muss auch vermerkt werden, dass das Eis, wenn es noch gar nicht zum Betreten freigegeben war, manches Kind zum Hinaufgehen verlockte und dass dann der Schlossteich regelmäßig sein Opfer forderte.

 

Nach dem ersten Weltkrieg kam in Insterburg erst die Sitte des Adventskranzes auf. Eingeführt hatte sie unser Oberstudiendirektor Glage, der die Schule am Montag nach dem ersten Advent mit einem Riesenkranz in unserer wundervollen Aula überraschte. Da brannte dann während der täglichen Schulandacht die eine Kerze, später zwei und drei und vier. Eine hübsche Sitte, die sich sehr rasch Insterburg eroberte und auch sofort in den Familien Eingang fand. Während man in der Schule noch durch fleißiges „Büffeln" die Zensuren für das Weihnachtszeugnis zu verbessern suchte, damit der „Weihnachtsmann" möglichst alle Wünsche, die man an ihn gerichtet hatte, erfüllte und St. Nikolaus die Pantoffeln, die man auf die Fensterbank gestellt hatte, mit Pfeffernüssen und Äpfeln vollgepfropft hatte, „weihnachtete" es immer mehr. Die Weihnachtsgans hing bereits auf dem Küchenbalkon, hübsch mit Papier verdeckt, damit die hungrigen Blaumeisen und Rotkehlchen nicht zu arg drin rumhackten, dazu gesellte sich für Sylvester und Neujahr ein Hase. Auf dem Neuen Markt und auf dem Buttermarkt tauchten die ersten Weihnachtsbäume auf. Und so stand bald als drittes Weihnachtsattribut der Tannenbaum auf dem Balkon.

 

Wo kein „ständiges Mädchen" im Haushalt war, erschien die „Aufwartefrau" und freute sich' über den Schnee, weil sie dann die Teppiche hübsch im Schnee klopfen konnte, der dann ganz schwarz wurde, so nahm er den Staub heraus. Staubsauger gab es erst vereinzelt. Vater und Kinder waren aber froh, wenn diese Prozedur des „Großreinemachens" vorüber war und wieder eine gleichmäßige behagliche Temperatur die Zimmer erfüllte. Denn nach ihr wurde gebacken. Und das Ausstechen der fantasievollsten Formen für Pfefferkuchen und Marzipan war den Kindern ein lang herbeigesehntes Vergnügen.

 

Natürlich hatte man auch so seine kleinen Heimlichkeiten mit Zeichentusche und Laubsäge. Doch freuten sich die Eltern über ein gutes Weihnachtszeugnis immer noch am meisten.

 

So war unversehens der Weihnachtsabend herangerückt. Man hatte den „guten" Anzug angezogen. Die Eltern waren hinter verschlossenen Türen noch damit beschäftigt, dem „Weihnachtsmann" zu helfen.

 

Plötzlich ertönte in der Nähe einer der alten, lieben und vertrauten Weihnachtschoräle. Man öffnete ein wenig die Fenster, um nicht zu viel Wärme herauszulassen und doch gut die Melodie zu hören. Die Stadtkapelle, die sich aus ehemaligen Militärmusikern zusammensetzte, zog stets in den frühen Abendstunden durch alle Straßen Insterburgs und verbreitete so echte, rechte Weihnachtsstimmung.

 

Nun war es Zeit, sich den Mantel anzuziehen und zur Kirche zu gehen. Wir gehörten zur Gemeinde der Lutherkirche. Wie herrlich war dieser Gang. Leise rieselte der Schnee herab und in das Blasen der Stadtkapelle mischte sich bald das Geläut der Kirchenglocken.

 

Durch eine Seitenpforte gegenüber dem Superintendentenhaus betraten wir diese prachtvolle Barockkirche mit dem für Ostdeutschland einmaligen Altar, der porträtgeschmückten Empore — die Gemälde stellten die Hohenzollern dar, und es galt als Omen, dass für Kaiser Wilhelm II. kein Platz mehr war, was natürlich auf die Revolution hingedeutet hatte, und die mit Szenen aus der Bibel ausgemalten Decke. Das alles war in das Halbdunkel gehüllt, das die Kerzen von den beiden Weihnachtsbäumen zur Seite des Altars verbreiteten. Kirchenmusikdirektor Schöne hatte dazu noch eine besonders festliche Kirchenmusik mit Solostimmen, Instrumentalmusik und Chor zusammengestellt, dass jedes Mal der Weihnachtsgottesdienst zu einem unvergesslichen Erlebnis wurde.

 

Nach dem Gottesdienst aber schritt man gemächlich nach Haus, man wünschte allen Bekannten, die man traf, „eine gesegnete Weihnacht“ und freute sich auf die Bescherung und den Gänsebraten. Herbert Schlobies.

 

 

Seite 16   Wir gratulieren!

Am 03.12.1955 beging die Rektorenwitwe Emilie Hurtig geb. Ritter aus Königsberg, später Ostseebad Rauschen ihren 85. Geburtstag. Seit der Vertreibung lebt sie mit ihrer Tochter zusammen, der Pfarrerswitwe Dora Ippig in Berlin-Tegel, Egydistraße 28. Ihr ältester Sohn ist Ordinarius für Geographie an der Universität Greifswald. Der jüngste Sohn fiel als Oberstrichter in der Heimat im Oktober 1944. Ihre sämtlichen Geschwister verlor sie durch die Kriegs- und Nachkriegseinwirkungen. Auch ein Enkel fiel in den letzten Kriegslagen als Siebzehnjähriger und eine Enkelin wurde verschleppt und soll in einem russischen Bergwerk gestorben sein. Trotz der schweren Schicksalsschläge behielt sie ihren Lebensmut und ist der Mittelpunkt der Familien Hurtig und Ritter, die aus allen Teilen der Bundesrepublik und der Ostzone an ihrem Ehrentage bei ihr sein werden.

 

Der ehemalige Lokführer der Haffuferbahn, Eduard Schischke aus Braunsberg vollendet am 15.12.1955 bei bester Gesundheit in Seesen a. H, Bornhäuserstr. 4, sein 81. Lebensjahr. Mit großem Interesse nimmt er an jedem Heimatabend bis zum Schluss teil und ist uns allen ein leuchtendes Vorbild.

 

Frau Gertrud Balandat, Fleischermeisterwitwe aus Schönfließ, Kreis Königsberg, jetzt wohnhaft in Bornhausen 20 über Seesen a. H., vollendet am 05.01.1956 in vorzüglicher Gesundheit ihr 70. Lebensjahr.

 

Am 31.12.1955 vollendet Frau Anna Pikardi, geb. Preuß, aus Fuchsberg Kreis Königsberg, jetzt bei ihrem Schwiegersohn Riemann, Central-Theater Seesen a. H. wohnhaft, bei guter Gesundheit ihr 77. Lebensjahr.

 

 

Seite 16   Wir gratulieren

Am 21. Dezember 1955 feiert der frühere Magistratsbeamte Ernst Junghahn, früher Köniqsberg Preußen, Sattlergasse 11, seinen 95. Geburtstag.

 

 

Seite 16   Vereinigung ehem. Sackheimer Mittelschüler und Schülerinnen, Königsberg/Pr.

Alle „Ehemaligen", die im Raume von Wuppertal wohnen, laden wir hiermit zu einer Zusammenkunft am Sonntag, den 15. Januar 1956 nach Wuppertal-Elberfeld in das Restaurant Wagner, „Am Mäverchen“ (5 Minuten vom Bahnhof), herzlichst ein. Um zahlreiches Erscheinen bittet der Vorstand. I. A. Herbert Minuth, 1. Vorsitzender.

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