Ostpreußen-Warte, Folge 10 vom Oktober 1954

Ostpreußen-Warte

Folge 10 vom Oktober 1954

 

Seite 1   Ende des Besatzungsregimes steht bevor. Londoner Neun-Mächte-Konferenz erfolgreich – Deutsche Wiederaufrüstung mit 500 000 Mann.

Einen Monat und vier Tage nach dem Scheitern der EVG ist in London nach fünftägigen, sehr bewegten Verhandlungen ein neues westliches Verteidigungssystem von den neun Außenministern der Westmächte einschließlich Dr. Adenauers entworfen und angenommen worden.

 

Die Beschlüsse lassen sich in 7 Punkte zusammenfassen:

 

1. Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten werden der Bundesrepublik die Souveränität verleihen.

 

2. Die Bundesrepublik und Italien werden dem Brüsseler Verteidigungspakt (dem bisher Großbritannien, Frankreich und die Beneluxstaaten angehörten) beitreten. Die 7 Vertragspartner setzen das maximale Rüstungspotential der einzelnen Mitglieder fest.

 

3. Die Bundesrepublik verpflichtet sich, keine Atomwaffen, chemische oder bakteriologische Kampfmittel herzustellen.

 

4. Amerikanische Truppen werden in Europa belassen.

 

5. Großbritannien stationiert 4 Divisionen (rund 100 000 Mann) und Luftwaffendivisionen für unbegrenzte Zeit auf dem europäischen Festland.

 

6. Die Bundesrepublik wird als gleichberechtigter Partner in die NATO aufgenommen.

 

7. Die Bundesrepublik verpflichtet sich, zur Herbeiführung der deutschen Wiedervereinigung oder zur Änderung der jetzigen Grenzen niemals Gewalt anzuwenden.

 

Mit Recht betonte Außenminister Eden, dass man in London für die Zukunft Europas Wesentliches geleistet habe. Der französische Ministerpräsident Mendés-France erklärte, dass das Londoner Abkommen gute Aussichten habe, von der französischen Nationalversammlung, die bekanntlich die EVG schroff abgelehnt hat, ratifiziert zu werden. Er werde sich mit allem Nachdruck für die Ratifizierung einsetzen.

 

In den nächsten zwei Wochen werden die Sachverständigen der neun Mächte die Klärung der noch offenstehenden rechtlichen und technischen Fragen anstreben. Am 20. Oktober werden die Außenminister der drei Westmächte und der Bundesrepublik in Paris endgültige Beschlüsse über die Beendigung der Besatzung und die volle Souveränität Deutschlands treffen. Am 21. Oktober werden die Außenminister aller neun Mächte in Paris die abschließenden Entscheidungen über die deutsche Wiederbewaffnung fallen. Am 22. Oktober wird der Ministerrat der Atlantikpakt-Organisationen die Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO beschließen. Den einzelnen Parlamenten werden die Abmachungen alsdann zur Ratifizierung vorgelegt. Die Abmachungen können, sofern keine unerwarteten Hindernisse auftauchen, im Frühjahr 1955 in Kraft treten.

 

Die USA und Großbritannien würden am 1. Januar 1955 in ihren Zonen auf ihre Besatzungsrechte verzichten und die Wiederbewaffnung Deutschlands in ihren Zonen einleiten, falls Paris wider Erwarten erneut eine Verzögerungstaktik einschlagen würde. Der Bundesrepublik wird ein Sitz der alliierten Sicherheitsamt in Koblenz eingeräumt. Nach Aufhebung des Besatzungsstatuts soll diese Behörde zur Wahrung aller alliierten Interessen weiter arbeiten.

 

Bundeskanzler Dr. Adenauer betonte das wichtigste Ergebnis der Londoner Konferenz sei die Wiederherstellung und Festigung der Solidarität der freien Welt. Gegenüber der gescheiterten EVG hat die Londoner Akte einen Nachteil und einen Vorteil. Der Nachteil ist darin zu suchen, dass die Ersatzlösung eine Koalition der neun Nationalarmeen darstellt, während die EVG die europäischen Heere, Rüstungsfabriken, Generalstäbe usw. untrennbar miteinander verbinden sollte. Der Vorzug der Londoner Akte gegenüber der EVG ist darin zu suchen, dass dem europäischen Waffenbündnis nun auch Großbritannien angehört, wodurch die französische Angst, mit den Deutschen allein zu sein, wegfallen dürfte.

 

Nach wie vor bejahen Großbritannien und USA die Bonner Politik, die dahin zielt, den Eisernen Vorhang zu beseitigen und die beiden Deutschländer wieder zusammenzufügen. Vieles spricht dafür, dass nun auch Moskau einsehen müsste dass die Absicht des roten Kreml, die USA aus der europäischen Vertragsorganisation auszugliedern und Amerika und die Bundesrepublik in eine neue Isolationspolitik hineinzudrängen, durchkreuzt ist. Ebenso ist der Plan Molotows, den deutschfranzösischen Gegensatz zu verewigen, missglückt.

 

Wir können hoffen, dass Moskau aus der neuen Lage die notwendige Nutzanwendung ziehen wird, ebenso wie es sich einverstanden erklärt hat, der zunächst vom Kreml abgelehnten Achtung von Atomwaffen usw. zuzustimmen.

 

Die Anerkennung der deutschen Bundesregierung als der einzig berechtigten Vertreterin des deutschen Volkes war zugleich mit der Hervorhebung der vollen Souveränität nach innen und außen die markanteste Feststellung in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers Dr. Adenauer vor dem Deutschen Bundestag. Die Zusammenarbeit als Folge der Londoner Abmachungen werde die freie Welt stärken; ohne diese Einheit des Westens gebe es keine Freiheit, keinen Frieden und keine deutsche Wiedervereinigung.

 

Besonderen Beifall zollte der Deutsche Bundestag dem, wie der Bundeskanzler hervorhob, „revolutionären Akt“ der britischen Regierung, britische Truppen weiterhin auf dem Festland zu stationieren. Auch der Hinweis, dass die Bundesrepublik alle notwendigen Waffen erzeugen sowie Flugzeuge und Schiffe bauen können, fand einmütigen Beifall.

 

In den Kreisen der Vertriebenen-Abgeordneten wurden die Stellen der Regierungserklärung genau verfolgt, die sich auf den künftigen Friedensvertrag und die deutschen Grenzen bezogen.

 

Dass der Westen diese Grenzen jetzt einmütig dem Friedensvertrag vorbehält, ist sicherlich als ein Fortschritt zu bezeichnen, obwohl ein ausdrücklicher Hinweis auf die deutschen Ostgebiete und die Hilfe des Westens bei der Durchsetzung des Heimatrechts der deutschen Vertriebenen nicht erfolgte.

 

 

Seite 1 und 2   Prof. Oberländer zur Geschädigtenpolitik

Durch eine Große Anfrage der SPD-Fraktion hatte Prof. Dr. Dr. Oberländer Gelegenheit, vor dem Deutschen Bundestag den Stand seiner Arbeiten als Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte aufzuzeigen. Die Bundestagsdebatte verlief in auffälliger Sachlichkeit. Oberländer hatte bei der Beantwortung der Großen Anfrage einleitend bemerkt: „In der Sorge um die Eingliederung, die soziale Gleichberechtigung und die Verwirklichung des Heimatrechtes bestehen zwischen Regierung und Opposition höchstens deklamatorische, niemals aber faktische Unterschiede. Aus dieser Erkenntnis habe ich die Große Anfrage als den Ausdruck des Bestrebens aufgefasst, Schwierigkeiten kennenzulernen und sie zu beseitigen zu helfen. Im Übrigen glaube ich sind wir darin einig, dass noch viel, sogar sehr viel zu tun übrigbleibt. „Wir veröffentlichen nachstehend einen ausführlichen Auszug aus der Antwort Prof. Oberländers auf die Große Anfrage:

 

1.     Anfrage der SPD:

 

Wann wird die Bundesregierung ein umfassendes Programm der wirtschaftlichen Eingliederung und sozialen Befriedung der Heimatvertriebenen. Kriegssachgeschädigten, Sowjetzonenflüchtlingen und Evakuierten aufstellen? Ist sie bereit, die Maßnahmen für diese Geschädigtengruppe im Rahmen eines solchen Programmes sicherzustellen?

 

Oberländer:

„Ich darf hierzu zunächst auf den von mir im November 1953 aufgestellten Zweijahresplan hinweisen. In diesem Plan konnten noch nicht die Belange der Kriegssachgeschädigten und Evakuierten behandelt werden, da deren Betreuung erst seit dem 1. April 1954 in die Zuständigkeit meines Ministeriums übergegangen ist. Der Plan ist unterdessen hinsichtlich der Geschädigtengruppen ergänzt worden. Es hat sich ferner gezeigt, dass gewisse Abänderungen notwendig sind, die in der inzwischen vollzogenen Entwicklung begründet sind.

 

Der Minister ging sodann auf die einzelnen Abschnitte seines Zweijahresplanes ein.

 

Zum Abschnitt A, der die selbständige Erwerbstätigkeit in der gewerblichen Wirtschaft und in den freien Berufen betrifft, berichtete Oberländer: „Die Ermittlung des Finanzbedarfs für die einzelnen Hilfen, also für Aufbaudarlehen für Neugründungen, für Betriebserweiterungen, für Aufstockung bereits gewährter Darlehen und für die Umschuldung von Bankdarlehen ergibt Beträge, die im Jahre 1954 gedeckt sind, während die Finanzierung für 1955 zum Teil noch offen ist. Ebenso dürfte es nicht möglich sein, den ganzen mit etwa 50 Millionen DM bezifferten Jahresbedarf der Sowjetzonenflüchtlinge an Aufbaudarlehen in den nächsten Jahren aus dem Härtefonds des Lastenausgleichs zu entnehmen, da dieser hierfür nicht ausreicht“.

 

Abschnitt B des Zweijahresplanes (ländliche Siedlung) behandelte der Minister unter Beantwortung der Ziffer 4 der Großen Anfrage.

 

 Zum Abschnitt C (Arbeitnehmer) sagte er u. a.:

 

„Im Jahre 1949 waren etwa 38 all% aller Arbeitslosen Vertriebene; Ende August 1954 waren es nur noch 27,7%. Diese an sich erfreuliche Tatsache darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Arbeitslosigkeit bei den Vertriebenen noch überdurchschnittlich hoch ist, denn ihr Bevölkerungsanteil beträgt bekanntlich nur 17,1%. Insbesondere in den Hauptflüchtlingsländern ist die Arbeitslosigkeit der Vertriebenen stark, und ein großer Teil der im Bundesgebiet vorhandenen teilweise strukturellen Arbeitslosigkeit ist bei den Vertriebenen zu verzeichnen“.

 

Über Abschnitt D (wohnraummäßige Unterbringung der Vertriebenen) konnte Oberländer mitteilen: „Abgesehen von der Sonderfinanzierung des Wohnungsbaus für Umsiedler einschließlich der Evakuierten und für Sowjetzonenflüchtlinge ist die Finanzierung für den gesamten sozialen Wohnungsbau durch die Globalzuteilung von Bundeshaushaltsmitteln und Lastenausgleichsmitteln gesichert“.

 

Zum Abschnitt E (Umsiedlung): „Bis zum 1. August 1954 sind 679 000 Personen aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern umgesiedelt worden. Die Umsiedler sind in Neubauwohnungen untergebracht und, soweit sie arbeitsfähig sind, bis auf einen Rest von vielleicht 5% in Arbeit vermittelt worden.

 

Der Bundestag hatte seinerzeit die Umsiedlungsaktion auf 900 000 Personen festgesetzt. Die Durchführung dieses Gesamtprogramms, das durch Einschluss von Evakuierten und Sowjetzonenflüchtlingen nunmehr auf 915 000 Personen beziffert ist, wird zum Ende des Jahres 1955 verwaltungsmäßig abgeschlossen sein; ein Übergang in das Jahr 1956 ist hierbei nicht vermeidbar. Die Finanzierung für diesen Restabschluss ist nunmehr gesichert.

 

Als eine zweite Aufgabe hatte es sich der „Zweijahresplan zum Ziele gesetzt, eine Umsiedlung von weiteren 300 000 Personen vorzubereiten. Diese soll nicht nur als Umsiedlung von Land zu Land, sondern zum Teil auch als eine Umsiedlung innerhalb der Länder erfolgen. Der Finanzbedarf für diese weitere Umsiedlung ist mit etwa 675 Millionen DM berechnet. Die Verhandlungen über seine Deckung sind bereits im Gange.

 

Neu aufgenommen in den Zweijahresplan ist ein Abschnitt über die Evakuiertenrückführung“.

 

Besonders schwierig ist nach wie vor eine Planung beim Abschnitt F des Zweijahresplanes

(Sowjetzonenflüchtlinge): „Hier Ist eine Planung über zwei Jahre unmöglich! denn solange die gesamtdeutsche Frage nicht gelöst ist, werden wir mit Aufgaben und Überraschungen zu rechnen haben. Damals war es zunächst notwendig, Vorkehrungen zur wohnungsmäßigen Unterbringung für die vom 1. Februar 1953 bis zum 31. März 1954 eintreffende Flüchtlinge zu treffen. Es war veranlasst worden, dass die Länder je Kopf der von ihnen aufzunehmenden Flüchtlinge einen Betrag von 1500 DM erhalten. 337 538 Notaufgenommene sind in dieser Zeit in die Länder, einschließlich Berlin, eingewiesen worden. Auf Grund neuerer Unterlagen kann man annehmen, dass hiervon für 280 000 Personen ein Wohnraumbedarf zu befriedigen ist; denn bei einem großen Teil der alleinstehenden Jugendlichen und auch zu einem Teil bei den übrigen Personen hat die Erfahrung gelehrt, dass diese ohne eigenen Wohnraumbedarf untergebracht werden können. Hierfür waren zunächst 280 Millionen bereitgestellt, die seitdem durch weitere 70 Millionen DM Bundeshaushaltsmittel aufgestockt wurden. Durch eine großherzige Spende aus FOA-Mitteln wurden 63 Millionen DM für den Flüchtlingswohnungsbau gegeben, die entsprechend dem Willen der Spender mit 20 Millionen DM ein zusätzliches Programm für Berlin darstellen. Den Ländern standen mithin insgesamt 41 Millionen DM für diese Zeit zur Verfügung.

 

Für die ab 1. April 1954 den Ländern zugewiesenen Sowjetzonenflüchtlinge — wir schätzen für das Rechnungsjahr 1954 etwa 130 000 Aufzunehmende — sollen in den Haushalt 1955 45 Millionen DM eingesetzt werden. Allerdings sollen von diesem Zeitpunkt ab nur für solche Sowjetzonenflüchtlinge zusätzliche Bundesmittel gegeben werden, die nicht auf Grund des Art. 11 Abs. 2 des Grundgesetzes — nach dem die Freizügigkeit nur für bestimmte Fälle eingeschränkt werden darf — oder aus Ermessensgründen Aufnahme finden.

 

Als Abschnitt G waren die Zonengrenzgebiete in den Zweijahresplan aufgenommen. Darüber konnte der Minister berichten: „Die Richtlinien über die Bevorzugung des Zonenrandgebietes, von Berlin und von Wilhelmshaven bei Erteilung öffentlicher Aufträge sind am 31. März 1954 von der Bundesregierung beschlossen worden. Ich habe mich für diese Maßnahme besonders eingesetzt und dabei in Kauf genommen, dass die gemäß Bundesvertriebenengesetz vorgeschriebene Bevorzugung von Vertriebenen und Flüchtlingen bei der Erteilung öffentlicher Aufträge durch diese Ausweitung der Bevorzugung auf große Gebiete der Bundesrepublik etwas an Gewicht verliert. Wichtiger aber war für die Bundesregierung und für mich die Beachtung der übergeordneten politischen Gesichtspunkte, die eine Förderung des Zonenrandgebietes verlangen“.

 

Zur Lage der vertriebenen Jugend (Abschnitt H): „... die Zahl der vertriebenen Schüler an höheren Schulen, Mittelschulen und Fachschulen nunmehr derart angewachsen ist, dass sie dem Anteilsatz der Vertriebenenbevölkerung an der Gesamtbevölkerung entspricht. Dies ist ein wirklich sehr erfreulicher Erfolg. Hierzu haben einmal die entbehrungsreichen Anstrengungen der vertriebenen Eltern verholfen, aber auch die von der öffentlichen Hand gegebenen Ausbildungshilfen. Insbesondere sind es der Bundesjugendplan und der Lastenausgleich, die hier segensreich und wirklich in produktivem Einsatz gewirkt haben.

 

Nicht ganz befriedigen kann der Stand bei den vertriebenen Lehrlingen, denn nach den allerdings unvollkommenen Statistiken scheint sich der Anteil der vertriebenen Lehrlinge an der Gesamtzahl der Lehrlinge in den letzten Jahren zu verschlechtern“.

 

Im letzten Abschnitt (I) des Zweijahresplanes ist die besonders dringliche Aufgabe der Lagerräumung behandelt. Minister Oberländer sagte dazu im Bundestag: „Heute sind etwa 290 000 Lagerinsassen vorhanden, das sind Vertriebene, frühere Sowjetzonenflüchtlinge, Evakuierte und heimatlose Ausländer. Genauere statistische Unterlagen liegen leider noch immer nicht vor. Ferner sind zurzeit etwa 140 000 Flüchtlinge aus der Sowjetzone zwischenzeitlich in Kasernen, Durchgangslagern der Länder und Lagern der Gemeinden untergebracht.

 

In diesem Jahre lief inzwischen das erste Räumungsprogramm durch Bereitstellung bis zu 30 Millionen DM Kriegsfolgenhilfemitteln für die Finanzierung von Wohnungsbauten an. Weitere 20 Millionen DM wurden hierfür durch Aufbaudarlehen aus dem Lastenausgleich gewonnen. Das Ziel ist, bis Ende dieses Rechnungsjahres baulich schlechte Lager mit insgesamt 30 000 Insassen in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern aufzulösen. Im nächsten Jahr — 1955 — sollen weitere schlechte Kriegsfolgenhilfe-Lager im gesamten Bundesgebiet aufgelöst werden, und zwar mit etwa 40 000 Insassen durch Schaffung von etwa 10 000 Neubauwohnungen.

 

Im Übrigen sind die Räumungsmaßnahmen objektbezogen und umfassen daher auch Evakuierte, soweit solche in den aufzulösenden Kriegsfolgenhilfelagern untergebracht sind. Insgesamt dürften im Bundesgebiet etwa 25 000 Evakuierte in Lagern leben.

 

Die Bundesregierung sieht die beschleunigte Auflösung der Lager als eine der wichtigsten sozialen Aufgaben an. Denn die Lager bedeuten einen Verschleiß menschlicher Kraft und eine Vergeudung öffentlicher Mittel“.

 

2.     Anfrage der SPD:

Wann beabsichtigt die Bundesregierung praktische Schritte zur Durchführung des Bundesevakuiertengesetzes zu unternehmen:  

a) durch Abschluss und Auswertung des Anmeldeverfahrens für die rückkehrwilligen Evakuierten und

 

b) durch Bereitstellung von Mitteln für die Beschaffung von Wohnraum für die Rückführung?

 

Oberländer: „Zur Durchführung des Bundesevakuiertengesetzes vom 14.07.1953 liegt dem Kabinett zur Zeit eine Verordnung vor, nach der das Anmeldeverfahren, d. h. die Abgabe einer Erklärung des Rückkehrwillens gemäß § 2 Abs. 1, innerhalb einer Frist von 3 Monaten nach Inkrafttreten der Verordnung abgeschlossen wird. Diese Frist wird voraussichtlich mit dem Ende des Monats Februar 1955 auslaufen.

 

In der Frage der Bereitstellung von Wohnungsbaumitteln für die Rückführung von Evakuierten muss man drei verschiedene Förderungsmaßnahmen unterscheiden, nämlich 1. die Rückführung der Evakuierten innerhalb der gesetzlichen Umsiedlung aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern, 2. die Rückführung aus den anderen Ländern und 3. die Rückführung innerhalb der einzelnen Länder.

 

Zu 1: Im Rahmen der bis jetzt angeordneten Umsiedlungsmaßnahmen werden bis Ende 1954 rund 25 000 Evakuierte aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern in ihre Herkunftsländer zurückgeführt sein. Darüber hinaus sieht die derzeit dem Bundesrat vorliegende Verordnung über den zweiten Abschnitt des dritten Umsiedlungsprogramms die Rückführung von abermals mindestens 22 500 Evakuierten aus diesen drei Ländern vor. Mit Hilfe der Umsiedlung werden mithin rund 50 000 Evakuierte zurückgeführt. Hierfür sind 110 Millionen DM Bundeswohnungsbaumittel zur Verfügung gestellt; es werden etwa 14 000 Wohnungen erstellt.

 

Zu 2: Zur Rückführung von Evakuierten aus den übrigen Ländern sind im April 1954 20 Millionen DM Wohnraumhilfemittel des Lastenausgleichs gegeben worden. Die Bereitstellung weiterer 20 Millionen DM an Bundesmitteln ist in Aussicht genommen. Mit diesen 40 Millionen DM können etwa 20 000 Evakuierte zurückgeführt werden.

 

Zu 3: Die Rückführung von Evakuierten innerhalb der einzelnen Länder ist zunächst finanziell dadurch gefördert worden, dass aus dem Lastenausgleich im April 1954 90 Millionen DM Wohnraumhilfemittel den Ländern zuteil geworden sind, und zwar für Zwecke der Umsiedlung und der Evakuiertenrückführung. Voraussichtlich werden 60% der mit Hilfe dieser Mittel zu erstellenden Wohnungen Evakuierten zugutekommen; das sind etwa 23 000 Evakuierte mit 700 Wohnungen. Für den gleichen Zweck ist die Bindung von Bundesmitteln des Rechnungsjahres 1955 in Höhe bis zu 70 Millionen DM in Aussicht genommen, so dass hierdurch die Rückführung von weiteren 18 000 Evakuieren innerhalb der Länder zusätzlich finanziert werden könnte“.

 

3.     Anfrage der SPD: Wann wird die Bundesregierung von der im Lastenausgleichsgesetz gegebenen Vollmacht zur Vorfinanzierung des Lastenausgleichs Gebrauch machen und damit die Eingliederungsmaßnahmen für die Geschädigten sicherstellen?

 

Oberländer: „Die Grundlage für die Vorfinanzierung des Lastenausgleichs bildet der Beschluss des Bundestages vom 16. Mai 1952. In Ausführung dieses Beschlusses sind bereits umfangreiche Vorfinanzierungsmaßnahmen getroffen worden, die zusammen 856 Millionen DM erbracht haben.

 

Es ist damit zu rechnen, dass bis zum 31. Dezember 1954 dem Ausgleichsfonds noch Einnahmen für das Rechnungsjahr 1954 zufließen, die wahrscheinlich weit über die erwartete Summe von 100 Millionen DM hinausgehen werden. Ferner ist die Auflegung einer Umsiedlungsanleihe von 200 Millionen DM vorgesehen.

 

Die Auflegung einer zweiten und dritten Tranche der Lastenausgleichsbankanleihe in Höhe von zusammen 400 Millionen DM steht noch aus. Diese 400 Millionen DM sind in dem Wirtschafts- und Finanzplan des, Ausgleichsfonds für 1954 auf der Einnahmenseite bereits eingesetzt. Die Auflegung wird erfolgen, sobald der Fonds dieser Gelder tatsächlich bedarf.

 

Das bisher auf gewissen Teilgebieten nicht befriedigende Tempo des Abflusses der dem Ausgleichsfonds zur Verfügung stehenden Mittel liegt in der Begrenztheit der verwaltungsmäßigen Leistungsfähigkeit der Ausgleichsbehörden, also bei den Ländern sowie bei den Stadt- und Landkreisen, begründet. Die Bundesregierung und der Präsident des Bundesausgleichsamtes sind bemüht, die personelle Leistungsfähigkeit der Ausgleichsbehörden laufend zu steigern. Diese Bemühungen finden allerdings ihre Begrenzung darin, dass das Lastenausgleichsgesetz nicht unmittelbar von der Bundesregierung durchgeführt wird, sondern im Wege der Auftragsverwaltung von den Ländern sowie den Stadt- und Landkreisen.

 

52732 Bauern und Siedler eingegliedert

4. Anfrage der SPD:

A. Wieviel Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge sind nach dem Inkrafttreten des Bundesvertriebenengesetzes durch Übernahme bäuerlicher Betriebe angesiedelt worden? Können diese Höfe durch Pacht oder Kauf in andere Hände übergehen? Wie hoch ist die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe, die nur als Nebenerwerbsstellen von Vertriebenen und Sowjetzonenflüchtlingen übernommen werden konnten?

 

B. Welches Ergebnis hatten die Verhandlungen mit den Ländern über die Eingliederung der Vertriebenen und Sowjetzonenflüchtlinge in die Landwirtschaft in den Jahren 1954 und 1955? Welche Mittel und wieviel Land können hierfür zur Verfügung gestellt werden?

 

C. Ist die Bundesregierung bereit, zur beschleunigten Eingliederung des vertriebenen Landvolkes Gesetzentwürfe vorzulegen, die

 

a) die Altersversorgung der Eigentümer auslaufender Höfe regeln, wenn diese Höhe durch Pacht oder Kauf in andere Hände übergehen,

 

b) den Grundstücksverkehr regeln, damit die Wirtschaftlichkeit landwirtschaftlicher Betriebe gesichert wird und der Zersplitterung landwirtschaftlicher Betriebe Einhalt geboten wird,

 

c) eine befriedigende bundeseinheitliche Regelung der Entschädigung für das durch die Landabgabebestimmungen erfasste Land festlegen?

 

Oberländer:

„Zu Ziffer A: Das am 5. Juni 1953 in Kraft getretene Bundesvertriebenengesetz ist an Stelle des Flüchtlingssiedlungsgesetzes vom 10. August 1949 getreten. Seit dem Inkrafttreten des Flüchtlingssiedlungsgesetzes sind insgesamt 52 732 Vertriebene und Flüchtlinge in die Landwirtschaft im Wege der Neusiedlung und durch Übernahme bestehender landwirtschaftlicher Betriebe eingegliedert worden. Davon entfallen auf das zweite Halbjahr 1953 5379 Fälle. Für das erste Halbjahr 1954 ist schätzungsweise mit dem gleichen Ergebnis zu rechnen.

 

Von den in der Zeit vom 1. Juli 1953 bis 30. Juni 1954 geförderten Flüchtlingssiedlungsstellen sind 60 bis 65% als Nebenerwerbsstellen oder bäuerliche Aufbaustellen anzusehen. Im Siedlungsprogramm, das durch Einschluss von Evakuierten und 80% bei den Eingliederungsfällen — Kauf und Pacht landwirtschaftlicher Betriebe — rund 52% Nebenerwerbsstellen bzw. bäuerliche Aufbaustellen vorgesehen.

 

Zu Ziffer 4 B. Das auf Grund der Angaben der Länder aufgestellte und vom Kabinettsausschuss im Juni 1954 gebilligte Siedlungsprogramm der Bundesregierung sieht vor, dass 6325 Neusiedlerstellen an Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge vergeben werden und dass 10 056 landwirtschaftliche Betriebe im Wege des Kaufs oder der Pacht von diesem Personenkreise übernommen werden sollen. Insgesamt ist also mit der Ansetzung von 16 381 vertriebenen und geflüchteten Bauernfamilien im Jahre 1954 zu rechnen. Dies ist ein Bestandteil des Gesamtsiedlungsprogrammes 1954 mit einem Geldbedarf von etwa 600 Millionen DM und einem Landanfall von zirka 92 000 ha.

 

Für das Jahr 1955 ist mit einer verstärkten Siedlungstätigkeit der Länder zugunsten der Vertriebenen und Sowjetzonenflüchtlinge zu rechnen.

 

Zu Ziffer 4 C. Die Frage der Altersversorgung von Eigentümern auslaufender Höhe, die bereit sind, ihre Betriebe an Vertriebene zu veräußern oder zu verpachten, ist im Bundesernährungsministerium zur Zeit Gegenstand eingehender Untersuchungen, die besonders auch mit dem Deutschen Bauernverband und dem Bauernverband der Vertriebenen durchgeführt werden.

 

Der Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Agrarstruktur und zur Sicherung landwirtschaftlicher Betriebe —- Grundstückverkehrsgesetz — ist den Ländern vom Bundesernährungsministerium bereits zur Stellungnahme zugeleitet worden.

 

Eine bundesgesetzliche, einheitliche Regelung der Entschädigung für das nach den Bodenreformgesetzen der Länder in Anspruch genommene Land ist in Vorbereitung. Grundsätze, die als Grundlage für einen Gesetzentwurf dienen sollen, sind den Ländern vom Bundesernährungsministerium zur Stellungnahme übermittelt worden“.

 

5.     Anfrage der SPD:

Ist die Bundesregierung bereit, die Fortsetzung der Bundesumsiedlung und die Eingliederung der Sowjetzonenflüchtlinge unter den höheren Gesichtspunkten einer gesunden Bevölkerungsverteilung innerhalb der Bundesrepublik sicherzustellen?

 

Oberländer:

„Die Bundesregierung ist bereit, entsprechend meinem Zweijahresplan die Bundesumsiedlung fortzusetzen. Durch Bundestagsbeschluss ist die Zahl der aus den Ländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern umzusiedelnden Vertriebenen auf 900 000 Personen festgesetzt worden. Dieses Gesamtprogramm 1954, das bei den Neusiedlerstellen und Sowjetzonenflüchtlingen nunmehr auf 910 000 beziffert ist, wird am Ende des Jahres 1955 abgeschlossen sein. Die Finanzierung dieses Programms ist gesichert. Darüber hinaus war im Zweijahresplan die Umsiedlung von weiteren 300 000 Personen vorgesehen.

 

Die Fraktion der SPD hat nunmehr gefragt, ob diese Fortsetzung der Bundesumsiedlung und die Eingliederung der Sowjetzonenflüchtlinge unter den höheren Gesichtspunkten einer gesunden Bevölkerungsverteilung innerhalb der Bundesrepublik erfolgen. Damit wird eine sehr gerechtfertigte Befürchtung angeschnitten, nämlich die Frage gesteift, ob eine weitere Bevölkerungsmassierung in den Ballungsgebieten und ein weiterer Abzug aktiver Bevölkerung aus den weniger entwickelten Gebieten mit dem Grundgedanken der Raumordnung vereinbar sind. Wir haben in der Bundesrepublik leider keine Raumordnungsstelle, die dazu berufen wäre, die Konzeption für die deutsche Raumordnung zu schaffen. Wir müssen aber bald einen Plan haben, aus dem wir ersehen können, welcher räumliche Zustand im Bundesgebiet angestrebt werden soll“.

 

 

Der Flüchtling aus der Sowjetzone.

6.     Anfrage der SPD:

Wann wird die Bundesregierung dem Beschluss des Bundestages vom 16. Mai 1952 Rechnung tragen, der für Flüchtlinge aus der Sowjetzone gesetzlich verankerte Leistungen fordert?

 

Oberländer: „Gesetzlich verankerte Leistungen erhalten die im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes anerkannten Sowjetzonenflüchtlinge bereits auf Grund des § 301 des Lastenausgleichsgesetzes. Darüber hinaus hat die Bundesregierung Kriegsfolgenhilfemittel als Fürsorge sowie erhebliche finanzielle Mittel zum Wohnungsbau für Sowjetzonenflüchtlinge gegeben.

 

Der Bundestag ist in seinem Beschluss schon davon ausgegangen, dass die Sowjetzonenflüchtlinge im Lastenausgleich nicht berücksichtigt werden konnten und dass die Verweisung der Flüchtlinge auf den Härtefonds nur als Interimslösung gedacht war. Die Bundesregierung prüft zurzeit noch, inwieweit in Durchführung dieses Beschlusses über die vorgenannten Leistungen hinaus — insbesondere für den Fall, dass die Mittel des Härtefonds nicht ausreichen — noch zusätzlich gesetzgeberische oder sonstige Maßnahmen erforderlich werden, um den bei den Sowjetflüchtlingen auftretenden Notständen abzuhelfen. Bei der Prüfung dieser Frage haben sich jedoch schwerwiegende politische, rechtliche und finanzielle Probleme ergeben. Die Bundesregierung hält es für zweckmäßig, diese Problematik mit den zuständigen Bundestagsausschüssen zu erörtern“.

 

7.     Anfrage der SPD:

Welche Schritte hat die Bundesregierung unternommen, um mit den Ländern zu einer Verständigung über Durchführung des § 96 des Bundesvertriebenengesetzes zu kommen, welcher Bund und Ländern auferlegt, das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge und des gesamten deutschen Volkes zu erhalten, sowie Archive und Bibliotheken zu sichern, zu ergänzen und auszuwerten?

 

Oberländer: „Die Bundesregierung hat in einer Reihe von Besprechungen mit den Landesflüchtlingsverwaltungen die zur Durchführung des Gesetzes notwendigen Maßnahmen erörtert. Mit Rücksicht auf die Kulturhoheit der Länder werden keine Durchführungsbestimmungen erlassen, sondern es ist die Form gemeinsam erarbeiteter Richtlinien gewählt worden.

 

Bund und Länder arbeiten zurzeit bei einer ganzen Reihe von Maßnahmen zur Erhaltung des Kulturguts der Vertreibungsgebiete zusammen. Es sei erwähnt: die Erstellung von Gesamtkatalogen der Ostliteratur, der in westdeutschen öffentlichen Sammlungen vorhandenen ostdeutschen Kunstwerke und von Quellen über die Vertreibungsgebiete aus westdeutschen Staats- und Privatarchiven. Verschiedene kulturelle Zentralstellen, z. B. die Kommission für Volkskunde der Heimatvertriebenen oder die Abteilung Heimatgedenkstätten beim Germanischen National-Museum in Nürnberg werden finanziell gefördert. Besonderes Interesse gilt einer angemessenen Berücksichtigung der Vertreibungsgebiete im gesamten Schul- und Hochschulwesen und in der Volksbildung.

 

Zum Abschluss meiner Antwort habe ich noch etwas Grundsätzliches zu bemerken. Dass sich politische und optische Verantwortung einerseits, reale Zuständigkeit und direkte Einwirkung auf die Exekutive andererseits gerade in meinem Ministerium nicht entsprechen, ist bekannt. Die Möglichkeiten, Zuständigkeit und Weisungsbefugnis zu verstärken, waren im Bund infolge des föderativen Charakters des Grundgesetzes geringer als in den Ländern. Dennoch ist kein Land, welche Partei auch immer die Regierung führend bildete, einen anderen Weg gegangen.

 

Die Sorge für die Vertriebenen, die Flüchtlinge aus der Sowjetzone, die Kriegssachgeschädigten und die Evakuierten hat in allen, die sich aus innerem Drang oder von Amts wegen mit der Materie zu befassen hatten, immer eine tiefe, im Sachlichen und Menschlichen fundamentierte Verbundenheit erzeugt, die eine parteipolitische Unterscheidung nicht aufkommen ließ. Ich danke in diesem Zusammenhang allen Leitern und Mitarbeitern der Vertriebenen- und Kriegsbeschädigten-Verwaltungen der Länder, der Kreise und der Gemein, den und ebenso allen Mitarbeitern aus den Vertriebenenverbänden; denn wir hätten den heutigen Grad ohne die Selbsthilfe nicht erreicht“.

 

 

Seite 2   „Bevorzugung der A-Flüchtlinge“. Auch ein lesenswertes Wahlplakat.

Wer in den letzten Tagen vor der Landtagswahl am 12. September durch die Straßen in den Städten Schleswig-Holsteins wanderte, hat sicher auch der rührigen Propaganda der Parteien an den Anschlagsäulen sein Augenmerk gewidmet. Erfreulich ist gewiss die Tatsache, dass wir Heimatvertriebenen hier und da von einzelnen Organisationen „umworben“ werden; dass wir auch „Feinde“ besitzen, wundert uns kaum. Dass aber eine bisher kaum in Erscheinung getretene Partei wie die Schleswig-Holsteinische Landespartei (SHLP) es fertig bringt, öffentlich auf Plakaten kundzutun, dass wir in einem neuen Landtag nichts zu „suchen haben“, dass die Schlagzeilen nur vor Wut und Hass gegen die „zugereisten“ Menschen aus dem deutschen Osten sprechen, ist wirklich ein starkes Stück. Wir trauen unseren Augen nicht, wenn wir da lesen:

 

„Wir sind gegen die Bevorzugung der A-Flüchtlinge,

 

gegen das politische Machtstreben der katholischen Kirche in unserer Heimat!

 

Sofort-Stopp aller Kredite und Zuschüsse für Neubau-Wohnungen der A-Flüchtlinge!

 

Besetzung aller Amtsstellen nur mit Einheimischen und ihren Freunden“ ...

 

O, ihr armen Irren, kann man hier sagen.

 

Bisher haben wir herzlich wenig von einer Bevorzugung der A-Flüchtlinge gemerkt, wenn wir auch nicht ungerecht sein wollen, dass in den letzten Jahren viel Leid gemildert werden konnte. Alle Kredite und Aufbaugelder haben den „Vorteil“, dass sie brav mit Zinsen zurückgezahlt werden müssen. — Es lohnt sich nicht, den Verfassern von solchen Wahl-Pamphleten die richtige Antwort zu geben. Die Quittung haben sie bei der Wahl selbst erhalten.

 

 

Seite 2   Oder-Neiße-Gebiet weiter unter Vorkriegsstand.

Einen umfassenden Bericht über die augenblickliche Lage der Landwirtschaft in den polnisch besetzten Gebieten gibt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Westberlin. Es kommt zu dem Ergebnis, dass deren Produktionsergebnisse heute noch weit entfernt vom Vorkriegsstand seien. Nach eingehenden Untersuchungen hat beispielsweise der Pferdebestand Ende 1952 mit 577 000 Stück erst 64 v. H. des Standes von 1938 erreicht, der Rinderbestand mit 1,5 Millionen Stück 42 v. H. und der Schweinebestand mit 1,9 Millionen Stück 40 v. H.

 

 

Seite 2   Heinrichswalde.

Der Ort in der Nähe von Tilsit hatte durch Kampfhandlungen nur wenig gelitten — etwa zehn Häuser wurden damals zerstört —, aber heute sind viele Gebäude zerfallen oder werden ausgeschlachtet. Die Kirche dient als Getreidespeicher. Deutsche wohnen nicht mehr hier.

 

 

 

Seite 3   Kreisstadt Lyck

Foto: Häusergruppe an der Kirche

Foto: Das Rathaus mit der Städtischen Sparkasse

Foto: Häusergruppe in der Hindenburgstraße

 

 

Seite 3   Drei Aufnahmen von Widminnen:

Links: Straßenbild.

Rechts: Apotheke und Dorfstraße

 

 

Seite 4 und 11   Ein ostpreußischer Geistliche / Sein Werden und sein Wirken.

Der eigene Lebensweg geschildert von D. Matthias Lackner, Geheimer Konsistorialrat.

In der Reihe der Schriften der Synodalkommission für ostpreußische Kirchengeschichte erschien 1921 ein schmales Bändchen unter dem Titel: „Ein ostpreußischer Geistlicher. Sein Werden und Wirken“. In dieser Schrift schildert der in Ostpreußen weitbekannte Geheime Konsistorialrat D. Matthias Lackner seinen eigenen Lebensweg. Diese Niederschrift war zunächst in erster Linie für die Mitglieder seiner Familie gedacht. Aber schon der in vielfacher Beziehung eigenartige Lebensgang und der Umstand, dass der Erzähler fünfzig Jahre in Königsberg, zum Teil an hervorragender Stelle, sein geistliches Amt verwalten durfte, lassen seine Erinnerungen als ein Stück ostpreußischer Kirchengeschichte erscheinen. Die Schilderungen sind im Frühjahr 1918 beendet worden.

 

Im Vaterhause.

Ich Matthias Lackner, bin geboren im Jahre 1835 am 24. Dezember, dem Christabend, in Nassawen, Kreis Stallupönen, und stehe jetzt in meinem dreiundachtzigsten Lebensjahre. Mein Vater war Schmiedemeister und hatte eine sehr harte und entbehrungsvolle Kindheit und Jugendzeit gehabt. Geboren war er 1801 auf einem ansehnlichen Bauernhof in Melkinten bei Trakehnen. Und jedes Mal, wenn wir auf unserer Fahrt zur Schule in Gumbinnen bei Melkinten vorbeifuhren, wies er auf den Hof hin und sagte: „Das ist mein Vaterhaus“. Aber sein Vater konnte in der Zeit des unglücklichen Krieges gegen Napoleon in den Jahren 1806 und 1807 den Hof schon schwer halten. Er hatte ihn auch, wie mein Sohn als Referendar aus den Grundakten Melkinten beim Gericht in Stallupönen feststellte, tief

verschuldet übernommen. Die Franzosenzeit brachte ihn materiell völlig herunter, so dass er mittellos mit seiner Familie (Frau und zwei Söhne) von seinem väterlichen Erbe scheiden musste. Er ernährte sich und seine Familie von da ab dürftig als Feld- und Waldarbeiter, wechselte auch häufig seine Wohnung in den Walddörfern Schwentischken und Pilzenkrug. Die beiden Söhne teilten das Los der Eltern, waren auch oft heimatlos und genossen fast keinen Schulunterricht, so dass mein Vater zweifellos nicht schreiben konnte; ob auch nicht lesen, habe ich mit Sicherheit nicht feststellen können, weil ich mich scheute, ihn zu fragen. Er nahm sein Gesangbuch zur Hand, sah auch hinein, sang mit, konnte aber manche Lieder auswendig. Seinen Namen schreiben lernte er später von mir, so dass, wie mein Sohn aus den Grundakten Nassawen festgestellt hat, er anfangs nur Kreuze machte, später aber seinen Namen mit fester Hand schrieb. Dieser Mangel an elementarer Schulbildung hat meinen Vater sehr gedrückt und in ihm eine hohe Wertschätzung der Bildung und reges Verlangen darnach geweckt. Ein besonderer Umstand kam noch dazu. Mein Vater stand schlecht mit dem Ortsschulzen, weil er Führer der Gegenpartei war, die mit der Dorfverwaltung nicht zufrieden sein konnte. Bei jeder Gelegenheit suchte nun der Schulze meinen Vater zu demütigen, so bei den Unterschriften. In der ganzen Dorfgemeinde konnte außer dem Schulzen, der dürftig schrieb, nur ein Eigenkätner seinen Namen schreiben. Denn Oberförster, Förster und Forstkassenrendant gehörten nicht zur Dorfgemeinde, sondern zur Forstverwaltung. Wenn es nun in der Dorfgemeinde zu Unterschriften kam, fragte der Schulze jedes Mal, wer kann seinen Namen schreiben? Darauf trat der einzige schreibkundige Kätner hervor, und dann kam mein Vater an die Spitze der Kreuze. Man versteht es, dass er sich ärgerte, da er sonst ein gewisses Ansehen im Dorfe genoss, und es erklärt sich daraus manche seiner Handlungen.

 

In Nassawen war damals noch keine Schule, nur ein gut gelegenes Schulgrundstück war bei der Separation dafür ausgeschieden. Das Schulhaus sollte mit Unterstützung des Staates von der Schulgemeinde erbaut werden. Zur Festsetzung der Umlagen für diesen Zweck hielt der Landrat eine Versammlung der Beitragspflichtigen ab. Die Bauern sträubten sich, den verlangten immerhin hohen Betrag zu zahlen. Da erklärte mein Vater in der Versammlung, er wolle den doppelten Beitrag der für die Wirte festgesetzten Rate zahlen, wenn nur die Schule erbaut würde, weil die drei Kilometer entfernte Schule in Schinkuhnen den Schulbesuch erschwere, auch hindere, dass die Schulkinder in der Winterszeit ein warmes Mittagessen erhielten. Der Landrat erkannte den guten Willen meines Vaters an, lobte ihn und meinte, wenn nur mehrere oder alle so opferwillig wären, dann käme der Bau wohl bald zustande. Diese Verhandlung erfuhr ich aus der Erzählung des Vaters an die Mutter. Dabei regte sich in ihm das Bedenken, ob er mit seinem Entgegenkommen, das er zu Protokoll gegeben, nicht doch zu weit gegangen wäre und sich zu sehr belastet hätte. Die Mutter beruhigte ihn und war auch mit der höheren Belastung einverstanden. Übrigens kam der Schulbau in Nassawen erst viel später zur Ausführung, etwa nach zwanzig Jahren, als ich schon im Pfarramt an der Altstadt war.

 

Nachkommen der Salzburger

Ich komme jetzt zu meiner geliebten Mutter. Sie war wie mein Vater ein Nachkomme der Salzburger Emigranten, hieß Marie Brandstädter und war geboren 1813. Die Erinnerung an die verlassene Heimat im Salzkammergut war damals, also etwa hundert Jahre nach der Einwanderung, noch sehr lebendig und wirksam. Es kam selten vor, dass ein Salzburger eine Litauerin oder Polin heiratete oder umgekehrt. Der Gegensatz zwischen den Eingewanderten und den Eingesessenen war noch nicht überwunden und ausgeglichen. Man nannte meinen Vater im Dorf nicht mit seinem Namen, sondern er hieß „Sambras“, d. h. der Salzburger. Mein Vater und meine Mutter sprachen auch noch den Salzburger Dialekt, namentlich, wenn sie einander etwas mitteilen wollten, was wir Kinder nicht verstehen sollten, denn wir lernten diesen Dialekt nicht mehr, verstanden ihn auch nicht. Erst bei meinem Besuch des Landes meiner Vorfahren, des Salzkammergutes, habe ich diesen Dialekt bei schlichten Leuten wieder gehört. Auch sonst wurden von meinen Eltern noch Erinnerungen an die südliche Heimat festgehalten. Als Andachtsbücher gebrauchte man Schaitberger und ein altes, großschriftiges Predigtbuch, aus dem die Mutter uns am Sonntag und Festtag, wenn wir nicht in die Kirche gingen, nach dem Gesang eines Liedes eine Predigt vorlas. Man trug auch noch Salzburger Schuhe und Salzburger Rückenkörbe, die für Gebirgsgegenden berechnet waren und für die Ebene nicht passten. Auch das Kochen und Backen in den Häusern der Emigranten unterschied sich von ostpreußischer Art und war von Salzburg mitgebracht. Meine Eltern haben in glücklicher Ehe gelebt. In den fast sechzig Jahren, die ich im Elternhause zubrachte, habe ich nur einmal eine kleine Differenz zwischen den Eltern bemerkt. Welches der Grund war, weiß ich nicht, ich kam erst später hinzu. Es wird wohl eine wirtschaftliche Frage gewesen sein, mit deren Ordnung durch den Vater die Mutter nicht zufrieden war. Ich fand sie sehr erregt und scheltend. Vater blieb ganz ruhig, ja er lächelte, und das wird die Mutter vielleicht noch mehr gereizt haben, und sagte zum Schwager Gadzaly, der dabei war: „Wat säggst dato? Na, motst doch de Dummheit ansähne“. Aber der Zwist war schon am Abend ausgeglichen. Meine Mutter stammte aus Koegskehmen, einem Dorf bei Szittkehmen. Ihr Vater war Schneidermeister, besaß aber auch ein eigenes Grundstück mit einem größeren, ertragreichen Garten. Die Familie war mit Kindern reich gesegnet, nach meiner Erinnerung waren es zwei Söhne und fünf Töchter, die sich alle verheirateten. Aus diesem mütterlichen Großelternhause rührt meine erste Erinnerung. Ich muss etwa drei Jahre gewesen sein, als meine Mutter mich dorthin mitnahm und für einige Wochen dort ließ. Eines Tages spielten mit mir die Onkel und Tanten auf der Tenne, die mit Stroh bedeckt war, und warfen mich einander zu und fingen mich auf. Aus dieser unbehaglichen Situation rettete mich die gute Großmutter, die ich damals zum letzten Mal sah, denn sie starb bald darauf. Die Behandlung auf der Tenne hatte ich sehr übel genommen und klagte über sie noch oft meinem Vater und meiner Mutter.

 

Kindheit in Nassawen

Wie in Nassawen war auch in Koegskehmen damals noch keine eigene Schule, sondern nur ein Schulgrundstück. Meine Mutter wurde deshalb in die zweiklassige Schule zu Szittkehmen eingeschult, und diese muss zu der Zeit recht gut gewesen sein, denn meine Mutter hatte eine ausreichende elementare Ausbildung erhalten. Abgesehen von ihrem fertigen Lesen und Schreiben, welches letzteres sie freilich nicht viel übte, besaß sie eine gute Kenntnis in biblischer Gesichte, im Katechismus und im Gesang des Kirchenliedes. Sie las die religiösen Andachten gut vor und leitete auch den Gesang der Kirchenlieder.

 

Sie war die zweite Frau meines Vaters und heiratete ihn im Alter von neunzehneinhalb Jahren, brachte als Helferin auch ihre jüngste Schwester, Christel, mit, die sich später mit unserm nächsten Nachbar, einem bäuerlichen Besitzer Gadzaly, verheiratete, der ein Grundstück von hundert Morgen besaß. Die beiden Schwestern hielten bis zu ihrem Tode treu zusammen, treu auch die beiden Familien, so dass man sie wie eine ansehen konnte. Ich hatte also in Nassawen eigentlich zwei verwandte große Familien. — Außerdem fand meine Mutter auch ein Stieftöchterchen aus erster Ehe, Anna, im Alter von zwei Jahren vor. Mit dieser meiner älteren Schwester habe ich mich

gut vertragen. Sie war dreieinhalb Jahre älter als ich und hat mich schon bemuttert. Ihre beständige Furcht war nur, daß ich, wenn ich nun über den Kreis meiner Geschwister emporgehoben würde, stolz und hochmütig würde und auf meine Geschwister herabsähe. Auf einen scherzlichen Streit mit ihr besinne ich mich noch, auf einem Gang nach Jägersthal, wo wir etwas holen sollten. Ich verlangte für Gumbinnen, wovon schon geredet wurde, sechs Hälschen und sechs Kragen, was doch bescheiden genug war. Aber sie fand das schon viel zu viel und zu hochmütig und meinte, drei Hälschen und drei Kragen würden schon genügen. Aber darum gabs noch keine Feindschaft zwischen uns. Sie heiratete später einen Tischlermeister Gadzaly aus der bekannten und verwandten Familie. Sie kauften sich mit der beiderseitigen Mitgift ein Grundstück in Aschlauken, das noch in den Händen der Tochter ist. Sie wurde über siebzig Jahre alt; ich bin immer mit ihr in Verbindung geblieben und noch jüngst habe ich in meinem Hause einen ihrer Großsöhne gehabt, der im Felde steht.

 

Meine Mutter, obwohl noch jung, hatte es nicht leicht. Mann, Geselle und Bursche waren zu versorgen, dazu die mitgebrachte Schwester und das Kind aus erster Ehe. Bald traten auch einige Kinder hinzu, vier Söhne und Töchter. Der älteste Bruder starb, aber drei, von denen ich der älteste war, blieben am Leben und auch die zwei Schwestern. Dazu kam später ein jüngster Bruder, Wilhelm, der kurz vor dem Tode meines Vaters geboren wurde. Dieser fühlte wohl, dass er ihn nicht mehr werde erziehen können und sprach die Hoffnung aus, dass ich statt seiner ihn erziehen würde. Das ist dann auch mit des Herrn Hilfe geschehen. Sobald ich als Geistlicher an die Altstadt kam und eine geräumige Wohnung hatte, holte ich mir meinen Bruder, ließ ihn das Friedrichskollegium besuchen, dort das Abgangsexamen machen und Geschichte studieren. Ich habe an ihm nur Freude erlebt, er war ein hervorragend tüchtiger Lehrer und hat als solcher im Segen gewirkt in Gumbinnen, Allenstein und zuletzt am hiesigen Friedrichskollegium, auch an Töchterschulen. Mit mir und mit meiner Familie blieb er in treuer brüderlicher Gemeinschaft. Er starb als Gymnasialprofessor am Friedrichskollegium im Alter von neunundfünfzig Jahren und hinterließ seine Gattin und zwei Söhne, von denen der eine gesuchter Zahnarzt ist, der andere Dr. med. und Assistent an einer Universitätsklinik.

 

 

Im Sommer barfuß

Meine Mutter war wirtschaftlich sehr umsichtig und tüchtig, sie verstand es, ihre große wachsende Familie mit Kleidung und einfacher, aber gesunder Nahrung wohl zu versorgen. Auch in knappen Jahren haben wir nie Mangel gehabt. Ja, sie hatte auch noch übrig zu geben den Dürftigen, die sie ungern ungetröstet von ihrem Hause weg wies. Abgesehen aber von gesunder und reichlicher Nahrung wurden wir knapp gehalten. Wir hatten zwar Stiefel und Schuhe, trugen sie aber nur im Winter und bei festlichen Gelegenheiten, zum Kirchgang oder zu Besuchen bei Verwandten. Im Sommer gingen wir barfuß und im Winter in Holzschuhen (Klumpen). — Die Weihnachtsbescherung war die denkbar einfachste. Der Christbaum war noch nicht allgemein Sitte. Die Bescherung fand bei uns am ersten Feiertag früh statt und sie regte uns so auf, dass wir nicht schlafen konnten, sondern schon früh wach waren. Auf dem Familientisch lagen verdeckt so viel Teller, als Kinder vorhanden waren. Die Eltern standen dabei und wir umgaben den Tisch nach dem Alter. Wir sangen ein Weihnachtslied und die Mutter las die Weihnachtsgeschichte vor. Dann durften wir die Teller aufdecken und fanden darunter ein Gebäck in Tierform von dem einzigen Bäcker des Kirchspiels Mehlkehmen, zwei bis drei Äpfel und in einem derselben einen Pfennig eingeklemmt. Und wie glücklich waren hierüber! Am Nachmittag und am zweiten und dritten Feiertag (es gab bei uns immer noch drei Feiertage für die großen Feste, und die sonst so ruhigen Leute begehrten auf und sträubten sich, wenn ein neu angezogener Gutsbesitzer ihnen den dritten Feiertag nehmen wollte) gingen wir auf die umliegenden Berge rodeln, obwohl wir das Wort damals noch nicht kannten. Die kleinen Schlitten hatten uns der Geselle oder wir auch selbst verfertigt.

 

Eine rechte Plage waren in jener Zeit die Zigeuner. Man hatte sie zwar angesiedelt und ihnen verboten, sich bettelnd herumzutreiben. Sie taten's aber doch, besonders bei Jahrmärkten fehlten sie nie. Sie zogen mit ihren kleinen Wagen und elenden Pferdchen mit Weib und Kind in Scharen heran und bettelten auf der Reise. Nicht einzeln kamen sie in die Bauerngehöfte besonders in der Zeit, wenn die Männer auf dem Felde arbeiteten, oder auf den Wiesen und im Walde, und nur einzelne Frauen das Haus hüteten, sah sich plötzlich solch eine Frau von Zigeunern, Männern, Weibern, Kindern, die alle die Hand ausstreckten und bettelten, umgeben. Die Frauen wussten sich nicht anders zu helfen, als reichlich zu geben, damit sie das Gesindel loswurden. Auf eine Zigeunergeschichte besinne ich mich noch. Eine Frau war mit ihrem Kinde in unserm Hause zurückgeblieben, sie wollte dem hungrigen Kinde einen Brei aus Mehl bereiten. Meine Mutter gab ihr aus dem vorhandenen Mehltopf drei Löffel Weizenmehl, was sie für genug hielt. Aber die Frau holte sich immer noch mehr heraus ohne Erlaubnis. Meine Mutter befahl mir, den Mehltopf wegzunehmen, was ich auch tat. Da sagte die Zigeunerin: „Der Tamfel ist schon dick genug“. Das Wort wurde bei uns zum geflügelten. Bei jeder vollbrachten, vollendeten Tat, ob's passte oder nicht, hieß es: „Der Tamfel ist schon dick genug“.

 

 

Das Leben im Elternhaus

Nach meines Vaters frühem Tode, er starb 1856, wirtschaftete die Mutter mit den beiden Söhnen und erhielt nicht nur das Besitztum ungeschmälert, sondern erwarb noch dazu einen Bauernhof für den älteren Sohn August, während dem jüngeren Sohn Hans das väterlich Grundstück verblieb. Es ist noch in den Händen seines Sohnes Ernst, der es vergrößert hat, auch sich eine Holzschneidemühle erbaut, die erheblich mitschafft am Aufbau Ostpreußens. Von den zwei Töchtern meiner Eltern verheiratete sich die ältere, die jüngere starb.

 

Rühmlich muss ich die Gastfreiheit meiner Mutter hervorheben. Nicht nur ich konnte jederzeit kommen und wurde freundlich aufgenommen, auch meiner Frau öffnete sie ihr Haus. Die erste war nur einmal dort, als ich sie als junge Frau vorstellte, sie starb ja bald. Aber die zweite war oft als junge Frau dort und verstand es wunderbar, das Herz der Mutter zu gewinnen. „Was für eine so gar scharmante hast du dir jetzt genommen!“ sagte sie zu mir schon nach der Bekanntschaft des ersten Tages. Meine Frau führte ihre gewinnende Art, mit schlichten Leuten umzugehen, auf Ottilie Wildermuth zurück, aus deren herzgewinnenden Geschichten sie es gelernt hätte. Die Wildermuth war eine Freundin ihres Vaters gewesen, mit der er, ohne sie je gesehen zu haben, in lebhaftem, schriftlichem Verkehr stand. Sie schenkte seinen Kindern alle ihre Werke und hatte in ihnen die dankbarsten Leser und Verehrer.

 

Trotzdem aber meine zweite Frau das Herz meiner Mutter gewonnen hatte, war es doch sehr schwer, sie zu einem Besuch in unserm Hause in Königsberg zu bewegen. Sie hatte mir einmal gesagt, als ich von ihrem Besuch bei mir sprach: „Wo werde ich zu dir kommen, da passe ich ja nicht hinein“. Aber meine Frau erreichte es, dass sie doch kam und mehrere Wochen bei uns blieb, auch mit meinen damals noch kleinen Kindern gute Freundschaft schloss. Sie hatte nichts von großelterlicher Schwäche den Enkeln gegenüber, tadelte, was zu tadeln war und erwarb sich doch deren Liebe. Einer meiner Söhne, Otto, tobte viel herum in den Stuben. Wir bedrohten ihn und sagten, das könne die Großmutter nicht aushalten. In seiner kindlich naiven Art fragte er dann von Zeit zu Zeit die Großmutter: „Kannst du noch aushalten?“ Sie nickte, dann tobte er weiter und sie blieben gute Freunde. Zum ersten Mal sah sie jetzt eine große Stadt, und vieles war ihr neu und wunderbar. Als ich sie mit meiner Frau in ein Kirchenkonzert in den Dom begleitete, hörte sie andächtig zu und hatte große Freude daran. Sie war musikalisch begabt. Nach der Heimkehr sagte sie: „So wie in der großen Kirche beim Konzert muss es in dem Himmel sein und bei den Chören der Engel“. Beide Eltern sind heimgerufen. An Vaters Grab stand ich als Sekundaner, an Mutters Grab als Geistlicher der Altstädtischen Gemeinde und habe ihr Gebete und Segenswunsch mit warmem Dank nachgerufen.

 

Unsere Erziehung lag mehr in den Händen der Mutter als des Vaters, obgleich er sich auch kümmerte und alles mit der Mutter besprach. Gezüchtigt bin ich meines Wissens vom Vater nur einmal mit meinem jüngeren Bruder und mit vollem Recht. Ein litauischer Bauer, stark betrunken, den wir schon als Säufer kannten und verachteten, sprach stehend in unserer Stube mit dem Vater. Uns Jungens reizten die großen Perlmutterknöpfe auf der Rückseite des grauen Wandrocks. Wir nahmen uns jeder ein Brotmesser und fingen an, ihm die hinteren Knöpfe abzuschneiden. Er merkte es, beschwerte sich in litauischer Sprache, die ich noch höre, beim Vater: „Sie zerschneiden mir den Rock“. Mein Vater schien es nicht zu glauben, dass wir dessen fähig wären, griff aber doch herum und schob uns weg. Und da er uns jeden mit einem Messer bewaffnet sah, drohte er uns mit nicht miss zu verstehender ernster Miene. Der Bauer entfernte sich bald; aber das Strafgericht wurde mit allem Ernst an uns vollzogen. Ich bin ihm aber doch dankbar geblieben, dass er solche Frechheit seiner Söhne nicht geduldet hat. Die Mutter strafte öfters; sie war zwar zart und schwächlich, hatte aber eine lose Hand, die sie oft für ihre drei Jungen gebrauchte. Für jeden Unfug, den wir angerichtet hatten, gab es etwas, und dabei verfuhr sie nach dem Grundsatz, der mir sehr störend war: Der Älteste ist meist der Anstifter und hat die meiste Schuld. Wenn wir uns mit den Nachbarkindern, meistens mit den Gadzalyschen gleichaltrigen Kindern, trotz aller Freundschaft rauften, dabei unsere Kleider zerrissen, wenn wir grundlos einander verklagten, wenn wir das eben sich bildende Eis des tiefen Sees, bevor es fest war, betraten, und noch erzählten, dass es immer unter unsern Füßen sich gebogen hätte, wenn wir mit dem Vieh unvernünftig umgingen und es ohne Grund schlugen, wenn wir mit der Wahrheit nicht heraus wollten oder sie verdrehten, dann gab es etwas. Aber sie blieb doch unsere beste Freundin, wir liebten sie mit all der Innigkeit, deren unser Herz fähig war. Mit allem Leide und allem Schmerz durften wir zu ihr kommen; sie war unsere beste Trösterin, sie führte alles auf Gott und das Jenseits zurück und suchte in uns das lebendige Bewusstsein von der Nähe unseres Gottes und Heilandes zu wecken. Besonders drang sie auf den täglichen Gebetsverkehr mit Gott. Als ich später vom Gymnasium oder von der Universität zum Besuch ins Vaterhaus gekommen war, trat sie einige Male an mein Bett, bevor ich einschlief, und fragte vertraulich, ob ich wohl auch noch täglich bete, und war befriedigt wenn ich fest und bestimmt sagen konnte: Ich hätte das Gebet, wie ich‘s im Vaterhause geübt, bis jetzt festgehalten.

 

Die religiöse Erziehung in meinem Vaterhause hatte, wie ich das erst später erkannte doch manche Mängel, die mit der eigenen Erziehung der Eltern zusammenhingen. So wie sie religiös erzogen waren, erzogen sie auch ihre Kinder. Täglich war keine Hausandacht, auch bei Tisch wurde nicht gebetet. Nur am Sonnabendabend und am Sonntagmorgen sammelten sich die Hausgenossen, auch die Dienstboten und Knechte zur Andacht. Es wurde ein Lied gesungen, und dann las die Mutter ein Gebet oder eine Predigt vor. Die kleinen Kinder etwa bis zum zehnten Lebensjahr mussten jeden Abend beim Vater oder bei der Mutter antreten, die Hände falten und ihr Gebet sprechen. Der Vater ließ meist hersagen „Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid“ usw. oder „Lass mich dein sein und bleiben, du treuer Gott und Herr“ usw. oder „Wirk, mein Heiland, wahre Buße, schaff ein reines Herz in mir“ usw. Die Mutter war reicher, konnte viele Lieder auswendig, sprach sie uns vor, und wir lernten sie von ihr. Aber ein freies Gebet habe ich auch von ihr nicht gehört. Indessen empfingen wir doch durch die Eltern einen tiefen, ernsten Eindruck von der Nähe unseres Gottes und Heilandes und von unserer Verantwortung ihm gegenüber. Das ist mir einmal klar zum Bewusstsein gekommen. Die Söhne des Oberförster waren zu Pfingsten nach Hause gekommen, suchten Spielkameraden, die mit ihnen in dem dicht bei Nassawen gelegenen Wäldchen (Kathrinenberg), das mit schönen Gängen und Bänken von der Forstverwaltung versehen war, Räuber und Soldat spielen sollten. Ich wurde auch dazu aufgefordert und nahm teil. Wir tummelten uns den ganzen Vormittag am ersten Pfingsttage herum. Aber beim Nachhause gehen bekam ich es mit der Angst, dass ich mich an Gott schwer versündigt hätte, weil ich mich an dem ersten heiligen Pfingsttage während der Predigt herumgetrieben, was die Mutter immer als große Sünde bezeichnet hatte. Bitterlich weinend kam ich heim. Die Eltern billigten zwar meine Reue, beschönigten mein Verhalten nicht, aber wiesen mich doch auf Gottes Gnade und Vergebung hin.

 

Wie meine Eltern in religiöser Hinsicht standen, möchte ich so ausdrücken: Es war ein von den Vorfahren ererbtes, auch durch Verfolgung geprüftes und bewährtes protestantisches Christentum, das die Grundwahrheiten festhielt: „Gott, Jesus, der Sohn Gottes, unser Erlöser und Heiland. Das Jenseits, unser Fortleben dort, war ihnen nie schwankend geworden. Mein Vater ließ sich gern auf religiöse Gespräche ein und erzählte der Mutter oft von solchen Unterhaltungen mit Förster, Lehrer und Kaufleuten. Einmal berichtete er, wie sich ein Müller eines großen Mühlenwerkes über Christus ausgesprochen habe: Er halte ihn zwar für ein edlen Menschen, der nicht Böses mit Bösem vergalt, nicht wiederschlug, wenn er geschlagen ward, der uns also ein gutes Beispiel hinterlassen habe; aber Gottes Sohn sei er nicht, nur ein edler Mensch“. Dazu meinte Vater: Das sei doch ganz verkehrt, wie könne er uns erlösen, uns die Seligkeit verbürgen, wenn er nicht Gottes Sohn wäre! Wie könne er sagen: „Ich und der Vater sind eins; wer mich siehet, siehet den Vater“. Die Mutter stimmte durchweg zu und bestärkte ihn in seiner religiösen Ansicht.

 

Also es war zweifellos bei meinen Eltern ein christlicher Glaube vorhanden, der sich aber vornehmlich auf das Jenseits richtete, nicht auch auf das Diesseits. Die Seligkeit wollte man sich sichern. Wie gern hat mein Vater jene Erzählung wiederholt vom lieben Gott, der in schlichter Gestalt eines armen Mannes die Menschen besuchte und ihnen drei Wünsche gestattete. Die Törichten wünschten sich Irdisches und vergaßen das Eine, was Not tut, aber fromme Christen wünschten sich zuerst und vor allem die Seligkeit. Das, sagte er, wurde auch sein erster Wunsch sein. Also: Nur selig , das war Wunsch und Gebet meiner Eltern; aber dass das Christentum auch auf dem täglichen Wandel und Verkehr mit dem Heiland beruhe, dass man immer sein nahe sein, seine Liebe und Gnade erfahren und seiner stets froh werden muss, also dass man ohne ihn nicht leben kann, kurz, dass man dauernd in der Gewalt Jesu sein müsse, das war meinen lieben Eltern doch nicht gegenwärtig, das konnten sie also auch ihren Kindern nicht vermitteln. Es war das auch nicht ihre Schuld, sondern auch die Schuld der Kirche, die den Heiland und die Apostel in dieser Beziehung nicht immer ganz verstanden hatte.

 

Sonst lebten die Eltern in der Bibel, und Mutter war mit den Geschichten des Alten und Neuen Testamentes wohl vertraut, erzählte sie uns immer wieder, und wir konnten beim Mangel an anderen Geschichten nie genug davon hören. Schon bevor ich die Schule besuchte, kannte ich die meisten biblischen Geschichten. Mein Vater ergänzte die Mutter nach einer andern Seite. Er kannte und erzählte uns die Geschichten der Tiersagen: vom Wolf und vom Fuchs, vom Löwen und vom Bären. Ebenso erzählte er die deutschen Märchen von Schneewittchen, Dornröschen, Rotkäppchen, von Frau Holle, aber alle mit großen Abweichungen von der ursprünglichen Form, so dass ich annehme, er habe sie auch nur mündlich erzählen gehört und habe sie in treuem Gedächtnis aufbewahrt. Insofern unterschied sich die Erzählungen der Eltern voneinander, als bei Mutter der Ernst überwog, bei Vater aber der Humor. Wir Kinder haben vielleicht von beiden etwas geerbt.

 

Zu König und Obrigkeit hatten wir unbedingtes Vertrauen, dass sie alles recht und weise ordneten. Unsere unbedingte Königstreue offenbarte sich so recht in dem tollen Jahr 1848. Wie unzufrieden waren wir mit den Berlinern. Warum blieb der König dort, warum kam er nicht dorthin, wo man ihn lieb hatte, also zu uns? Solche naiven, unreifen Gedanken bewegten nicht nur die Jugend, sondern auch die Erwachsenen. — Aber dabei fühlte man doch auch im entlegensten Dorf etwas von der allgemeinen Unruhe. Auch in Nassawen wurden die sogenannten „Herren“ besorgt, fürchteten Aufruhr und Plünderung. Sie errichteten eine Nachtwache, bestehend aus einem Herrn und zwei Bauern oder zwei Knechten, die in jeder Nacht wachen sollten. Mein Vater musste dazu scharfe Speere anfertigen lassen. Etwa vierzehn Tage bis drei Wochen ist auch wirklich gewacht worden. Aber da alles ruhig blieb, keine Räuberbanden sich einstellten, legte man sich wieder ruhig schlafen.

 

 

Die damaligen Zustände

Die sonstigen äußern Verhältnisse waren damals sehr unbefriedigend. Die Wege waren grundlos im Frühjahr wie im Herbst. Man konnte mit einem Wagen kaum das Kirchdorf Mehlkehmen erreichen, und wenn mich in solcher Jahreszeit mein Vater nach Gumbinnen zur Schule brachte, brauchten wir für einen Weg von vier bis fünf Meilen einen ganzen Tag und mussten vielfach zu Fuß dem Wagen nachgehen. Der Postverkehr mit Nassawen war trotz der Oberförsterei recht schwach; nur dreimal in der Woche kam ein reitender Postbote, brachte Briefe und nahm solche mit. Es wurde auch nicht viel korrespondiert, denn das Porto war hoch, kostete nach Königsberg schon 3 Silbergroschen = 30 Pfennig. Zeitungen habe ich als Kind kaum gesehen, sie werden in Nassawen vielleicht nur vom Oberförster gehalten worden sein. Die Wege durch die Rominter Heide waren zwar von dem Forstfiskus etwas besser gehalten, aber doch nicht durchweg geebnet und chaussiert. — Wie hat sich das alles in den achtzig Jahren zum Bessern verändert! Nicht nur eine Chausse geht durch Nassawen und verbindet den Ort mit dem Weltnetz der Chausseen, sondern auch eine Eisenbahn, und der Ort selber ist Eisenbahnstation geworden. Auch eine Postanstalt ist eingerichtet worden und hat lebhaften Verkehr. Zeitungen halten und lesen nicht nur die sogenannten Herren, sondern auch die Bauern, ja die Instleute, und sie können auch alle lesen, nicht nur Gedrucktes, sondern auch Geschriebenes. Dieser lebhafte Verkehr hat auch auf die Sprache eingewirkt. Während vor achtzig Jahren in Nassawen mehr litauisch als deutsch gesprochen wurde, fand ich bei meinem letzten Besuch keinen dort, der überhaupt litauisch versteht, und der dortige Superintendent und Pfarrer des Kirchspiels Mehlkehmen versichert: So steht es in der ganzen Parochie, nur ein paar ganz alte Leute wünschen das heilige Abendmahl in litauischer Sprache zu feiern. Das Litauische ist überhaupt in Ostpreußen stark zurückgegangen und hält sich nur noch schwach in den drei Kreisen Tilsit, Heydekrug, Memel.

 

Was die politische Haltung der preußischen Litauer anlangt, so muss man eine doppelte Zeit unterscheiden. Vor etwa achtzig Jahren, als ich sie im Kreise Stallupönen kennen lernte, waren sie auf dem Lande in den litauischen Kreisen noch vielfach in der Majorität, blieben ruhig und waren mit allem zufrieden, was der König anordnete, den sie wie einen Gott verehrten. Dasselbe Wort, mit dem sie Gott nannten, gaben sie auch ihrem König. Wieszpats Diews, Weiszpats Karalus. Als aber die Verdeutschung ungewöhnlich rasche Fortschritte machte, in den Kreisen südlich der Memel die Litauer fast ganz verschwanden und nur noch in den drei nördlichen Kreisen Tilsit, Heydekrug und Memel sich schwach hielten, als die Byrute mit ihrer Agitation einsetzte, als gelehrte Sprachforscher sie auf ihre herrliche Sprache aufmerksam machten, diese im Liede priesen, wurden sie unruhig, schickten Petitionen auf Petitionen an Allerhöchste Stelle, zumeist gegen die Schulverwaltung, welche angeblich ihre Kinder zwang, deutsch zu werden und das Latauische zu vernachlässigen.

 

Diese Bewegung steigerte sich noch in diesem Kriegsjahr 1918. Die Agitation ging so weit, dass man aus dem Untertanenverband mit Preußen ausscheiden und sich den russischen Litauern anzuschließen wünschte, trotzdem diese katholisch sind, während unsere Litauer gut evangelisch. Ein Mitglied des litauischen Seminars, Jurist und fertiger Litauer, hielt es in Königsberg nicht aus, trotz meiner Warnung begab er sich nach Tilsit und Memel und schloss sich lebhaft der Agitation an. Sie haben es auch zu einem Aufruf an die Gemeinden gebracht, den mir das Konsistorium zur Übersetzung zugehen ließ. Sie fordern darin zur Wahl von Vertrauensmännern auf, die sich zu Kreis- und Provinzialverbänden zusammenschließen sollen und an maßgebender Stelle für die litauischen Forderungen eintreten. Drei weitere Seminarmitglieder aus jenen litauischen Kreisen versicherten aber, dass die Agitation völlig erfolglos sei; denn die Litauer wollten nicht aus dem Verband mit Preußen ausscheiden und hätten dahingehende Beschlüsse gefasst.

 

In religiöser Hinsicht haben unsere Litauer reges kirchliches Interesse, besuchen regelmäßig den Gottesdienst und singen dort mit Freudigkeit geistliche Lieder mit und auch ohne Orgelbegleitung. Kaum kommt es vor, dass ein Litauer oder eine Litauerin stirbt, ohne das Heilige Abendmahl empfangen zu haben. Wollte Gott, ich könnte auch über ihre sittliche Haltung ebenso günstig urteilen. Aber neben hochachtbaren Litauern, die einen unsträflichen Wandel führen, gibt es doch auch solche die durch Prozesssucht, Holzdiebstahl, Grenzschmuggel, Meineid, Giftmord den guten Namen der Litauer schänden.

 

 

Die Schulverhältnisse waren mangelhaft

Eine starke Veränderung hat auch die Rominter Heide erfahren. Schon dadurch, dass Prinz Friedrich Karl sie sich als Jagdrevier erwählt hatte, traten Verbesserungen mannigfacher Art ein, aber erst recht, als nach dem Tode des Prinzen unser Kaiser selbst die Heide zu seinem Jagdrevier erwählte und in Friedenszeiten alljährlich im Herbst mehrere Wochen mit der Kaiserin dort Wohnung nahm. Das Jagdschloss mit dem schmucken Kirchlein und Park ist eine rechte Zierde für den Ort Rominten. Dazu kommen die schmucken Häuser für die Waldarbeiter, die Schule und dar Kinderhort, den die Kaiserin selbst ins Leben gerufen hat und unterhält. Auch ist in der Nähe von Rominten auf der sogenannten Königshöhe eine primitive Einrichtung getroffen, dass man emporsteigen und die ganze weite Heide übersehen kann. Der Blick, den man dabei gewinnt, erinnert an den Harz und an Thüringen.

 

Die Schulverhältnisse waren in meiner Heimat recht mangelhaft. Es gab zwar eine Schule für eine Reihe von Dörfern, auch für Nassawen in dem Dorf Schinkuhnen, aber sie hatte während mehrerer Jahre keinen Lehrer; mochten die Eltern sehen, wo und wie ihre Kinder etwas lernten. Die meisten Eltern fühlten diesen Mangel nicht, ertrugen ihn eigentlich gern, denn sie konnten ihre Kinder zu häuslichen Arbeiten gebrauchen. Nicht so mein Vater, er empfand es mit Unwillen, dass ich, sein ältester Sohn, bis zum vollendeten achten Lebensjahr keine Schule besucht hatte. Endlich kam ein Lehrer mit seiner Familie, nicht ein seminarisch gebildeter, sondern nur notdürftig von einem Pfarrer zugestutzter. Aber die bessern Familienväter und Mütter der großen Schulgemeinde nahmen ihn freundlich auf, versorgten ihm Küche und Keller mit Nahrungsmitteln, auch mein Vater leistete eine Fuhre. So begann denn der Unterricht, und mein Vater hielt streng darauf, dass wir keine Stunde versäumten, während andere Kinder sehr unregelmäßig die Schule besuchten, namentlich die Litauer, die fast die halbe Schule füllen sollten. Schulstrafen gab es nicht für das Fehlen, und im Sommer, wenn die Kinder in Feld und Garten zur Arbeit gebraucht wurden, fehlten manche ganz. Sommer- und Herbstferien wurden stark verlängert mit stillschweigender Zustimmung des Lehrers; denn auch er hatte Garten und Land und war bezüglich seines Gehaltes auf den Ertrag daraus gewiesen. Leider hatte unser Lehrer noch einen Fehler, er war nicht ganz sicher in Bezug auf Alkohol und hat wohl manchmal im Rausch uns unterrichtet. Als Schüler habe ich glücklicherweise das nicht erkannt, sondern erst als Student erfuhr ich es vom Pfarrer, seinem Ortsschulinspektor, und verstand nun manches. Trotzdem war er kein ungeschickter Lehrer. Scherzend sagte zu mir sein Pfarrer: „Seine Schüler wüssten mehr, wie er selbst“. Lesen konnte ich schon, bevor ich die Schule besuchte, hatte es bei der Mutter gelernt, ebenso konnte ich biblische Geschichte. In der Schule lernte ich noch fließender lesen, schreiben, rechnen, etwas Geographie, namentlich von Europa, auch preußische Geschichte nach Heinel und zwar so, dass ich schon nach drei Jahren, also von elf Jahren, erster war und weitere drei Jahre erster in der Schule blieb, aber eigentlich nichts hinzulernte. Damals kam mir der Mangel an Weiterbildung nicht zum Bewusstsein, aber später habe ich doch  bedauert, dass mir diese empfänglichen Jahre eigentlich verloren gegangen sind. Was hätte ich in ihnen lernen können!

 

Aber vielleicht waren jene Jahre nach Gottes Fügung doch nicht ganz verloren. Die Gegend, in der ich lebte, war für die körperliche Kräftigung recht ergiebig. Nicht nur der große Wald der Rominter Heide mit seinen Bergen und Tälern, mit seinen Wiesen und Flüssen, lud ein zum Beeren- und Pilze suchen, auch zum Fischen und Krebsen, und das ist auch von mir reichlich benutzt worden. Im Walde fanden sich zwar auch giftige Schlangen, aber obwohl wir vielfach barfuß herumliefen, sind wir niemals von ihnen gebissen worden. Die Seen im Dorf lockten zum Baden und Schwimmen. In der Sommerzeit lagen wir Jungen täglich im Wasser, nicht nur einmal badeten wir, sondern wiederholt, was unvernünftig und schädlich sein soll. Aber uns schadete es nicht, weil wir uns immer wieder warm liefen. Und obgleich ich von der zarten Mutter einen schwächlichen Körper geerbt hatte, kräftigte ich mich durch die Bewegung in der freien Natur so, dass ich bis in mein hohes Alter von dreiundachtzig Jahren eigentlich nie ernst krank gewesen bin, niemals meine Amtstätigkeit wegen Krankheit habe aussetzen müssen, auch jetzt mich so rüstig fühle, dass ich vertretungsweise predigen, Amtshandlungen vollziehen, auch im Garten Beete umgraben und bepflanzen kann.

 

Im letzten Schuljahr, wie das auf dem Lande so üblich ist, besuchte ich den Konfirmandenunterricht beim Pfarrer Arnoldt. Der zog mich mächtig an. ich lernte fleißig die Sprüche, Bibelstellen, Kirchenlieder, besprach auch alles mit der Mutter. Der Pfarrer muss wohl mit mir zufrieden gewesen sein, denn er setzte mich zu seinem Ersten, was meinem Vater ganz besondere Freude machte. Nach einjährigem Konfirmandenunterricht wurde ich eingesegnet im Alter von dreizehndreiviertel Jahren, und die Konfirmation übte einen gewaltigen Eindruck auf mich, der noch lange anhielt. Damit war die Schulzeit für mich zu Ende.

Fortsetzung folgt in der nächsten Ausgabe

 

 

Herbstlaub. Von Curt Waldemar Fritschken

Ich schreite

über welkes Laub.

Die Blätter fallen

wie die Tränen.

Versinken lautlos

in den Staub.

Es ist die Zeit

zum Abschiednehmen.

 

Um mich ist

tiefe Einsamkeit

die Erde ruht

in stillen Träumen.

Ich schreite weiter

durch viel Leid.

Das letzte Blatt

fällt von den Bäumen.

 

 

Foto: Blick auf die Dominsel in Königsberg mit dem Stadtgymnasium Altstadt-Kneiphof, das auf sein 650-jähriges Bestehen zurückblicken kann.

 

 

Seite 5   Aus den Landsmannschaften

Kreisverband Braunschweig-Stadt

Nachdem Landsmann Wilhelm Kerlen als 2. Vorsitzender der Landsmannschaft Ostpreußen und als Leiter der Jugendgruppe der Landsmannschaft Ostpreußen auf eigenen Wunsch ausgeschieden ist, wird ein Treffen aller ostpreußischen Jugendlichen am Mittwoch, 6. Oktober 1954, im Gliesmaroder Turm (Saal), und zwar alle 10- bis 14-jährigen Jugendlichen von 18 bis 20 Uhr und alle Jugendlichen über 14 Jahre ab 20 Uhr angesetzt.

 

Tagesordnung: 1. Wahl einer Leiterin für die Mädelgruppe und Wahl eines Leiters für die Jugendgruppe; 2. Planung der Winterarbeit.

 

Ostpreußische Eltern, schickt Eure Kinder ab zehn Jahren zu diesem Treffen und kommt nach Möglichkeit selber mit, damit Ihr hört, welche Ziele die Jugendarbeit der Landsmannschaft Ostpreußen verfolgt.

 

 

Lübbecke/Westfalen

Am Mittwoch, 15. September, hielt die Landsmannschaft ihre Monatsversammlung ab. Der Sprecher Hardt wies in seiner einleitenden Rede darauf hin, dass die Pflege des Heimatgedankens eine der wichtigsten Aufgaben der Ostvertriebenen sei, weil sonst die politischen Bestrebungen zur Rückgewinnung der verlorenen Heimat ihren Sinn verlieren würden. Ferner beschäftigte man sich mit den geplanten kulturellen Veranstaltungen der nächsten Zeit und ließ dann den Humor der ostpreußischen Heimat zu Wort kommen.

 

Seesen a. Harz

Ein Höhepunkt im kulturellen Leben der Landsmannschaft Ost- u. Westpreußen war die sehr stark besuchte „Erntefeier“ am 2. Oktober. Sämtliche Räume des Ratskellers waren mit Herbstgrün und Blumen festlich geschmückt. In ihren heimatlichen Volkstrachten gestalteten der Chor und die Kinderspielgruppe der Landsmannschaft in Zusammenwirken mit der D.J.O. und dem Zug der Schnitter und Schnitterinnen das ostdeutsche Brauchtum mit Liedern, Spielszenen, Volkstänzen und Erntesprüchen bis zur Überreichung der Erntekrone an das Bauernpaar. — Um das restlose Gelingen der Heimatfeier haben sich besonders Kulturleiterin Lieselotte Donnermann (Spielszenen), Hilfsschullehrer Fenske (Chor) und Frau Mirschel (Volkstanz, D.J.O.) verdient gemacht. —

 

Die Gruppe Bornhausen überreichte dem Vorsitzenden Papendick als symbolischen Erntedank einen sinnvoll hergerichteten ährengeschmückten großen Früchtekorb mit Erzeugnissen von Feld und Garten. — Im Oktober hält die Landsmannschaft der Ost- u. Westpreußen an jedem Mittwoch von 17 - 18 Uhr im BVD-Zimmer, Rosenstr. 2 Mitglieder- Beratungsstunden zur Ausfüllung der Fragebogen für die endgültigen Vertriebenenausweise ab.

 

In der heimatpolitischen Stunde der Landsmannschaft Ost- und Westpreußen am 6. November bringt Hilfsschullehrer Fenske „Kulturgeschichtliche Bilder aus der Zeit der 1. Besiedelung des deutschen Ostens“ unter dem Motto „Nach Ostland wollen wir reiten“.

 

Sommerfest der Ostpreußenkinder in Flensburg

Wie in jedem Jahre, so hatten wir auch in diesem Jahre unsere Kinder zu einem Kinderfest eingeladen. Bei herrlichem Sommerwetter, welches wir hier ja so selten haben, versammelte sich im festlich geschmückten Garten der „Bellevue“ eine ansehnliche Schar, um einen frohen Nachmittag zu verleben. Nach Begrüßung durch den 1. Vorsitzenden, Schulrat a. D. Babbel, und einer Kaffeetafel, entwickelte sich unter Leitung der Jugendwartin, Frau Lutzkat, und Damen der Frauengruppe, bald ein reges Treiben. Ein „zünftiger Clown“ mit einer riesigen Landsknechtstrommel, die er tüchtig bearbeitete, sorgte für besondere Unterhaltung der Kinder. Eine Kinderpolonaise unter Vorantritt eines Akkordeonspielers leitete die Wettkämpfe und Spiele der nach dem Alter eingeteilten Riegen und Gruppen ein. Preise und Belohnungen in Form von Süßigkeiten und anderen Gegenständen trieben die Kämpfer immer wieder zu neuen „Höchstleistungen“ an. Ein von der D.J.O. mit großem Geschick gespieltes Kasperletheater erntete wahre Beifallsstürme der Kinder und auch der Erwachsenen. Ein Reigen der Kinder und weitere Sportspiele, die Schulrat Babbel persönlich leitete, bildeten den Schluss des frohen Nachmittags der Ostpreußenkinder.  

 

 

Auslandfahrt der Flensburger Ostpreußenfrauen

Wenn wir früher in unserer Heimat sagten: „Wir fahren ins Ausland“, dann meinten wir damit eine Fahrt nach Zinten. Denn Zinten galt bei uns ja als Ausland. Diesmal hatten unsere Frauen aber wirklich den Sprung über die Grenze gewagt und waren nach Dänemark gefahren. Die Leiterin der Frauengruppe und Frauenreferentin, Frau Hiller, hatte die Ostpreußenfrauen zu einer Dampferfahrt nach Kollund (Dänemark) eingeladen. Der Gedanke fand regen Anklang, und so konnte bei großer Beteiligung die Dampferfahrt gestartet werden. Nach einem Besichtigungsrundgang durch den Badeort fanden sich die Ausflügler zu einer gemeinsamen Kaffeetafel im Kurhaus zusammen. Mit fröhlichem Gesang und bei bester Stimmung fuhren die Frauen nach einem erlebnisreichen schönen Nachmittag wieder heimwärts.

 

Bremerhaven

Die Landsmannschaft der Ost- und Westpreußen und Weichsel/Warthe, die größte in Bremerhaven, wird im Oktober ihr 28-jähriges Stiftungsfest feiern. Auch in diesem Jahr soll diese Veranstaltung die größte landsmannschaftliche Veranstaltung überhaupt werden. Daher sind jetzt schon namhafte Kräfte verpflichtet worden. — Die Landsmannschaft der Ost- und Westpreußen und Weichsel/Warthe zählt über 700 eingetragene Mitglieder.

 

 

Verein heimattreuer Ost- und Westpreußen zu Hannover

Am Sonnabend, 23. Oktober 1954, begeht der Verein sein 4. Stiftungsfest in der „Fröhlichen Waldschenke“ am Benther Berg. Ein auserlesenes Programm mit namhaften Künstlern und eine Tombola werden diesem Fest einen schönen Rahmen geben. Gemeinsame Abfahrt in Autobussen am 23.10.1954 um 19 Uhr vom Raschplatz (hinter dem Hauptbahnhof). Rückkehr in alle Stadtteile. Teilnehmerpreise: Mitglieder DM 0,60, Gäste DM 3,50. Teilnehmerkarten bis zum 17.10.1954 vorrätig bei Landsmann Wilhelm Hellwig, Hannover, Bödekerstraße 96.

 

Die Mitglieder werden ferner gebeten, ihre der Tombola zugedachten Spenden zum Stiftungsfest mitzubringen und dort an den Veranstaltungsleiter, Landsmann Wittkowski, abzugeben.

 

 

Stuttgart

Das 6. Stiftungsfest der Landsmannschaft der Ost- und Westpreußen fand am 5. September 1954 im Freizeitheim Stuttgart - Feuerbach statt. Es waren hierzu ca. 500 Landsleute erschienen. Das Programm, das von Musikstücken umrahmt wurde, begann mit einem Heimatgedicht der Jugendgruppe. Darauf begrüßte der 1. Vorsitzende, Herr Krzywinski, die Landsleute und führte u. a. aus:

 

„Eine wesentliche Aufgabe unserer Landsmannschaft ist es, nicht nur für uns und unsere Kinder die Erinnerung an die Stätten lebendig zu halten, die uns Heimat gewesen sind, an die Gräber unserer Vorfahren, an die Kirchen, Burgen und Städte, welche für die Deutsche Geschichte dieser Länder und Provinzen zeugen, sondern auch stolz zu sein und immer bewusst Kunde zu geben von dem geistigen und seelischen Reichtum, der aus diesen Ländern in das gemeindeutsche Kulturgut eingeströmt ist“. Er schloss seine Ausführungen mit folgenden Worten: „Nur wenn es uns gelingt, ein mit Leben erfülltes Gesamtbild des Deutschen Ostens in unseren Mitmenschen, in uns und in unseren Kindern lebendig zu erhalten, werden wir eines Tages auf friedlichem Wege dort hinkommen“.

 

Als Abschluss wurde ein gemeinsames Lied „Land der dunklen Wälder“ von allen Anwesenden gesungen.

 

Danach sang die Jugendgruppe das Lied „Ännchen von Tharau“. Das sehr reichhaltige Programm wurde durch Herrn Steinki unterstützt, der in sehr humorvoller Weise die Darbietungen bekannt gab. Die Gesangsvorträge von Landsmann Widder wurden mit sehr großem Beifall hingenommen. Zum Schluss brachte die Jugendgruppe, zum ersten Male in Heimattrachten, Volkstänze, die bei den Landsleuten großen Anklang fanden. Nach einem dreistündigen, flott verlaufenen Programm kam die Jugend zu ihrem Recht, indem sie den Abend mit gemeinsamen Tänzen und Frohsinn beschloss.

 

 

Seite 5   Memel-Treffen in Hannover-Limmer.

Wasser, Wiesen, Schilf — die Landschaft. Das Kurhaus Limmerbrunnen mit dem großen schattigen Garten — wie im Sandkrug auf der Nehrung — der Ort des Treffens.

 

. . . Um den alten Burghügel an der Leine in Limmer drängen sich einige Gehöfte. Eichen und Linden beschatten Häuser und die bunten Gärten und wetteifern in der Höhe mit dem Turm der kleinen Sandsteinkirche St. Nicolai. Schon viele hundert Jahre rufen von dieser Stelle, am Rande der zur Großstadt gewordenen alten Marktsiedlung mit dem Wirtschaftshof Heinrichs des Löwen, die Glocken über die Wiesen an der Leine bis zu den Gärten von Herrenhausen zum Gottesdienst. Zur Zeit Heinrichs, des Gründers von München und Lübeck, des Kolonisators des Ostens, wurde auf dem höchsten Hügel im Sumpf an der Leine eine Fischer- und Schifferkirche erbaut . . . Mit dem Gottesdienst an diesem ehrwürdigen Ort begann das Herbsttreffen der Memelländer, das im Besonderen im Zeichen der Jugend stand. Pastor Engler hielt den Gottesdienst zum gemeinsamen Kirchgang der Einheimischen und Vertriebenen. Viele waren gekommen und der Ruf an die Jugend war nicht umsonst ergangen. Außer der treuen älteren Generation mit den jungen Herzen — die Jahrgang-Jungen, die etwas hören und wissen wollten.

 

In der Kundgebung mit der Rede des Studienrates Dr. Lietz und den Ausführungen des Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft der Memelländer, des ehemaligen memelländischen Schulrates Richard Meyer, kam zum Ausdruck, was immer wieder gesagt werden muss und was auch Gespräch und Ergebnis des Vertretertages, an dem alle Memellandgruppen des Bundesgebietes teilnahmen, war:

 

Brauchtum und Liedgut und Liedersammeln ist wichtig und nützlich. Es ist unentbehrlich. Tanz- und Spielscharen, so erfreulich und notwendig sie sind, würden genügen, wenn wir bloß Gruppen von Heimattreuen wären. Aber wir sind etwas ganz anderes. Wir sind Vertriebene. Wir haben nicht nur Erinnerungen, sondern Aufgaben.

 

„Das ganze Deutschland“ ist die Aufgabe, die seit 1945 alle Deutschen ergriffen haben sollte. Ein Auftrag, der über Partei- und Tagespolitik steht, der aber in jeder Partei- und Tagespolitik spürbar sein sollte. „Das ganze Deutschland“ ist die Aufgabe der gesamten deutschen Jugend.

 

Es ist notwendig, unserer Jugend ein Erbe weiterzugeben an politischer Zielstrebigkeit ohne einen überspitzten Nationalismus, ein starkes Gefühl für Freiheit und die Erkenntnis, das Einheit stark macht.

 

Um der Jugend im Besonderen willen bedarf es der Sauberkeit und Anständigkeit im täglichen Leben und in der politischen Auseinandersetzung. Diffamierung gefährdet die Freiheit. Es ist unsere Aufgabe, zu leben und zu erziehen in der Achtung vor den schlichten Begriffen: Ehre, Treue, Tapferkeit, Opfermut, Gottvertrauen und Vaterland. In diesem Geiste wird die deutsche Jugend feste Bausteine legen können zu den Fundamenten eines freien Europa in einer freien Welt. Günther Groebe.

 

 

Seite 5   Heimatabend ostpreußischer Art

Frohsinn und Geselligkeit war die Devise, unter der die letzte Monatsversammlung der großen Ostpreußenfamilie in Flensburg stand. Der erste Vorsitzende, Schulrat a. D. Babbel, betonte in seinen Begrüßungsworten zunächst die alles verbindende Kraft des Heimatgedankens. Dann sprach er die offizielle Übertragung der Ehrenmitgliedschaft an den Mitbegründer der 1945 gegründeten Gruppe der Königsberger in Flensburg, den 80-jährigen Hermann Beutler, aus. Weiter führte der Vorsitzende zur Einleitung der frohen Veranstaltung aus, dass diese ein Heimatabend rechter ostpreußischer Art sein wolle. Erneut stelle die „große Familie“ der Ostpreußen durch solche Veranstaltungen unter Beweis, dass sie sich heimatlich fühle, ohne selbst im Besitz dieser Heimat zu sein. Getrost könne man dieses als „Wunder der deutschen Seele“ bezeichnen.

 

Die erwartungsvoll gestimmten Landsleute wurden dann durch den zweiten Vorsitzenden Martin Hiller in humorvoller Weise durch ein reichhaltiges buntes Programm bugsiert. Herr Lizurek mit seinem Harmonika-Orchester verstand es, durch Vortrag munterer Weisen die Zuhörer zu erfreuen. Während der Pausen war die Hauskapelle unermüdlich tätig. Das Doppelquartett des Ostpreußen/Pommern-Chors unter Leitung des Herrn Riedel erntete reichen Beifall für seine Darbietungen. Ebenfalls verstand es ein Solo-Sänger, sich die Herzen der Anwesenden zu erobern. Wahre Stürme des Beifalls und Lachsalven erntete die Kanone des Ostpreußen-Humors, Adalbert Burdinski, bei seinem nach langer Zeit erfolgten Wiederauftritt im Kreise seiner Landsleute.

 

 

 

Seite 5   Wiedersehenstreffen der Turnerfamilie

Foto: Kranzniederlegung in Hameln am 20.08.1954 am Grabe von Albert Jagusch, gestorben 05.04.1954, durch die Turnerfamilie Ostpreußen-Danzig-Westpreußen

Hameln! Das 8. Wiedersehenstreffen der Turnerfamilie Ostpreußen—Danzig—Westpreußen in der Rattenfängerstadt an der Weser vom 19. bis 23.08.1954, eingefügt in das 4. Alterstreffen des Deutschen Turnerbundes, hat alle Erwartungen weit übertroffen. Besonders beglückend war das erstmalige Wiedersehen mit einer großen Schar alter, lieber, jetzt in der russischen Zone wohnender Turnschwestern und Turnbrüder. Nach dem Begrüßungsabend am Donnerstag dem 19. August, trafen wir uns am folgenden Tage am Grabe des im April 1954 unvermittelt aus rüstigem Schaffen abberufenen Turnbruders Albert Jagusch. In Gegenwart seiner Witwe gedachte Tbr. Fritz Babbel der Einsatzfreudigkeit und Treue des Entschlafenen und legte zum ehrenden Gedächtnis einen Kranz an seinem Grabe nieder.

 

Eine Stadtführung schloss sich an. Die Abendstunden riefen dann zur Eröffnungsfeier des Bundesalterstreffens auf dem Pferdemarkt. Unsere Antwort auf den Aufruf und die Begrüßung durch den Bundesaltersturnwart Johannes Krause lautete:

 

„Ostpreußen - Danzig - Westpreußen.

Das Heimatland, das uns geboren, wir geben es niemals verloren!

All' unser Beten, Denken, heiß' Bemühen

Gilt nur dem Tag, in Frieden und in Freiheit heimzuziehen.

Die Alten, wir Verbannten, mögen sterben.

Die Kinder und die Enkel sind rechtmäßige Erben!

Symbolisch grüßt die Hansestadt, das Ordensland durch unsern Mund

die Feststadt Hameln und den Deutschen Turnerbund!“

 

Ähnlich antworteten alle Landesturnverbände teils in ernster, teils in launiger Weise. Die Begrüßungsworte des Oberbürgermeisters von Hameln und die Festrede von Johannes Krause waren festlich umrahmt von Musik und Chorgesängen. Den wuchtigen Abschluss der Feier bildete der gemeinsame Gesang des Deutschlandliedes.

 

Am Sonnabend setzte Regenwetter ein. Aber die frohe Feststimmung blieb. Ein Sonderdampfer brachte uns auf der Weser stromauf bis Emmerthal und zurück zum Ohrberg, den wir auf glitschigen Pfaden erklommen. Nach geruhsamerem Abstieg brachte uns der Dampfer so rechtzeitig nach Hameln, dass wir noch die Rattenfängerspiele vor dem Hochzeitshause genießen konnten.

 

Höhepunkt für unsere Gemeinschaft war die Heimatliche Feierstunde am Sonnabendnachmittag. Das Vogel-Quartett von Haydn, gespielt vom Blum-Quartett, heimatliche Volkslieder, gesungen vom Heinr.-Albert-Singkreis unter dem Dirigenten Wilhelm Homeyer, und Heimatgedichte aus Ostpreußen, Danzig und Westpreußen, führten nach Begrüßung und Totenehrung zu der Festrede von Turnbruder Fritz Babbel, der u. a. ausführte:

 

„Man spricht heute viel von einem deutschen Wunder und meint damit den wirtschaftlichen Aufstieg. Wenn die Turnerfamilie die schwere Aufgabe gelöst hat, ohne Heimat heimatlich zu werden, so muss man diese Tatsache als ein Wunder der deutschen Seele bezeichnen. Unsere Turnerfamihe ist nicht als Erinnerungs- oder Traditionsverein zu betrachten, sondern als mahnende Vereinigung, die bestehen bleibt, bis das Weltgewissen erwacht und uns die geraubte Heimat wiedergibt“.

 

Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“, gemeinsam gesungen, beschloss diese ernste und tief ergreifende Feierstunde.

 

Am Abend gab es in der Weserberglandhalle die Jahnkantate von Hermann Erdlen und August Hinrichs und „Die silberne Flöte von Hameln“, ein Tanzspiel von Hermann Grauerholz, Musik Wilhelm Homeyer, ein für alle Teilnehmer herrliches Erlebnis.

 

Der gute Besuch der Festgottesdienste beider Konfessionen am frühen Morgen des Sonntages zeigte, dass die alten Turner mit Leib und Seele in ihrem Turnertum aufgehen und nicht nur dem Siegeskranz oder dem Vergnügen nachjagen, sondern von jedem Fest auch für ihr Innenleben gestärkt mit reicher Ernte heimkehren wollen. Die Festpredigt in der evgl. Kirche hielt Pfarrer Dr. Edmung Neuendorff, der bekannte und bedeutende Turner- und Jugendführer aus den letzten Jahren der Deutschen Turnerschaft. Und ein zweiter Turnerpfarrer, der Bremer Domprediger Gerner-Bäuerle, schenkte dann am Vormittag bei der Max-Schwarze-Gedenkfeier und Totenehrung auf dem Waldfriedhof „Am Wehl“ den vielen Tausend Zuhörern mit seiner Gedenkrede förmlich eine Offenbarung des Begriffs Turnertum im deutschen Volkstum, wie es Max Schwarze deutete und vorlebte. Still und entblößten Hauptes, unter den Klängen des Liedes vom toten Kameraden schauten wir zum Abschluss auf die beiden Kranzträger, die symbolisch in Ost und West zum Gedächtnis unserer toten Schwestern und Brüder je einen Kranz niederlegten.

 

Um 14 Uhr traten wir trotz Regen zum Festzuge an, in dem wir wiederum als geschlossener Block marschierten. Gewiss litt der anschließende Festnachmittag unter dem Wetter. Aber mit nur wenigen Kürzungen wurde doch das ganze Schauturnen und die Siegerehrung durchgeführt.

 

Dann zog unsere Turnerfamilie Ostpreußen— Danzig—Westpreußen zu fröhlichem Ausklang in das Standquartier. Eine Barrenriege mit Kubawitz (Tgm. Danzig), Bischof, Plotz, Doerfer, Otto Schulz, Straube (KMTV Kbg.) „Domke, Busch (Hameln) zeigte hervorragende Leistungen. Turnbruder Babbel ehrte anschließend die anwesenden Wettkampfsieger des Bundesalterstreffens mit herzlichen Worten. Unsere leider unvollständige Siegerliste verzeichnet Charlotte Mildt (KTC Kbg.). Anni Passarge (KTC u. Rastenburg), Margarete Zegke (ETG Elbg), Heinz Bahr, Horst Kubawitz, Franz Samlian (Tgm. Danzig). Axel Frowerk (TuF Danzig), Max Kneller (Danzig-Neufw.), Kurt Dahl, Otto Schulz (KMTV Kbg.), Johann Hippler (KMTV und Ponarth), Helmut Rott (Konitz).

 

Im weiteren Verlauf des Abends besuchten uns 3 Turnerinnen und 4 Turner der Deutschlandriege und setzten uns durch Bodenturnen und am Barren eine halbe Stunde lang, besondere turnerische Leckerbissen vor.

 

Ansprachen des Vorsitzenden der Landsmannschaft Ost- und Westpreußen, Ortsgruppe Hameln, eines Vertreters des Rates der Stadt Hameln und einer Turnerin aus der russischen Zone

bekundeten das unverbrüchliche, treue Zusammenstehen von Ost und West in Freund und Leid. Für herzliches Lachen sorgte in ostpreußischer Mundart der Königsberger Landsmann Siebert. Eine Gruppe Buben und Mädel der Deutschen Jugend des Ostens erfreute durch eine Reihe von Tanzreigen. Eine rührige Tanzkapelle sorgte für betriebsame Ausfüllung der übrigen Zeit.

 

Der Montag bescherte uns feuchte Turnfahrten. Aber Gesang und Scherz kamen nicht zum Schweigen. Man spürte, dass jeder von den Erlebnissen der Festtage förmlich freudetrunken war... So reich beschenkt, Rucksack und alle Taschen voller Freude, sind wir dann auch aus Hameln geschieden.

 

Das nächste Wiedersehenstreffen soll erst 1956 sein! Es ist als reichlich Zeit, dafür zu sparen. Das Losungswort für 1954 hat sich bewährt und möge weiter mahnen:

 

„Nutze die Zeit!“ Onkel Wilhelm.

 

 

Seite 5   Herzliche Glückwünsche zum Geburtstage allen Oktober-Geborenen, besonders denen, die wieder ein volles Jahrzehnt beenden:

 

Lore Blunck-Becker (Dzg-Heubude) am 09.10.1954, 40 Jahre;

 

Edith Ziegler (Fr.T.V. Kbg) am 01.10.1954, 50 Jahre;

 

Johannes Beutner (KMTV KBG) am 11.10.1954 und Rudolf Papendick (Tilsit) am 13.10.1954, 60 Jahre;

 

Walter Harke (Lyck) am 03.10.1954, 70 Jahre

 

Ihnen und ebenso Turnbruder Werner Schikorski und Frau zur Silberhochzeit am 5. Oktober 1954 ein herzliches dreifaches Gut Heil!

 

Ebenso herzlich gelten unsere Glückwünsche dem jungvermählten Paar Ernst Kaltwang (KMTV und Insterburg) und Frau Traute, geb. Plath, die am 05.09.1954 Hochzeit hielten.

 

Viele Turnschwestern und Turnbrüder haben in diesem Jahr ihre Wohnung gewechselt. Da ein Nachtrag zu dem im Frühjahr erschienenen Anschriftenverzeichnis in Arbeit ist, bitte ich um Mitteilung aller Veränderungen an meine Anschrift in Oldenburg (Oldb), Gotenstraße 33. Wilhelm Alm.

 

 

Seite 5   MTV Lyck gratuliert

„Turnen erhält jung, und wenn sich noch dazu goldener Humor und froher Gesang gesellen, dann merkt man Dir, lieber Turnbruder Walter Harke, Deine 70 Jahre nicht an. Du hast unserem MTV Lyck immer die Treue gehalten. Oft wurde von Dir gerne durch Heiterkeit die Geselligkeit gewürzt. Auch in Hameln (19. - 23.08.) war es wieder froh in unserer Runde. Frisch, fromm, fröhlich, frei und ein herzliches Gut Heil, lieber Walter, zu Deinem 70. Geburtstag (03.10.1954) die besten Wünsche Dir und Deiner lieben Gattin für die nächsten Jahre. Der MTV Lyck (Helmut Gronen)“.

 

 

Seite 6   Professor Kurt Frick – 70 Jahre alt. Mit Foto.

Am 16. November 1954 vollendet der bekannte deutsche Architekt und Städtebauer, der Ostpreuße Kurt Frick, in seiner neuen Heimat, dem schönen Oberbayern, sein 70. Lebensjahr. Wir gratulieren hierzu herzlich und aufrichtig.

 

Im Januar 1945 musste Kurt Frick seine Heimatstadt Königsberg verlassen und fand in Bad Reichenhall eine neue Heimat. Dort ist er wiederum mit seinem Sohn Eckhart Frick als freier Architekt tätig.

 

Professor Frick gehörte in der Zeit vom 1. Weltkrieg bis zum 2. Weltkrieg zu den erfolgreichsten deutschen Architekten auf allen Gebieten des städtebaulichen und baukünstlerischen Schaffens. Dieses gilt besonders für seine engere Heimat Ostpreußen, die er im Auftrage des Staates in einem ihrer kriegszerstörtesten Gebiete neu plante und gestaltete. Leider sind die von ihm damals geschaffenen Städte Stallupönen, Schirwindt, Eydtkuhnen und viele Dörfer wiederum Opfer des letzten Krieges geworden.

 

Kurt Frick begann seine Laufbahn beim Bau der ersten deutschen Gartenstadt Hellerau bei Dresden. Es folgten die Großsiedlungen Rüstringen-Wilhelmshaven, Dresden-Seidnitz, Gröba-Riesa, Rothenstein bei Königsberg, die Fischersiedlung Neukuhren-Wangenkrug und andere. Er baute öffentliche Gebäude verschiedener Art für den Staat und für Gemeinden, Kirchen, Schulen, Rathäuser und Banken. Auch auf dem Gebiet des genossenschaftlichen Wohnungsbaues und des Eigenheimbaues ergaben sich für ihn große und dankbare Aufgaben.

 

1934 wurde Kurt Frick mit der Leitung der staatlichen Kunstakademie in Königsberg betraut, wo er bis zum Zusammenbruch zahlreiche junge Architekten schulte und an seinen eigenen baukünstlerischen Arbeiten lehrmäßig praktischen Anteil nehmen ließ.

 

Kurt Frick stand mit seinem Schaffen stets kompromisslos in der Gegenwart, ohne jedoch Forderungen bodenständiger Bindungen im Rahmen eines zeitnahen deutschen Bauens zu übersehen. Er versuchte nicht, durch überbetonte Modernität einem vergänglichen modischen Zeitgeschmack zu dienen, sondern baute und gestaltete im vollen Erkennen aller Zeitforderungen, nicht nur auf dem Gebiet der Technik, sondern auch der gesteigerten menschlichen und lebenswichtigen Bedürfnisse. Er folgte damit den Vorbildern der großen deutschen Baumeister der Vergangenheit für einen stetigen und zeitnahen Fortschritt der deutschen Baukunst. Dr. J. Kl.

 

 

Seite 6   Hermann Hesse als Dichter des Heimwehs. Von Carla v. Bassewitz.

Die Zeit heilt vieles — auch in unserem Jahrhundert der Massenvertreibungen und Massenvernichtungen. Häuser — menschliche Existenzen — Familien erstehen wieder. Und doch ist da manches, was in den letzten Jahren nicht geheilt werden konnte — und dazu gehört das Heimweh des landverwachsenen Menschen nach der eigenen Erde. In guten und glücklichen Jahren kam es vereinzelt auch wohl vor. Dann haben Dichter, denen die Gnade geschenkt wurde, es für uns alle in Worte zu fassen, dies niedergelegt in Versen, die wie heute für uns geschrieben scheinen.

 

So kam vor dem Weltkrieg 1914 ein kleiner Gedichtband heraus, in einfaches altrosa Leinen gebunden, mit dem ebenso einfachen Titel „Neue Gedichte“ von Hermann Hesse.

 

Seine tiefe Besinnlichkeit, seine feine, schlichte, und gerade deshalb eindrucksvolle Sprache sind höchstens mit jener der beiden großen Schweizer Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer in einem Atem zu nennen, aber durchaus nicht zu vergleichen — denn sie sind einmalig und ganz der Dichter selbst.

 

Nicht sein Leben wollen wir heute betrachten, nicht seine weithin bekannte Prosa, nicht seine Philosophie oder sein berühmtes „Glasperlenspiel“. Nein, wir wollen ihm da nachgehen, wo er die Sehnsucht nach der Heimat so empfunden hat wie wir.

 

Und siehe, wir finden bei ihm alles was uns bewegt!

Hören wir:

 

Es ist immer derselbe Traum!

Ein rotblühender Kastanienbaum —

Ein Garten voll von Sommerflor —

Einsam ein weißes Haus davor.

 

Dort, wo der stille Garten liegt.

Hat meine Mutter mich gewiegt —

Vielleicht es ist so lange her! —

Steh'n Garten, Haus und Baum nicht mehr -.

 

Vielleicht geht jetzt ein Wiesenweg

Und Pflug und Egge drüber weg —

--- Von Heimat, Garten, Haus und Baum

Ist nichts geblieben — als mein Traum...

 

Oder:

 

Ein Hof liegt in der stillen Nacht —

Ein Bauernhof, drin keiner wacht,

Und keiner wache Nächte kennt.

 

Der Heimatzauber kommt von dir —

Und weht in die Gedanken mir

Den Frieden, den kein Name nennt ...  

 

Wird nicht in uns allen etwas wach, das zeitweise im Drang der Arbeit oder in der Fülle neuer Eindrücke unter die Schwelle des Bewusstseins sank — wenn wir diese Worte lesen? Steigen nicht Heimat und Kindheit, geborgen = vertraut = und geliebt sein in uns auf — mit aller Sehnsucht, die ein Menschenherz danach empfinden kann? Nicht nur in die Bitternis der Verbannung begleitet sie uns — sondern auch in glücklichere Lebensverhältnisse, wie die eines angesehenen und viel gelesenen Dichters.

 

Sie ist wohl ein Teil des menschlichen Wesens ...

 

Wer dies nicht erlebt hat, kann es nicht verstehen, auch vielfach nicht unsre neugewonnenen Freunde:

 

Er wird Dir sonderbar erscheinen,

Dass ich zuweilen wie ein Knabe

Nicht schlafen kann vor lauter Weinen,

Und bitterlich das Heimweh habe ---

 

Und dass ich tagelang in Träumen

Hinschlendere --- in geheimem Leid

An fremden, stillen Gartenzäunen

Gedenkend meiner Kinderzeit ...

 

Ich soll erzählen?

Die Nacht ist schon spät!

Willst Du mich quälen,

Schöne Elisabeth?

 

Du musst nicht stören!

Die Reime verwehn ...

Bald wirst Du sie hören —

Hören — und nicht verstehn!

 

Auch das, was wir von besitzlich gebliebenen früheren Bekannten jetzt oft so bitter erfahren, hat der Dichter gekannt: Dass sie uns nämlich eine ganz feine Schattierung anders behandelten, als wir noch Haus und Hof, Stellung und ein Einfluss besaßen — ihnen selbst vielleicht unbewusst, uns aber umso schmerzlicher fühlbar:

 

Seltsam, im Nebel zu wandern!

Einsam ist jeder Busch und Stein —

Kein Baum sieht den andern,

Jeder ist allein.

 

Voll von Freunden war mir die Welt,

Als mein Leben noch licht war ---

Nun, wo der Nebel fällt,

Ist keiner mehr sichtbar...

 

Wahrlich, keiner ist weise,

Der nicht das Dunkel kennt,

Das unentrinnbar und leise

Von allen ihn trennt.

 

Seltsam, im Nebel zu wandern!

Leben heißt einsam sein ...

Kein Mensch kennt den andern —

Jeder ist allein.

 

Und doch sind wir nicht ganz allein, so lange es Dichter gibt, die mit uns empfinden, und an deren wohllautendem Wort und Vers wir uns nach der Mühsal des Alltags erfreuen dürfen!

 

Vielleicht hat dieser oder jener unter meinen Lesern noch einige seiner treuen Freunde, die Bücher, aus dem Zusammenbruch gerettet. Vielleicht ist auch Hermann Hesse in dieser Ausgabe darunter, und er kann nachlesen, was die Schreiberin dieser Zeilen ganz aus dem Gedächtnis hierher setzen musste. Denn ihr eigener kleiner altrosa Leinenband ist 1945 unter vielen anderen geliebten Bänden in einem alten Mahagonischrank mit Spiegelscheiben mit ihrem Hause bei Königsberg verbrannt ...

 

Wenn wir nun Auge und Ohr offen halten für das Schöne, das uns immer und überall begegnen kann, sei es in den Worten der Dichter, oder in einer anderen Form von Kunst — — dann trägt sich vieles leichter. So wollen wir zum Schluss ein anderes Gedicht aus derselben Sammlung von Hesse in uns ausklingen lassen:

 

„An die Schönheit“.

Gib uns Deine milde Hand!

Von der Mutter Hand gerissen,

Irren wir in Finsternissen —

Kinder — durch ein fremdes Land.

 

Manchmal — wenn es dunkel war —

Schenkte eine Heimatweise

Deiner Stimme wunderbar

Licht und Trost der bangen Reise.

 

Wanderer ohne Ziel und Pfad —

Irren wir in dunklen Weiten –

Wolle Du uns gnädig leiten,

Bis der große Morgen naht!

 

 

Seite 6   Bild: Rittergut Lindicken im Kreise Pillkallen

 

 

Seite 6   Carl-Bertelsmann-Stiftung vergab erstmals 48 000 DM.

Aus den Mitteln der Carl Bertelsmann-Stiftung wurden nach eingehender Prüfung der rund 400 Bewerbungen an 11 junge deutsche Autoren Stipendien in Höhe des vorgesehenen Gesamtbetrages von 48 000 DM vergeben. Die ausgewählten jungen Autoren sollen durch diese Maßnahme für ein Jahr frei von wirtschaftlichen Sorgen Ihrer schriftstellerischen Arbeit nachgehen können.

 

Der Jury der Carl Bertelsmann-Stiftung gehörten an der Schriftsteller Dr. Gerd Gaiser, Reutlingen, Verleger Sigbert Mohn, Gütersloh, der Hauptschriftleiter der literarischen Zeitschrift „Welt und Wort“, Karl Ude, München, und Dr. Wilhelm Westecker, Stuttgart, von „Christ und Welt".

 

Die Stipendien wurden an folgende jungen Schriftsteller vergeben: Heinz Albers, Wolfgang Altendorf, Siegfried Einstein, Wilhelm Graßhoff, Anja Hegemann, Rolf Krappen, Heinz Piontek, Joachim Wolf gang Reifenrath, Heinrich Schirmbeck, Leopold Sievers und Gert Woerner.

 

Das Durchschnittsalter der Stipendiaten beträgt 32 Jahre, der älteste ist 42, der jüngste 22 Jahre alt. — Das erfreuliche Ergebnis der ersten Ausschreibung hat den Bertelsmann-Verlag dazu ermutigt, die Stiftung auch in Zukunft weiterzuführen, so dass auch im nächsten Jahr 10 förderungswürdige junge Autoren, deren Schaffen dem Roman, der Novelle oder Erzählung gilt, monatlich bis zu 400 DM auf die Dauer eines Jahres zugesprochen erhalten können. Merkblätter mit näheren Bedingungen für die Bewerbung sind beim Verlag C. Bertelsmann in Gütersloh erhältlich.

 

 

Seite 6   Goldenes Doktorjubiläum von Prof. Andrée. Mit Foto.

Professor Dr. phil. Karl Andrée beging am 22. September 1954 in Göttingen, wo er im Ruhestand lebt, nachdem er von 1946 bis 1951 an der Georgia Augusta noch Sonderlehraufträge hatte, sein goldenes Doktorjubiläum. Der Gelehrte ist am 10.03.1880 in Bad Münder geboren und besuchte von 1887 bis 1898 das Lyzeum I (jetzt Ratsgymnasium) in Hannover. Am 22.09.1904 wurde er mit einer durch Adolf von Koenen angeregten Dissertation „Der Teutoburger Wald bei Iburg“ von der damals noch ungeteilten Philosophischen Fakultät in Göttingen zum Dr. phil. promoviert. Nach Assistentenjahren an der Bergakademie in Clausthal und der Technischen Hochschule in Karlsruhe war er von 1910 bis 1915 Privatdozent für Geologie und Paläontologie an der Universität Marburg. Als Direktor der berühmten Bernsteinsammlung der Albertus-Universität zu Königsberg und Leiter des Geologisch-Paläontologischen Institutes der Albertina, von 1915 bis 1920 zunächst als außerordentlicher, dann bis 1945 als ordentlicher Professor, erwarb er sich über die Grenzen Deutschlands hinaus als Geologe und Kenner des Bernsteins einen besonderen Namen. Insbesondere wurde er durch mehrere Veröffentlichungen über den Bernstein sehr bekannt. Zur 50. Wiederkehr des Promotionsdatums erneuerte die Mathematisch - Naturwissenschaftliche Fakultät der Georg-August-Universität „dem vielseitigen Forscher und akademischen Lehrer, der mit Hingebung und Verantwortungsbewusstsein der geologischen Wissenschaft und der Universität Königsberg gedient, hat“, das Diplom.

 

 

Seite 6   Jahrbuch 1955 der Albertus-Universität.

Soeben erschienen im Holzner - Verlag, Kitzingen in der Reihe der Veröffentlichungen des „Göttinger Arbeitskreises“ der fünfte Band (1955) des „Jahrbuches der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr.“, dessen Redaktion wiederum in den Händen von Prof. Dr. G. v. Selle lag. Wie die ersten vier Jahresbände ist auch dieses umfangreiche Buch ein Zeugnis von der geistigen Gemeinschaft aller derer, die einst an der Albertina lehrten oder lernten, und zugleich ein Beweis dafür, dass diese zu den ältesten deutschen Hochschulen zählende berühmte Universität sich nach wie vor am internationalen Geistesgespräch der Gegenwart beteiligt. Der neue Jahresabend enthält wiederum zahlreiche Beiträge über allgemeine ostdeutsche Themen: dem Gedächtnis des berühmten Königsberger Philosophen Immanuel Kant, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum 150. Male jährte, sind folgende Artikel gewidmet: Prof. Dr. Rust, „Kant und Schleierniacher zum Gedächtnis“, Dr. v. Lorck, „Immanuel Kant und die Bildkunst seiner Epoche“, Dr. Barion, „Kants Philosophie im Lichte seiner Persönlichkeit“, Dr. Konrad, „Inwieweit hat Kants Personenbegriff Bedeutung und Gültigkeit für unsere Zeit?“, Prof. Dr. König, „Arzt und Ärztliches bei Kant“ und S. L. Chong, „Was kennen die Chinesen von Kant?“ — Von der letzten Kranzniederlegung am Grabe Kants berichtet Prof Dr. Schumacher „Der 12. Februar 1945“. Aus der Zeitgeschichte sind die Beiträge von Prof. Dr. G. v. Selle, „Adam von Trott zu Solz“ und Prof. Dr. E. Menzel, „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und das Annexionsrecht“ entnommen, ferner geben Dr. Kosack eine Zusammenfassung „Das nördliche Ost-Ostpreußen nach einer neuen sowjetischen Karte“ sowie Herbert Marzian die Fortsetzung der Übersicht „Zeittafel und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie Februar 1953 bis April 1954“. Mit der ostpreußischen Geschichte und Kunst beschäftigen sich die Arbeiten von Prof. Dr. Hubatsch, „Gustav Adolfs Feldkanzlei in Preußen 1626 - 1627, Prof. Dr. Müller-Blattau, „Ost- und westpreußische

Musik und Musikpflege im 19. Jahrhundert“, Dr. Mengel, „Politisch-dynastische Beziehungen zwischen Albrecht von Preußen und Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg in den Jahren 1546 – 1555“ und Dr. Thielen, „Ein Katalog der Kammerbibliothek Herzog Albrechts von Preußen aus dem Jahre 1576 (Teil II)“. Die Reihe der gediegenen Beiträge wird vom Tätigkeitsbericht des Göttinger Arbeitskreises 1953/1954 beschlossen, den J. Frhr. v. Braun erstattet. Von besonderer Bedeutung für die wissenschaftliche Arbeit über den deutschen Osten, die Heimatgebiete der Vertriebenen und über das Vertriebenenproblem überhaupt ist die „Ostdeutsche Bibliographie“ von Herbert Marzian, die hier für das Jahr 1953 fortgeführt wird.

 

 

Seite 6   Kaliningrader Klops.

Der Reisende, der den Weg nach Ahlbeck findet, findet dort auf der Speisekarte des volkseigenen Hotels ein Gericht vermerkt, das den zuerst unverständlichen Namen „Kaliningrader Klops“ trägt. Auf Befragen stellt sich heraus, dass es sich um den berühmten Königsberger Klops handelt. Da die Sowjets Königsberg in Kaliningrad umtauften, benannte man in Ahlbeck den Klops ebenfalls um. Ahlbeck liegt in der deutschen Sowjetzone.

 

 

Seite 7   Vorschüsse auf kommende Regelung. Gesetzantrag über Erhöhung der Unterhaltshilfe eingebracht.

Der Bundestagsausschuss für den Lastenausgleich hat auf Grund eines einstimmigen Beschlusses dem Präsidium des Bundestages einen Gesetzesantrag über die vorläufige Regelung der Unterhaltshilfeerhöhung zugeleitet. Der Lastenausgleichsausschuss hat damit dem Willen aller Fraktionen des Bundestages entsprochen, mit der Erhöhung der Rentensätze nicht bis zur Durcharbeitung und Vorlage des gesamten Novellenkomplexes zu warten, sondern diese vorweg und beschleunigt zu behandeln.

 

Der jetzt dem Bundestagspräsidium vorliegende Antrag soll Mitte Oktober vom Bundestag behandelt und verabschiedet werden, so dass es möglich wäre, die Auszahlung der Zuschläge noch vor Weihnachten vorzunehmen. Es wird jedoch viel davon abhängen, ob auch der Bundesrat zeitlich in der Lage ist, die ihm nach der Verabschiedung durch den Bundestag zugehende Vorlage sofort zu behandeln und zu billigen. Eine Auszahlung vor Weihnachten wäre jedenfalls nur dann möglich, wenn es gelänge, das Gesetz bereits Anfang November in Kraft zu setzen und die Anweisungen bis 20. November hinausgehen zu lassen.

 

Auf Grund des vorliegenden Antrages sollen Empfänger von Unterhaltshilfen und Beihilfen nach dem Lastenausgleichsgesetz für die Zeit vom 1. Juli 1954, frühestens jedoch vom Zeitpunkt der Einweisung an, bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Regelung für die Erhöhung der Sätze der Unterhaltshilfe zunächst monatliche Vorauszahlungen in Höhe von 15 DM für den Berechtigten, 12,50 DM für den Ehepartner und 7,50 DM für jedes Kind erhalten. Rückwirkend vom 1. Juli dieses Jahres an sollen demnach — vorläufig als Vorschüsse — die Unterhaltshilfesätze von 85 DM auf 100 DM

bzw. von 37,50 DM auf 50 DM für den Ehepartner und von 27,50 DM auf 35 DM für jedes Kind erhöht werden. Die endgültige Regelung, die eine Erhöhung in gleichem Umfang verankern wird, soll — doch dies ist nur von technischer Bedeutung — erst im Rahmen der Gesamtnovelle festgelegt werden.

 

Die Vorlage des Novellierungsantrages zum Lastenausgleichsgesetz, an dem der Bundestagsausschuss für den Lastenausgleich seit Beendigung der Parlamentsferien arbeitet, dürfte nach den letzten Informationen doch kaum vor Januar nächsten Jahres zu erwarten sein, so dass die Vorwegregelung der Unterhaltshilfeerhöhung schon aus diesem Grund dringlich erforderlich erschien. Zwischen der zweiten und dritten Lesung im Plenum des Bundestages dürfte wahrscheinlich eine gewisse Spanne für Neubearbeitungen notwendig sein. Außerdem wird der Bundesrat —und das kann schon heute mit gewisser Sicherheit prophezeit werden — die ganze Vorlage wegen der dort enthaltenen Neuregelung der Länderzuschüsse an den Vermittlungsausschuss verweisen. So werden wohl auch dann noch einige Wochen vergehen, bevor die Novelle in ihrem endgültigen Wortlaut im Bundesanzeiger erscheinen und damit Gesetzeskraft erhalten wird.

 

 

Seite 7   Wollen Heimatvertriebene nicht zurück?

Die Anzeichen, dass sich die Heimatvertriebenen in den neuen Wohnorten, die ihnen meist der Zufall beschert hat, wohl zu fühlen beginnen, mehren sich. Das kleine Mädchen, das in einer bayrischen Schule in einem Aufsatz schrieb: „Wenn wir wieder in die Heimat zurück könnten, würde ich ungern von hier fortgehen“, ist kein Ausnahmefall. Die Flüchtlingsjugend, die in holsteinischen oder hessischen Bauerndörfern aufwächst, spricht das holsteinische Platt oder die hessische Mundart oft genau so rein wie die ortseingeborenen Altersgenossen. Ja, Umfragen in einzelnen Schulen haben ergeben, dass die Kinder mancher unteren Klassen nicht mehr zu sagen wissen, ob ihre Kameraden Einheimische oder Heimatvertriebene sind. Der Unterschied ist bei ihnen verlorengegangen.

 

Und doch wäre es falsch, solche Beobachtungen zu verallgemeinern und daraus zu schließen, die sozialen Spannungen zwischen Flüchtlingen und Einheimischen verschwänden allmählich und das Vertriebenenproblem könne schon von unserer Generation gelöst werden. Es täuscht z. B., wenn man in der Lehrlingsrolle einer Handwerkskammer unter 11 048 dort verzeichneten Lehrverhältnissen ein gutes Drittel Heimatvertriebene findet, während der Anteil Heimatvertriebener in der Bevölkerung dieses Bezirks weit geringer ist und nur etwas mehr als ein Viertel beträgt. Das heißt zwar, dass sich der heimatvertriebene Schulentlassene wenigstens die gleiche Chance wie der einheimische Jugendliche sichern konnte, durch eine Handwerkslehre in die gehobene Arbeiterschicht aufzusteigen und vielleicht sogar einmal selbständiger Meister zu werden.

 

Gliedert man aber die heimatvertriebenen Lehrlinge auf die verschiedenen Lehrberufe auf, so ergibt sich, dass fast alle in den minderbegehrten Berufen untergekommen sind, die begehrten dagegen von den einheimischen Wettbewerbern eingenommen werden. Warum das so ist, liegt auf der Hand. Auf der Jagd nach der Lehrstelle ist der Bodenständige kraft seiner „Beziehungen“ stets im Vorteil. Die Besetzung der Lehrstellen wird ja in der Hauptsache durch die Beteiligten selbst ausgemacht, nur der kärgliche Rest von den Arbeitsämtern vermittelt.

 

Unter den Herrenschneiderlehrlingen finden sich daher auffallend viele Heimatvertriebene, in dem begehrten Beruf der Damenschneiderei sind sie dagegen stark unterdurchschnittlich vertreten. Bei Schlossern und besonders bei Schmieden überwiegt der Anteil der Flüchtlingslehrlinge, beim Elektro-, Feinmechaniker- und Uhrmacherberuf tritt er auffällig zurück. Der Bäckerberuf ist einer der Berufe mit stärkster Vertriebenenziffer, der Konditorberuf dagegen zeigt sie nur schwach vertreten.

 

Als man in sechs niedersächsischen Landkreisen alle zehnjährigen Kinder nach den Berufen ihrer Väter vor und nach dem Kriege fragte, ergab sich, dass von den einheimischen Vätern, die 1939 hauptberuflich in der Landwirtschaft arbeiteten, nach dem Kriege drei Viertel (74,3 Prozent) dort tätig geblieben waren, von den Vätern ostvertriebener Kinder aber nur 22 Prozent. Von ihnen war zudem die reichliche Hälfte (11,6 Prozent) sozial abgesunken. Das Knechtslos auf fremdem Hof also vermieden die meisten und wechselten in nichtlandwirtschaftliche Berufe über, die ihre soziale Lebenswunde weniger drastisch täglich aufs Neue aufriss.

 

„Hier ist sündhaft viel versäumt worden“, sagt der Leiter des Instituts für empirische Soziologie Hannover-Bamberg, Prof. K. V. Müller, in einer umfassenden und kenntnisreichen soziologischen Studie „Heimatvertriebene Jugend“, der diese Angaben entstammen (Holzner-Verlag, Kitzingen).

 

„Die ganze abendländische Welt krankt an einer unheimlichen Schrumpfung bäuerlichen Menschenschlages. Australien blieb Wüste, weil sich keine. Bauernsiedler aus dem verstädterten England fanden. Selbst in Deutschland war die Desertion von der Scholle zum argrarsozialen Problem erster Ordnung geworden. Bäuerliches schollenfreudiges Menschentum ist Mangelware geworden.

 

Hier haben wir nun 300 000 ostdeutsche Bauernfamilien, die meisten willens und imstande sind, auch noch ihren Nachwuchs schollentreu zu erziehen. Und dieses Menschentum wird von uns sozusagen mit Gewalt in die untersten Sozialbottiche der Industriearbeit eingestampft, weil sich kein Wille und daher kein Weg findet, um die eingesessenen Bauern zu veranlassen, das Notwendige zur Erhaltung dieses kostbaren Menschenschlages zu tun“.

 

Noch auf eine zweite heimatvertriebene Gruppe, die ihre soziale Stellung unter keinen Umständen ihren Kindern erhalten kann, verweist Prof. Müller, den Unternehmernachwuchs. Hier, sagt er, fehlten ja „die sozialen Brücken des väterlichen Besitzes völlig“ und seien auch durch Kredite kaum zu ersetzen. Andererseits verzichteten natürlich geborene Unternehmer aus den so enterbten Kreisen nicht ohne weiteres auf die Durchsetzung der Lebensaufgabe, für die sie geprägt seien. Sie würden daher vermutlich das Gros jener „Manager“ staatlicher und halbstaatlicher, kollektivistischer und halbkollektivistischer Betriebsformen stellen, die heute allenthalben die freie Wirtschaft zu verdrängen drohten. Überdurchschnittlich hohe Zahlen heimatvertriebener Studenten mit volkswirtschaftlichem Studium, das vielleicht der beliebteste Ausgangspunkt für jene Managerlaufbahn sei, und die Zusammensetzung der deutschen Parlamente ließen diese Entwicklung erkennen. „Die freie Wirtschaft“, das ist die Schlussfolgerung Müllers, „beraubt sich damit eines hoffnungsvollen Teiles ihres fähigsten und berufensten Führungsnachwuchses zugunsten wirtschaftlicher Ordnungsgebilde, die von entgegengesetzten Prinzipien getragen sind“. G. W.

 

 

Seite 7   Anwendung der Halbdeckungsberechnungen bei fehlenden Renten-Versicherungsunterlagen

Das Bayer. Landessozialgericht hat am 11.03.1954 (Breith. Bd. 1954 S. 800) wie folgt entschieden:

 

„Bei Anwendung des Fremdenrenten- und Auslandsrentengesetzes (FAG) sind anstelle fehlender Beitragsunterlagen glaubhaft gemachte Rentenversicherungszeiten auch für Halbdeckungsberechnungen zu berücksichtigen. In diesen Fällen darf auf die Berechnungen über die erfahrungsgemäß gegebene Beitragsdichte früherer Jahre in den „Richtlinien des Bundesarbeitsministers für die Berechnung der Renten in der Invalidenversicherung bei vollständigem oder teilweisem Verlust der Versicherungsunterlagen vom 03.11.1952 (BABl. S. 650) zurückgegriffen werden“. 

 

In den Entscheidungsgründen ist folgendes gesagt: „Die am 18.10.1888 geborene Klägerin ist Heimatvertriebene aus Ostpreußen. Sie stellte am 06.06.1951 Invalidenrentenantrag und gab im Feststellungsbogen an, sie hätte von 1902 bis zu ihrer Verheiratung 1934 in der Haus- und Landwirtschaft gearbeitet, ihre Invalidenversicherung aber nicht freiwillig fortgesetzt; alle Unterlagen, ca. 17 Karten, hätte sie verloren. Der von der Landesversicherungsanstalt gehörte Dr. R. nahm jedoch bei der Klägerin Invalidität seit Antragstellung an, jedoch lehnte die Landesversicherungsanstalt den Rentenanspruch ab, die für 1949 und 1950 zur Erhaltung der Anwartschaft notwendigen Beiträge nicht entrichtet und die Voraussetzungen der Halbdeckungsvorschrift des §1265 RVO nicht gegeben seien; beim Eintritt in die Versicherung 1904 und bei Annahme des Versicherungsfalles 1951 seien für die Halbdeckung 1222 Beiträge notwendig, die aber in den 17 Quittungskarten, die die Klägerin nach ihren eigenen Angaben besessen hätte, nicht enthalten sein könnten. Die dagegen eingelegte Berufung wies das Oberversicherungsamt zurück; auch bei Anwendung der Richtlinien des Bundesarbeitsministers für die Berechnung der Renten in der Invalidenversicherung bei vollständigem oder teilweisen Verlust der Versicherungsunterlagen vom 03.11.1952 (BABl. S. 650) sei Halbdeckung nicht gegeben; nach diesem Erlass könnten 1089 Beiträge als entrichtet angesehen werden, während zur Halbdeckung 1196 Beiträge notwendig seien.

 

Weiterhin ist aber in den Entscheidungsgründen gesagt, dass die Klägerin nach dem (FAG) ab 01.04.1952 Anspruch auf Invalidenrente zuerkannt werden müsse, denn der Senat des Bayer. Landessozialgerichts erachte auf Grund der Angaben im Feststellungsbogen für glaubhaft, dass sie von ihrer Schulentlassung bis zu ihrer Verheiratung im Jahre 1934 als Dienstmädchen und landwirtschaftliche Arbeiterin in versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen stand. Es sei nun nicht gerechtfertigt, glaubhaft gemachte Beiträge wohl für die Wartezeit, nicht aber für die Erhaltung der Anwartschaft anzurechnen. Sollte man bei der Berechnung der Halbdeckung glaubhaft gemachte Beiträge nicht den nachgewiesenen gleichstellen, so würde man einen Teil der Heimatvertriebenen die Wohltat des § 1265 RVO versagen. Da unter Anwendung des § 4 Abs. 3 Satz 2 FAG für die Halbdeckung bei Eintritt in die Versicherung 1904 und Versicherungsfall 1951 insgesamt 1027 Beiträge notwendig sind, ist die Anwartschaft aus den glaubhaft entrichteten Beiträgen beim Eintritt des Versicherungsfalles als erhalten betrachtet worden. Wilh. Fangmeyer.

 

 

Seite    Ausbildungsbeihilfen für ein Jahr

Die Ausbildungsbeihilfe für Studierende soll laut Weisung jeweils für einen Zeitraum von zwölf Monaten bewilligt und monatlich im Voraus an den Antragsteller gezahlt werden. In einem Schreiben an das Bundesausgleichsamt hat der Verband der Landsmannschaften darauf aufmerksam gemacht, dass in den Universitätsstädten, wie z. B. Bonn und Freiburg, Ausbildungshilfen nur für sechs Monate gegeben und erst am Ende des Semesters ausgezahlt werden. In dem Schreiben wird auch auf die Durchführungsbestimmung Bezug genommen, wonach den Auszubildenden im Falle einer Verdienstbehinderung die Beihilfe auch während der Semesterferien weiterzuzahlen ist. In der Praxis werde diese Bestimmung jedoch, deren Durchführung dem Ermessen der einzelnen Ausgleichsämter überlassen bleibt, sehr unterschiedlich und meist negativ für den Antragsteller gehandhabt. Der Verband der Landsmannschaften hat den Präsidenten des Bundesausgleichsamtes gebeten, nachteilige Auswirkungen der Durchführungsbestimmungen zu beseitigen und den Geschädigten grundsätzlich auch für die Dauer der Semesterferien die Ausbildungshilfe zu gewähren.

 

 

Seite 7   Umsiedlung bis 1956. Gleichmäßigere Verteilung der Vertriebenen auf die Länder.

Über die Umsiedlung der Heimatvertriebenen in Westdeutschland berichtet Dr. Ilse Elsner in der Welt:

 

Die zweite große Völkerwanderung auf deutschem Boden nach diesem Kriege geht langsam ihrem Ende entgegen. Man rechnet damit, dass spätestens Anfang 1956 915 000 Menschen innerhalb des Bundesgebietes umgesiedelt sein werden. Das Programm, das der Bundestag im Mai 1950 verabschiedete, um eine gleichmäßigere Verteilung der Vertriebenen auf die Länder vorzunehmen und sie besser an die Arbeitsplätze heranzuführen, wird dann im vollen Umfange durchgeführt sein.

 

Die Bundesregierung hat dem Bundesrat eine Verordnung zugeleitet, die die Umsiedlung des letzten Schubs von 165 000 regeln soll. Bis zum 30. Juni dieses Jahres waren von den Aufnahmeländern (Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz) zusammen 652 900 Vertriebene übernommen. Am eifrigsten in der Erfüllung ihres Aufnahmeversprechens waren Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz; am säumigsten Nordrhein-Westfalen, das von 451 500 Umsiedlern erst 280 300 unterbringen konnte. Schuld hieran sind die überaus schwierigen Wohnverhältnisse im Ruhrgebiet, die es notwendig machten, Bauprogramm und Umsiedlung eng miteinander zu koppeln.

 

Dennoch kann man das Ergebnis der Umsiedlung im Ganzen gesehen als befriedigend bezeichnen. Am 1. April dieses Jahres waren in Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein noch 53,3% aller Arbeitslosen Vertriebene, während an der Gesamtbevölkerung gemessen die Vertriebenen 27,8% ausmachten. In den Aufnahmeländern dagegen betrug der Anteil der arbeitslosen Vertriebenen an der Gesamtarbeitslosigkeit nur 16,6%, ihr Anteil an der Bevölkerung jedoch 18,1 %. Sie waren also besser in den Arbeitsprozess eingeschaltet als die einheimische Bevölkerung.

 

Die weitaus meisten Umsiedler hat bisher Schleswig-Holstein abgegeben. Mehr als 300 000 Menschen sind von dort seit 1950 in andere Teile des Bundesgebietes umgezogen. Um 429 500 soll bis Ende 1955 die Zahl der Vertriebenen dort zurückgegangen sein. An zweiter Stelle rangiert Niedersachsen, das insgesamt 268 000 Vertriebene abgeben wird, gefolgt von Bayern, dessen Umsiedlungsquote sich auf 217 500 erstreckt.

 

Die Umsiedlung war sehr langsam in Gang gekommen. Rund 230 000 Wohnungen mussten gebaut werden (oder sind noch im Bau), um die Vertriebenen an ihren neuen Wohnorten unterzubringen. Allein für diesen Zweck waren 3,3 Milliarden DM erforderlich. 1,3 Mrd. DM davon hat der Bund zur Verfügung gestellt, den Rest haben die Länder aus eigener Anstrengung finanziert.

 

 

 

Seite 8   Unsere Leser schreiben: Auf den Artikel Gr. Engelau, Kreis Wehlau von Herrn Walter Kolbe in der Ostpreußen-Warte Nr. 8 vom August 1954 möchte ich mich mit folgender Schilderung melden:

Es handelt sich hier doch um das Dorf Gr. Engelau an der Straße Fiedrichsdorf - Allenburg, ostwärts des Zehlauerbruches. Um dieses Dorf haben Ende Januar 1945 erhebliche Kämpfe stattgefunden, an denen, wenn auch nicht unmittelbar im Dorf, ich teilgenommen habe. War Hauptmann und lag in Klein Nuhr, am 21. Januar 1945 setzten wir uns in Richtung Allenburg ab. Nach dem wir zwei Tage lang Allenburg verteidigt hatten, marschierten wir über Friedland nach Klein Schönau. Hier wurde mir ein nicht allzu starkes schnell zusammengeworfenes Bataillon in die Hand gedrückt und ich musste über Hanswalde in Richtung Gr. Engelau vorgehen. Etwa 2 km westlich vor Gr. Engelau besetzten wir einen bereits ausgehobenen Graben, der die Straße Friedrichsdorf—Gr. Engelau schnitt. Diese bereits ausgehobene Stellung müsste den Einwohnern von Gr. Engelau bekannt sein, da diese schon lange vor der Räumung des Dorfes von besonderen Stellungsbaukommandos ausgebaut worden war. Von dieser Stellung aus konnte ich den Kampf um das Dorf Gr. Engelau einigermaßen gut beobachten. Der Russe rückte aus Richtung Wehlau an, auf beiden Seiten hatte man verhältnismäßig starke Artillerieeinheiten eingesetzt; es gab auf deutscher Seite Nebelwerfer und auf der anderen Seite die Stalinorgel. Zwei Tage lang lag ich in dieser Stellung und der Kampf um das Dorf Gr. Engelau wogte hin und her und es lag oft unter Artilleriebeschuss. Meiner Meinung nach kann von dem Dorf nicht viel übrig geblieben sein; der Kirchturm erhielt Artillerietreffer. Bei Tage und bei Nacht konnte ich etliche Brände in dem Dorfe, auch in der Nähe der Kirche, und südlich des Dorfes (besser gesagt der Kirche) beobachten. Genauere Angaben kann ich leider nicht machen, da wir uns wieder über Hanswalde - Klein Schönau zurückzogen. Als wir abgelöst wurden, es war etwa der 27. Januar 1945, wurde meiner Meinung nach noch weiter um das Dorf gekämpft. Kurt Kumpies, Bremen-Farge, Rachelskamp 21

 

 

 

Seite 8   Pilzsuche auf der Kurischen Nehrung

Foto: Waldweg bei Rossitten

Foto: Der Schwarze Berg

Foto: Blick von Müllershöh auf das Möwenbruch bei Rossitten. Aufn.: Luther

Der goldene Herbst hat Ostpreußen längst in eine märchenhafte Landschaft verwandelt. Das zarte Gelb der Birkenblätter vermischt sich mit dem Rotbraun der Buchen. Das farbenfreudige Bild wird von dem satten Grün der Fichten und Kiefern umrandet. — Nur noch wenige Kurgäste weilen in den Badeorten. Die Pensionen sind mitten im Überholen ihrer Sommerwohnungen. Betten liegen zum Sonnen aus, Fensterrahmen und Gartenmöbel werden gestrichen, und nach und nach gewinnt jedes kleine Fischerdorf sein ursprüngliches Gesicht wieder. Auch die Fischernetze werden überholt und hängen zum Trocknen und Ausbessern an langen quergezogenen Holzstangen. Denn jetzt heißt es für die Herbststürme gerüstet zu sein. Die Fischerboote sind an Land gezogen und werden geteert. Ein herber, harziger Duft mischt sich in die leichte Brise von See her. Die Zeit für uns Wanderer ist gekommen.

 

Während Tausende von Paddlern die unermesslich schönen Wasserstraßen und verträumten Seen Masurens durchziehen, haben wir uns diesmal wieder die geliebte Kurische Nehrung ausgesucht. — Leise schaukelt die schmucke „Memel“, ein kleiner Dampfer der Götz'schen Flotte, am Landungssteg in Cransbeeck. Der frische Morgenwind vom Kurischen Haff her lässt uns leise erschauern. Meine Kinder sehen von der frühen Fahrt aus Königsberg noch etwas übernächtigt aus, und mit großer Freude wird mein Vorschlag begrüßt, im Speisesaal einen heißen Kaffee zu trinken. Doch bald geht's wieder an die frische Luft auf Entdeckungstouren. Es sind heute Morgen nur wenige Passagiere an Bord, denn wir haben ja Spätherbst. Der Dampfer hat sich darauf eingerichtet, die letzten Badegäste aus den Fischerdörfern am Kurischen Haff abzuholen. Achterschiffs sitzt ein vermummtes altes Mütterchen mit ihrem Sohn, einem wetterfesten jungen Fischer. Die alte Frau friert, und ihr Sohn tröstet sie, seinen Arm um sie legend, mit den Worten: Lass man Muttche, Sonnche wird gleich scheinen! — Er sollte Recht behalten. Kaum war die „Memel“ mit halber Fahrt, die schilfigen Ufer der Beeck schonend, ins Haff hinaus geglitten, so machte die Sonne verschüchterte Versuche, die noch recht dicke Wolkenwand zu durchdringen, was ihr schließlich auf der Höhe des verträumten Schwendtlund auch gelang.

 

Die Morgenbrise hatte sich gelegt, und das Haff lag noch leicht gekräuselt vor uns. Im Sonnenschein verschwanden die leichten Konturen auf der Festlandseite, und man träumte sich auf dem Meere. Das Oberdeck stand uns allein zur Verfügung. Die Sonne, die unserm lieben Ostpreußen alljährlich ja so unvergleichlich schöne Herbsttage schenkte, meinte es auch heute wieder gut mit uns. Den Kindern machte es Spaß, die Möwen zu füttern, und so haben uns drei dieser weißen Segler der Lüfte bis Rossitten heiser schreiend begleitet. Kaum hatten wir den spärlich bewaldeten Küstenstreifen von Sarkau hinter uns gelassen, so stiegen allmählich die kahlen, gelb leuchtenden Sanddünen der Kurischen Nehrung vor uns auf. Der azurblaue Himmel, die hellgelben Sanddünen und das silbern glänzende Haff sind unbeschreiblich schöne Eindrücke, die man erlebt haben muss, um sie nie zu vergessen. Kurz vor Rossitten bot sich uns ein seltsamer Anblick. Zwei Elche zogen gemächlichen Schrittes die hohen Dünen herab zum Haff. Es lag eine feierliche Stille über diesem Bilde. Es hätte vor tausend Jahren nicht anders sein können. Mehr und mehr Fischerboote, schwere Kurenkähne mit bunt geschnitzten Holzwimpeln am Maste tauchten am Horizont auf und kehrten vom Fischfang heim. Sieben große Kähne zogen, eng aneinander gereiht, beim Schleppfang an uns vorbei. Inzwischen hatte die „Memel“ scharf Kurs auf den Landungssteg von Rossitten genommen, der schon zu uns herüber grüßte. Während sonst der Landungssteg fast brach von schaulustigen Sommergästen,- warteten heute nur Berge von hochgetürmten Koffern und Kisten und die letzten wenigen Sommergäste auf die Heimreise. Ungläubig wurden meine drei Kinder und ich angestaunt, weil wir um diese Jahreszeit noch zur Kurischen Nehrung kamen. Aber wir hatten unsern guten Grund. Man musste die Kurische Nehrung mit ihren unergründlichen Reichtümern kennen! Wir waren diesmal als Pilzsammler gekommen.

 

Zuerst sicherten wir uns ein Nachtquartier im neuen Kurhotel, das der Reedereibesitzer Götz hier am Haff erbaut hatte. Zwar grüßten uns hier schon sich sonnende Schlaraffiamatratzen als Zeichen des großen Hausputzes nach der Saison, aber der umsichtige Wirt brachte uns dennoch in einem sehr sauberen, hellen Zimmer mit fließendem Wasser unter. „Was wollen denn die noch hier?“, hörten wir ein Stubenmädchen, das gerade eine neue Matratze zum Sonnen heraus brachte, einer Kollegin zurufen. Aber sie sollten es bald erfahren! Erst stärkten wir uns mit einer Portion Aal grün, dann ergriffen wir unsere sieben Taschen und zogen mit Messern bewaffnet in den Wald. Hier begegnete uns kein extravaganter Sommergast mehr, kein Eismann klingelte — nein, hier sprach nur noch die Natur. In den hohen Kiefernwipfeln rauschte der Seewind und mehr und mehr drang das Donnern der Brandung von See her uns entgegen. Drei Tage vorher hatte der erste Herbststurm die See aufgewühlt, und gewaltige Schaumkronen ritten auf der Dünung dem Strande zu, um schon an den ersten Sandbänken zu zerstieben. Nicht satt sehen konnten wir uns an dem Schauspiel der Natur. Schon auf dem Wege zur See, am Möwenbruch vorbei, lagen große, schlanke Kiefern entwurzelt quer vor uns oder hielten sich noch mit letzter Kraft an der benachbarten noch stehenden Kiefer fest. Ein Knarren und Ächzen ging durch den Wald, als klagte er den Herbststurm an. Ab und zu begegnete uns ein mageres Pferd im Walde, das ein schweres Dasein auf der Nehrung führte. Trotz des spärlichen Futters zeigten diese Tiere doch eine ungeahnte Leistungskraft. Sie hielten allen Witterungseinflüssen und Geländeschwierigkeiten stand, sei es nun, wenn man sie zur Eisfischerei im strengsten Winter auf dem Haff brauchte, oder wenn sie kilometerweit durch die Sandwüste der Kurischen Nehrung bei Sturm und Schnee trabten.

 

Wir begegneten zwei Fischerfrauen, die dem Strande zugingen, um ein sich durch die Brandung kämpfendes Fischerboot zu empfangen. Wir folgten ihnen und bangten um die kämpfenden Männer da draußen. Fast beschämend wirkten auf uns die Ruhe und das Gottvertrauen, das aus den blauen Augen dieser Frauen sprach. Sie schienen Schwereres erlebt zu haben. Doch endlich war es den tapferen Männern gelungen, mit einer großen Welle den Strand zu erreichen. Keine stürmische Begrüßung, kein Händeschütteln, nur ein kurzer heller Blick, und dann gingen sie gemeinsam an die Arbeit. Es waren viele Strömlinge ins Netz gegangen. Man konnte zufrieden sein. Die Fische wurden mit geübten Frauenhänden aus den Netzen befreit und in Körbe gepackt, denn Pferd und Wagen standen schon bereit, um die Fische über Sarkau nach Cranz und von dort aus weiter nach Königsberg zu bringen. War ab und zu ein Dorsch im Netz, so wurden ihm die Eingeweide mit kühnem Griff entfernt, wobei auch die Leber mit gerissen wurde. Als ich bescheiden fragte, ob ich mir die Lebern aus dem Sande herausnehmen könnte, lachten die Frauen und meinten, sie seien ja doch nicht zu gebrauchen. Wir hatten auf diese Weise stolz drei Pfund Dorschleber mit nach Hause gebracht. Wie haben sich inzwischen die Zeiten geändert! Dorschleber in Öl, eine Delikatesse, in jedem Fischgeschäft jetzt zu haben!

 

Langsam war die Sonne tiefer gesunken, und wir hatten noch immer nicht an unsere Pilze gedacht. In Richtung auf den schwarzen Berg gingen wir weiter. Das ist die größte künstlich bewaldete Düne bei Rossitten. In mühevoller Arbeit hat man hier Anpflanzungen von Bergkiefern, kleinen Krüppelkiefern, vorgenommen und somit die Düne festgehalten, verankert, sie kann nun nicht mehr wandern, wie die anderen noch unbepflanzten Dünen. Natürlich musste erst der Berg „erstiegen“ werden. Durch die sandigen Schneisen arbeiteten wir uns langsam in die Höhe. Oben an der Wetterwarte machten wir Halt und genossen den herrlichen Blick auf See und Haff zugleich. Wir kamen uns wie Riesen vor in dem Zwergwalde, denn die Kiefern gingen uns kaum bis ans Knie. — Doch was war das? Hier standen sie schon um uns herum, wirkliche Pilze, essbare Edelreizger und unzählige Grünlinge. Während die Edelreizger mehr zwischen den Kiefern wuchsen, ernteten wir die Grünlinge mitten auf den Sandwegen in großen Mengen. Es waren fast alle madenfreie, schöne Exemplare. Es dauerte nicht lange, und so musste erst Rast gemacht werden, um die Pilze zu putzen, weil die Taschen nicht mehr ausreichten, obgleich es sieben große Taschen waren. Mehr und mehr näherten wir uns dem Fliegerhorst. Hier fanden wir in samtweichem Moos herrliche Grünlinge in der Größe von ausgewachsenen Steinpilzen.

 

Als wir abends schwer beladen dem Dorfe zustrebten, bot sich uns ein unvergesslicher Anblick. Hier suchte der Hotelbesitzer mit seinen Stuben- und Küchenmädchen Pilze für seine Kurgäste in der nächsten Saison. Er lachte, als er uns mit unseren sieben Taschen sah und meinte: „Ja, hier auf der Kurischen Nehrung muss man mit Pferd und Wagen Pilze suchen!“

 

Wahrhaftig, da stand mitten auf dem Waldweg ein Pferd mit einem Kastenwagen, der schon mit den schönsten Pilzen gefüllt war. Rund herum streiften die Mädchen suchend mit den Körben durch den Wald. In einer knappen Stunde hatte er wirklich eine Wagenladung voll. Wir mussten am Abend meinen Mann in Königsberg anrufen, dass er am nächsten Tage mit einem großen Koffer auf dem Nordbahnhof uns erwartete, denn außer unseren vollen Taschen hatten wir noch Kopftücher zur Hilfe nehmen müssen, um unseren Pilzsegen zu bergen. Die Rückfahrt übers Haff verlief etwas stiller. Die Kinder schliefen auf den Bänken und ich war froh, denn es war ein frischer Wind aufgekommen, der das Schiff tüchtig schlingern ließ. Gerta Luther

 

 

Ernst Wiecherts „Das einfache Leben“ erscheint jetzt in französischer Sprache. Henri Thies hat es übersetzt.

 

 

Seite 8   „Ännchen von Tharau“ / Bemerkungen zu einem Film

Viele, die diesen Film sehen, sagen, es sei ein „schöner“ Film.

 

I.

Es schmeichelt dem Bürger nichts mehr, als wenn er sieht, dass seine Welt „verlässlich“ ist, dass sich  in ihr alles „zurechtläuft“, ohne dass von ihm ein persönliches Opfer gefordert wird. Der Vertriebene ist für den arrivierten Bürger — solange jener es noch nicht wieder zu Wohlstand gebracht hat — die Erinnerung an ein widersinniges und seine Welt bedrohendes Schicksal. Er ist ein „Schreck“. Erst wenn er von den sozialen Folgen seines Schicksalsschlages bereit, wenn er „eingegliedert“ ist, schlägt sich für den Bürger die Brücke.

 

Bis dahin gehört es freilich zur bürgerlichen Moral, dass man das Schicksal des Vertriebenen gegenüber Mitleid empfindet (ohne freilich mit ihm zu leiden). — Dieses der Moral halber empfundene Mitleid ist aber für den Bürger nur die unpersönliche Teilnahme an dem, was ihn ganz persönlich hätte treffen können, aber Gott sei Dank nicht getroffen hat. — Mitleid ist für ihn so zwar eine Anstrengung, aber auch zugleich der Versuch, die Kluft zwischen sich und dem Geschlagenen auf möglichst billige Weise zu überbrücken. Der Film „Ännchen von Thurau“ trieft von diesem Mitleid (der schmalzige Sohn des Weingutbesitzers, der Schankwirt, der Organist usw. usw.) Er ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Haltung. Er lügt eine Harmonie zwischen den sozialen Gruppen herauf, die in Wirklichkeit nicht besteht. Aber das „Erleben“ dieser Harmonie macht diesen Film für viele Leute „schön“. Er befriedig ihre — sozial gesehen untragbaren — Wünsche, dass alles, ohne die eigene Hand zu rühren, wieder ins Lot komme und einträchtig sei. Damit ist er unwahr. Aber gerade dadurch enthüllt er die absurde Vorstellung des Zuschauers (der ihn ja „schön“ findet) von der Welt. Es gibt in diesem Film kein direktes Eintreten für den Mitmenschen. So liefert dieser Film ungewollt eine exakte Beschreibung des bürgerlichen Verhältnisses zur Wirklichkeit.

 

Es ist kurios: In diesem Film werden alle „eingegliedert“: der ostpreußische Bauer erhält ein ausgedientes Pferd geschenkt und baut sich damit eine Existenz. Ännchen findet einen Mann, der Junge seinen Vater (der deutlichste Beweis für die Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung), die alte Flüchtlingsfrau wandert aus zum Sohn nach Amerika (eine Abart der Eingliederung), selbst das Eisgeschäft des Beamten kommt in Schwung. Das ist „schön“. Aber der „hundertprozentigen“ Eingliederung im Film stehen in der Wirklichkeit nur 30 Prozent eingegliederte Vertriebene gegenüber. 70 Prozent verbleiben als unser soziales Gefüge beunruhigender Rest. Damit gaukelt dieser Film ein falsches Bild unserer sozialen Wirklichkeit vor. Er torpediert die soziale Verantwortung: Es läuft sich nicht alles von selbst zurecht.

 

II fehlt

 

III

Der Film gibt vor, das Schicksal eines Vertriebenen zu gestalten. Er beruft sich auf ähnliche „wahre“ Ereignisse. Aber diese können im Hinblick auf das Ganze der sozialen Gruppe unwahr sein. Sie dürfen nicht symbolisch für das Schicksal der Gruppe stehen. Wo man heute von Vertriebenen spricht, meint man immer die ganze soziale Gruppe. Darum hat ein Vertriebenenfilm immer das Schicksal der Sozialgruppe am exemplarischen Fall darzustellen. Dann erst wird er wahr, weil er dann die Spannung in dieser und zu den anderen sozialen Gruppen, von denen unsere Wirklichkeit geprägt ist, bloßlegen kann. „Annchen von Tharau“ ist ein verantwortungsloser Film, weil er den Weg zur Sozialkritik, die gerade der Film auszubilden hat, wieder verbaut und die Spannungen und Probleme verleugnet.

 

IV

Die Landschaft Mainfranken ist dem romantischen Deutschen der Inbegriff des Idylls, des beruhigten, dauernd im Sonntag lebenden Lebens. Sonntäglich wird diese Welt dargestellt, für die Wirklichkeit des Alltags ist sie sozial nicht offen. Barackenstädte z, B. sind das genaue Gegenteil. Der aufrichtige Film spielt in ihnen, nicht in Mainfranken. Aber man braucht diese kunstgewerbliche Landschaft als sonntägliche Stimulans.

 

V

„Ännchen von Tharau“ ist ein Film, der das Schicksal der Vertriebenen aus dem Bewusstsein vertreibt, weil er es aus den kleinbürgerlichen Mitleids- und Wunschvorstellungen gestaltet. Der Produzent, der Drehbuchautor, der Regisseur mögen sagen: unser Film ist anders. Was Sie von diesem Film verlangen, wollten wir gar nicht. Wir müssten dagegen fragen: Ob man wider besseres Wissen eine verfälschte Darstellung unserer sozialen Wirklichkeit geben darf?

 

VI

Der Film „Ännchen von Tharau“ erhielt das Prädikat „Jugendfördernd“. Man fragt sich, warum? Günther Rühle

 

 

 

Seite 9   Dr. Hugo Eckener in Königsberg

Foto: Dieses Bild zeigt Dr. Hugo Eckener, der kürzlich verstorben ist, im Kreise der Mitglieder des Ostpr. Vereins für Luftfahrt in Königsberg, der einer der rührigsten deutschen Luftfahrtvereine war. Aufnahme: Kühlewindt

 

 

 

Seite 9   Der Engel von Königsberg / Von Hanna Stephan

Wenn ich an Königsberg denke, so steigt sogleich das Bild einer Frau vor mir auf, die für mich zum Sinnbild dieser Stadt geworden ist, seit ich vor wenigen Jahren von ihr hörte, sie sah und sprach und sie niemals vergessen konnte, obwohl sie mir nun ferngerückt ist wie jene geliebte, geschlagene und unvergessene Stadt, die hinter den dunklen Brandwolken ihres Schicksals für uns verborgen ist.

 

Sie lebt jetzt in einer unserer westlichen Städte, und wer an ihr vorübergeht, würde sie nicht erkennen: Sie ist feine von uns, eine einfache Frau von heute, die ihr Schicksal ergriff, als es auf sie zukam, nichts weiter. Sie will namenlos bleiben und muss es auch, nach allem — nicht nur, weil sie bescheiden ist und mir mit keinem Wort verraten hat, ob sie den Namen kennt, den man ihr gegeben hat, vielmehr auch deshalb, weil ein Mensch, der einmal stellvertretend für alle andern war, aus seinem persönlichen Namen und Geschick herausgetreten und auf eine gültige Art anonym geworden ist. Und dies ist ihr Name: Der Engel von Königsberg.

 

Der mir diesen Namen zuerst nannte, er schwärmte keineswegs. Es war ein Mann, der mir bei tagelanger Arbeit geholfen hatte, die Briefe und Berichte aus dem Archiv herauszusuchen, aus denen ich mir Punkt um Punkt und Körnchen um Körnchen das wilde, grauenvolle Bild jener letzten Tage der untergehenden Stadt zusammenzutragen versuchte.

 

Diese andere Anonymität war es, die mich zuerst erschütterte, die Vertauschbarkeit der Schicksale, die Wiederholbarkeit dessen, was doch für jeden einzelnen einmalig und endgültig war.

 

Da sagte der Mann — ein trockener, verschlossener Mensch, der mir bis dahin nur Papier um Papier gereicht und wenig geredet hatte —, und er sprach bedächtig und aus einem wohlerwogenen Entschluss: „Wenn Sie dies alles richtig verstehen wollen, die Menschen und unsere Stadt und unser Schicksal und das, was aus uns und aus ihr werden wird, dann müssen Sie den Engel von Königsberg kennenlernen“.

 

„Denn sie ist geblieben, als alle andern gingen“, sagte er weiter, meine Verwirrung nicht bemerkend, die noch größer wurde, als ich erfuhr, dass der Engel wirklich eine Frau war, während Legionen von himmlischen Heerscharen nicht ausgereicht hätten, die Stadt und ihre Menschen zu retten.

 

„Sie blieb freiwillig zurück, als alle fortgingen, auch ich, obwohl ich nur dorthin gehöre, verstehen Sie, wie alle andern, die Kaufleute und Handwerker und Lehrer und Ärzte mit ihren Frauen, den Kindern, den halberwachsenen Söhnen und Töchtern, alle, die der Krieg bisher nicht schon geholt hatte. In wenigen Tagen war die Stadt leer und tot, ehe sie unterging“.

 

„Ehe sie unterging“, wiederholte ich, „aber die Frau blieb“.

 

„Sie hätte auch fortgehen können, man legte es ihr nahe“, erzählte er weiter, wie einer, der lange Aufgestautes aus sich herausstößt, „aus dem gleichen Recht, das wir uns alle nahmen, als wir die Stadt verließen, die wir selber waren, Kennen Sie die Stadt?“

 

„Ich liebe Sie“.

 

„Sie ist ja nicht nur die heutige Stadt, die im Jahre fünfundvierzig unterging. Sie ist siebenhundert Jahre alt! Die Ritter und Ordensbrüder, die Vögte, Markgrafen und Könige haben sie gemacht, die Männer und die Frauen aus Flandern und die als Salzburg, die Pruzzen und Kuren und Masuren, und der Bernstein und der Wald, das Salz vom Meer, und Wachs und Fische und Korn und Backstein und Granit — sie alle haben diese Stadt und ihre Menschen gemacht. Und wir sind fortgegangen“.

 

„Sie konnten nicht anders“.

 

„Unser Leben“, sagte der Mann ruhig, als spräche nicht die furchtbarste Erfahrung von Generationen aus seinen Worten, „war damals in uns zu einem zuckenden Nerv entblößt, es hatte nur noch den einen, zornigen und leidenschaftlichen Willen, zu leben. Was uns geschah, war ohne Vorgang und Maß. Es war ohne Regel und Gesetz und war die Wahl zwischen Tod und Leben. Vor uns lag die Möglichkeit des Lebens, und hinter uns blieb der Untergang. Man hat mir erzählt, wie Mauern und Türme, Schloss und Haus und Dom verbrannten“.

 

„Aber die Frau blieb da“.

 

„Der Engel von Königsberg blieb“.

 

„Blieb sie“, fragte ich leise, obwohl ich wusste, dass es anders war, „weil sie sich vor dem Nichts, in das sie alle hinausflohen, noch mehr fürchtete als vor dem Untergang, der gewiss war?“

 

„O nein“, sagte der Mann, „sie blieb, weil da Menschen waren, die noch größere Angst hatten als sie selber. Wenn sie auch wollten, sie konnten nicht fort: Sie waren zu alt oder sie waren krank, sie hatten kein Geld oder kein Ziel, oder sie sollten eben jetzt sterben oder gar geboren werden, oder der Zug fuhr ohne sie ab, oder die kleinen Boote hatten sie von den versenkten Schiffen zurückgebracht, und sie wollten nicht mehr — es war die Hölle“.

 

„Und die Frau blieb freiwillig in der Hölle, weil sie denen helfen wollte, die Angst hatten“.

 

„So war es“, sagte der Mann, „sie war eine Ärztin. Und das Gesetz war in ihr“.

 

„Das Gesetz Ihres großen Philosophen?“

 

„Das Gesetz Gottes“, sagte der Mann und schwieg.

 

Nach einer Weile bat ich ihn um ihren Namen. Er sah mich lange prüfend an. — „Die Russen haben sie vor kurzem mit den letzten Deutschen zurückgeschickt. Aber sie will nicht, dass man ihren Namen nennt“.

 

„Sie hat ja einen anderen Namen“, sagte ich, „von diesem Namen muss man sprechen“. Da nannte er mir Ort, Straße und Namen.

 

„Und ist sie Ärztin hier wie dort?“

 

Zum ersten Mal hörte ich den Mann lachen, ein kurzes, trockenes Geräusch. „Wenn es den Menschen gut geht, dann nehmen sie die Engel weniger gern bei sich auf. Eine Fabrik, Äpfel, Bohnen, Erbsen, Rüben, da arbeiten viele Frauen. Sie muss leben, wissen Sie“.

 

Ich stand, als die Glocke über dem Fabriktor den Feierabend ausrief, an dem eisernen Torflügel und wartete auf sie. Ich wusste nicht, ob ich sie erkennen würde, ich hatte kein Bild von ihr. Zuerst kamen die jungen Mädchen mit ihren leichten Röcken und leichten Schritten, den wippenden Locken über ihrer Stirn, schon eher Engeln gleich: danach die älteren Frauen, die von ihrer Arbeit und von ihrem Leben müde waren. Sie selber kam mit den letzten, äußerlich in nichts von ihnen unterschieden, und doch erkannte ich sie sofort. Sie sprachen miteinander, das heißt, die andern redeten, und sie hörte ihnen mit der ruhigen und hingegebenen Aufmerksamkeit zu, die von sich selbst absieht und die Ärzte an sich haben, sofern sie gute Ärzte sind. Zuletzt blieb sie, während die andern weitergingen, an der Pforte stehen und reichte dem Pförtner eine Liste durch das Fenster, die sie ihm erläuterte, und er verhandelte mit ihr mit der Achtung, die einer, der an seinem Platz etwas bedeutet, dem andern zollt, der den seinen gut und richtig erfüllt.

 

Ich hatte Zeit, sie anzusehen. Als sie herankam, fiel mir der weite und schwingende Schritt auf, der viele Frauen aus jener Stadt auszeichnet und der nicht nur den hochgewachsenen Bau, sondern die Sicherheit der Haltung verrät, die kein Zögern kennt, wenn es gilt, zu tun, was nötig ist. Ihre Schultern waren nicht breit, aber kräftig, und die knappe Jacke von schlechtem Stoff, die sie trug, verriet, dass sie einmal eine schöne junge Reiterin gewesen sein musste, die edel zu Pferde saß. Als sie die Liste hereinreichte, sah ich auch ihre Hände, verarbeitete, kräftige, dennoch fein gebaute Hände, die sowohl die Zügel als auch die zarten Instrumente, die ihr Beruf ihr zureichte, wohl zu halten wussten.

 

Dann drehte sie sich um, und ich sah ihr Gesicht. Auf den ersten Blick war es in seiner großflächigen Einfachheit und schwer von der Müdigkeit eines langen Werktages das Gesicht einer Arbeiterin. Aber als sie sich erkennend mir zuwandte, belebte es sich mit der wachen Klugheit, die Dinge und Menschen durchschaut, doch war seine Überlegenheit warm und gut. Ich sah die Kraft in diesem Gesicht, das doch nicht mehr jung war, zugleich seine Zartheit und Bewegtheit über dem breiteren östlichen Bau, dem festen Kinn, den starken Backenknochen, der flachen, klaren Stirn unter den streng zurückgestrichenen Haar, das einmal, als sie jung war, die Farbe dunkelreifenden Weizens gehabt haben musste. Auch in ihren Augen saß etwas von diesem Bernsteinlicht, obwohl sie blau gewesen sein müssen; ich kann den starren Glanz nicht vergessen, der von ihnen ausging. Sie sah mich abwartend an, von einer Frage erfüllt, die bereit war, zu antworten.

 

So blieb es zwischen uns. Ich saß diesen und den nächsten Abend in ihrer kleinen Flüchtlingsstube, die allen Stuben dieser Art glich, ich fragte, und sie antwortete mir. Sie tat es in der schlichten und unerschütterlichen Einfachheit, mit der alle die sprechen, die etwas Schweres hinter sich gebracht und überwunden haben. Es gab keine großen Worte, keinen Schmuck, keine Klage und keinen Seufzer, und erst recht nicht Ruhm und Heldentum in ihrem Bericht. Sie selbst ging nur ganz zufällig hindurch, weil eben sie es war, die solches erlebt hatte.

 

Ich will die Bilder des Elends, die sie vor mir enthüllte, nicht wiederholen. Sie selber hat sie halb verdeckt gelassen. Scham und Schweigen lagen wie ein Schleier über dem Abgrund des Menschlichen, den sie durchschreiten musste. Aber seltsam: Während sie von dem Sterben der geliebten Stadt erzählte, wuchs strahlend und unverletzt deren Bild über dem Grauen auf. Über den Teichen, aus denen sie die ertrunkenen Frauen barg, schwangen noch die fröhlichen Rufe der Badenden und die abendlichen Gesänge der Liebenden, die mit den Kähnen durch den silbernen Mondschein glitten; aus den Konzertsälen, in denen sie die Spitäler für die Typhuskranken einrichtete, rauschte die große Musik, von der die Stadt in ihren glücklichen Tagen erfüllt gewesen war, und aus den brennenden Bibliotheken, die auf den Höfen der Institute zugrunde gingen, lebte der Geist, den man nicht töten kann. Während sie die wenigen Medikamente wog, die ihr geblieben waren, und von Mitleid und Erbarmen zerrissen entscheiden musste, wenn sie versagen und wem sie dieselben geben sollte, weil sein Leben von größerem Gewicht als das des andern war, schaute der strenge und ordnende Blick der Jahrhunderte ihr zu, der diese Stadt groß gemacht hatte. Sie stand auf dem Markt und verkaufte den Frauen der Sieger Seidenkleider, Schmuckstücke und Teppiche, die sie aus den verlassenen, weit offenen Häusern der geflohenen Freunde genommen hatte — „weil diese Menschen, für die ich die Verantwortung hatte, doch leben mussten“ —, und in den Häusern erblühte vor meinem inneren Blick das schöne, gepflegte und gesicherte Leben der Bürger, zu denen sie gehört hatte. Ich wusste, wer sie war, während sie, eine einfache Frau, neben mir saß und erzählte: Sie war dies alles zugleich. Sie war die Stadt, sie war der Engel von Königsberg.

 

„Und die Russen?“ fragte ich zögernd, „haben sie Ihnen nichts getan?“ Sie sah mich an, gesammelt und freundlich und ohne zu lächeln. Mit diesem Blick muss sie jeden überwunden haben, der ihr entgegentrat. „Nein“, sagte sie ruhig, „sie wussten wohl, dass doch einer da sein muss, der helfen kann. Sie haben eine Wache vor meine Tür gestellt, während sie nebenan ihre Orgien feierten. Sie holten mich in Ruinen und Keller, wenn es zu schlimm wurde, und ich ging mit ihnen. Ich vertraute, und mir ist nichts geschehen“.

 

Zuletzt nahm sie aus ihrem Schrank ein in Seidenpapier gewickeltes Ding und reichte es mir. „Halten Sie es gegen das Licht“, sagte sie, „es ist sehr schön“.

 

Es war eine Bernsteinkugel von ungewöhnlicher Größe. Als ich sie vor die Lampe hielt, sah ich ein Insekt darin, ein Flügelwesen mit zartem Leib, gebrechlichen langen Beinen und durchsichtigen, weit ausgebreiteten Schwingen. Seit Tausenden von Jahren war es in diesen Stein eingeschlossen, so wie der Augenblick seines Schicksals sein leichtes Leben beendet hatte. Und so würde es bleiben, unvergänglich vor meinen vergänglichen Augen. Ich gab den Stein der Frau zurück, sie hielt ihn nachdenklich in ihrer Hand und legte ihn fort.

 

„Er gehört mir nicht. Ein Kind hielt ihn in der Hand, zu dem mich ein junger Russe führte. Es saß auf den Stufen vor Kants Grabmal, unter den roten Granitpfeilern. Es war dünn und verhungert und spielte mit dieser Kugel. Es hatte seinen Namen vergessen. Ich. habe es mit hierher gebracht und habe seine Mutter gesucht, und ich habe sie auch gefunden. Das ist gut“. Ich sah das Kind unter dem Grabmal des Weisen von Königsberg sitzen und den Engel, der sich ihm beugte.

 

„Kant“, sagte ich leise.

 

Sie sah mich an und lächelte. „Wir sind alle seine Kinder. Er hat uns gesagt, was wir tun müssen, und wir haben es getan.

 

 

Drei Worte Immanuel Kants.

„Ein schicklicher Platz“4

 

Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reiches, in welchem sich die Landescollegia der Regierung befinden, die eine Universität (zur Kultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes sowohl als auch mit angrenzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten einen Verkehr begünstigt, eine solche Stadt wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann. (Kant in seiner Anthropologie)

 

 

Reichtum

Reich ist man nicht durch das, was man besitzt, sondern mehr noch durch das, was man mit Würde zu entbehren weiß, und es könnte sein, dass die Menschheit reicher wird, indem sie ärmer wird und gewinnt, indem sie verliert. Kant

 

 

Froher Sinn

Das einzig sichere Mittel, seines Lebens froh und dabei noch auch lebenssatt zu werden, ist Ausfüllen der Zeit durch planmäßig fortschreitende Beschäftigungen. Je mehr du gedacht, je mehr du getan hast, desto länger hast du (selbst in deiner eigenen Einbildung) gelebt. Kant

 

 

 

Seite 10   Das Hufengymnasium gibt es nicht mehr. Oberstudienrat i. R. Kurt Maeder an seine ehemaligen Schüler

Am 8. und 9. März 1927 hatte eine Klasse von 31 Schülern des Hufengymnasiums in Königsberg ihr Abitur bestanden. 25 Jahre später feierten 15 dieser ehemaligen Schüler des Hufengymnasiums in Düsseldorf in der Wohnung des Rechtsanwaltes Dr. Heinz Schmidt, der die Überlebenden zusammengerufen hatte, das 25-jährige Jubiläum ihrer Reifeprüfung. Sie hatten aus Wolfenbüttel Oberstudienrat i. R. Kurt Maeder herbeigerufen, der fünf  Jahre lang diese Klasse als Klassenlehrer betreut hatte. Es war eine seltsam-besinnliche erinnerungsreiche Feier. Auf die Eröffnungsrede des Oberstudienrates Maeder folgten die Berichte der 15 Teilnehmer über ihre Erlebnisse, ihr Schicksal in den vergangenen 25 Jahren. In ihnen entstand ein Bild unserer Zeit, wie es eindrucksvoller, fertiger, ergreifender kaum gedacht werden kann. Nachstehend veröffentlichen wir die Rede des Oberstudienrates Maeder:

 

Meine lieben ehemaligen Jungen!

Wenn alte Kameraden sich zusammenfinden, ist das immer ein schönes Erlebnis, eine festliche Unterbrechung des Alltags. Unser heutiges Zusammensein nach 25 schicksalsschweren Jahren, greift tiefer in unsere Seelen. Es ist herzbewegend. In die Freude des Wiedersehens mengt sich nicht nur Wehmut im Gedenken an vergangene schöne Tage, sondern auch echte, tiefe Trauer.

 

Wir haben unsere Heimat verloren. Wir gleichen einer Schar von Schiffbrüchigen. Wenn die Geschichte unseres Volkes ihren normalen Weg ruhig weitergegangen wäre, ohne den Sprung in die Höhe und den jähen Sturz in die Tiefe, so hätten wir uns wohl am heutigen Tage am Vormittag um 10 Uhr vor dem Portal des Hufengymnasiums versammelt und hätten den Marsch zu zweien über Hufenallee und Steindamm zum Blutgericht im Schlosse, wenn auch ohne rote Mützen, wiederholt und hätten dort bei dem mundenden Rotwein des Blutgerichts in Erinnerungen an die ferne Schulzeit mit ihrem Leid und mit ihrer Freud geschwelgt und wären dann mit dankbarem Gefühl, eine schöne Stunde verlebt zu haben, zu unserer Arbeit und in ein gesichertes Dasein zurückgekehrt.

 

Jetzt sind wir hier am Rhein, fern unserer Pennalstadt. Ja mehr, wir haben wenig Aussicht, wieder dorthin zu kommen, und, wenn es gelänge, wir würden die alte Stadt nicht mehr wiederfinden, wie sie zu Eurer Schulzeit war. Sie ist gründlich zerstört. Das Hufengymnasium gibt es nicht mehr. Und Königsberg ist eine fremde Stadt geworden. So werdet Ihr die Empfindung haben, Eure Schulzeit ist ein schöner Traum geworden, der fernen Vergangenheit angehört, von der kein Weg zur Gegenwart führt.

 

Lasst mich einen Augenblick bei Eurer Schulzeit verweilen. Es war keine schlechte, unbedeutende Schule, unser Hufengymnasium. Es war eine Schule besonderer Art, die sich, soweit ich das beurteilen kann, von den meisten andern, zum Teil altehrwürdigen höheren Schulen Königsbergs nicht nur durch den modernen Schulbau, sondern durch die Aufgeschlossenheit unterschied, mit der die meist jugendlichen Lehrkräfte den Reformideen der Zeit gegenüberstanden, eine pädagogische Haltung, die uns von der vorgesetzten Behörde gelegentlich sogar vorgeworfen wurde. Zwischen Lehrern und Schülern herrschte damals ein ungezwungener, freier, kameradschaftlicher, wohltuender Ton. Eine Reihe von hervorragenden Erzieherpersönlichkeiten hatte der Schule ihr Gepräge gegeben, die Direktoren Harry Brettschneider, Franz Ganski und vor allem Alfred Postelmann, dazu die Künstlernaturen Ernst Wiechert, Handschuck und Hartung, und neben ihnen wirkten fachtüchtige und unterrichtsfreudige Lehrer.

 

Vor allem aber, Ihr habt das Hufengymnasium in einer Zeit besucht, in der das reine, klare, unverbildete menschliche Gefühl noch nicht durch unsinnige Ideen und Taten ins Krank- und Krampfhafte hineingepresst war. Noch war alles frei, herzlich und menschlich. Das ist die historische Bedeutung Eurer Schulzeit, dass Ihr eine der letzten Schülergenerationen gewesen seid, in der Ihr noch frei nach Eurem innersten Gefühl Eure Liebe und Eure Abneigung äußern konntet. Sogar einen literarischen Niederschlag hat Eure Schulzeit gefunden. Es ist ein Abschnitt in unsers Ernst Wiecherts Lebensbeschreibung „Jahre und Zeiten“.

 

Auch wirtschaftlich und politisch war es die letzte Zeit, in der man glauben durfte, alles befestige sich wieder und Deutschland steige langsam aufwärts. Die Inflation war überwunden, die Arbeit des Volkes schritt rüstig vorwärts, und ein langer Frieden ohne Furcht vor einem nahen Kriege schien gesichert, anders als heute.

 

Wer von Euch hätte damals ahnen können, was diese 25 Jahre nach Eurer Reifeprüfung unserm Vaterland und jedem von Euch bringen würden!

 

Wir sind alle gespannt auf die Berichte, die wir jetzt hören werden, über den Anteil, den ein jeder von Euch an dem Sturm, der Not, dem Chaos der hinter uns liegenden Zeit gehabt hat. Es werden sehr umfangreiche, von bitterer Lebenserfahrung beschwerte Berichte sein, wie sie wenige Schülerorganisationen in Deutschlands Geschichte geben können.

 

Umso mehr ist es Staunens- und bewunderungswert, dass Ihr Euch hier zusammengefunden habt und damit zeigt, wie stark noch die kameradschaftlichen Bande sind, die Euch umschlingen.

 

Eine Schulklasse wird schnell auseinandergerissen. Studium, studentische Verbindung, gesonderte Erlebnisse, neue Freundschaften, Beruf, Ehe, Familie, sie alle ziehen die Klassengenossen rasch auseinander. Für Euch kam noch hinzu der tiefe Graben, den Hitler durch das deutsche Volk grub, so dass kaum eine Verständigung von hüben und drüben möglich wurde.

 

Die Erscheinung, dass Klassenkameradschaft über die auseinanderziehenden Kräfte zu siegen imstande ist, erkläre ich mir aus der seelischen Lage einer Schulklasse an sich. Niemals im Leben lernt man sich gegenseitig so gründlich kennen wie auf den Schulbänken, zumal in der Zeit der jugendlichen Entwicklung zur Persönlichkeit. Der Lehrer sieht einen Schüler meist nur von einer einzigen Seite, der seines Faches, die Kameraden lernen ihn in seinem ganzen Können, mit seinen intellektuellen Fähigkeiten oder auch Unfähigkeiten, vor allem in seinen charakterlichen Grundeigenschaften kennen. Dem Lehrer kann der einzelne Schüler etwas vormachen, den Klassengenossen nicht. Dieses Ausgeliefertsein eines jeden an den andern, dazu noch der gemeinsame lustig ernste Abwehrkampf gegen die nicht immer gerechtfertigten Ansprüche der Lehrer, vor allem aber das gemeinsame Erlebnis der Jugend, dieser herrlichen Gabe der Natur, dieses äußeren und innerern schnellen Wachstums mit all seinen Überraschungen, seinen Ahnungen, Wünschen und Hoffnungen, das alles mag erklären, warum eine solche Schulklasse noch weit über den Augenblick ihres Auseinandergehens nach bestandener Prüfung seelisch zusammenhält.

 

Dass aber sogar diese chaotischen, alles durcheinanderwirbelnden 25 Jahre Euch nicht haben seelisch auseinanderreißen können, das zeigt doch, dass in Eurer Klasse ein ganz besonders guter und starker Geist des Zusammenhaltens während Eurer Schulzeit gelebt hat, der umso mehr Staunen erweckt, als Ihr Schüler einer Großstadtschule wart.Schon damals habe ich mit Freude bemerkt, wie jeder Neueintretende von dem Familiengeist der Klasse sofort angesteckt und in Eure Gemeinschaft hineingezogen wurde. Und trotz der Größe der Klasse gab es in ihr keine Cliquen oder sogar Parteien, wenn auch der eine oder der andere sich ein wenig entfernter hielt.

 

Ihr dürft es als ein großes Glück betrachten, dass diese 25 Jahre nur verhältnismäßig wenige aus Eurer Gemeinschaft gerissen haben. Unter ihnen ist aber einer, der vor seinem Ende unter der Erbarmungslosigkeit der politischen und nationalen Verirrung noch schwer hat leiden müssen. Wir gedenken der Dahingeschiedenen in kameradschaftlicher Verbundenheit und wir grüßen diejenigen, die heute nicht mit uns sein können, besonders die beiden in einem fernen Erdteil.

 

Für mich selbst ist es eine wirkliche Ehre, dass Ihr mich an diesem Wiedersehensfest teilnehmen lasst. Vor kurzer Zeit bin ich, da ich die Altersgrenze erreicht habe, aus meinem Beruf geschieden. So ist mir dieser Tag ein schöner, feierlicher Abschluss meiner Lebensarbeit als Lehrer und Erzieher. Ich freue mich, dass gerade Eure Klasse, die ich am längsten von allen Klassen, die ich unterrichtet, als Ordinarius betreut habe, an die ich mich, noch unbehindert durch Verwaltungsgeschäfte, unterrichtlich habe verschwenden können, mit der mich meine Erinnerungen an das Hufengymnasium so unlöslich verbinden, mir diese Stunde geschenkt hat. Ich bin Euch von Herzen dankbar.

 

Diese Stunde gibt mir aber auch ein seltsames Erlebnis, wie es nur wenigen Lehrern zuteilwerden wird. In all den 25 Jahren habe ich Euer Bild in mir getragen, wie Ihr zur Zeit Eurer Reifeprüfung wart, wie ich es in den Charakteristiken, die ich Euch damals in die Hand gegeben, geformt hatte. Nun sehe ich Euch wieder, manche von Euch zum ersten Mal nach 25 Jahren, da ja bei der zehnjährigen Wiedersehensfeier Eurer Reifeprüfung 1937 bei Kempka nicht alle dabei waren und da ja Allenstein, wohin ich gleich nach Eurer Reifeprüfung übergesiedelt war, jenseits der Königsberger Welt lag, und willkürlich vergleiche ich das Bild meiner Erinnerung mit dem, was Ihr heute seid, und forsche, ob Ihr Euch und wie Ihr Euch verändert habt.

 

Es ist zugleich ein Tag der Ernte für mich. Der Beruf eines Lehrers ist der eines Sämanns, eines Propheten und eines Königs zugleich. Eines Königs, weil er sich dem Edelstein, was ein Volk besitzt, der Jugend, widmen darf, eines Propheten, weil er von dem künden darf, was den Menschen über sein rein tierisches Dasein hinaushebt, von Wissenschaft, Kunst, Religion, eines Sämanns, weil er Keime ausstreut in der Hoffnung auf eine gute Ernte. Dankbar kann ich feststellen, dass diese Ernte gut geraten ist. Es ist niemand unter Euch, der sich von der Gewalt des Schicksals hat zermalmen oder auf Abwege hat drängen lassen.

 

Aber nicht nur dankbar bin ich heute. Ich will Euch nicht verschweigen, dass ich heute in einer ganz seltsamen Stimmung bin. Als Lehrer vor einer Schulklasse kommt man sich groß und mächtig vor, will man doch seine Schüler erziehen, d. h. zu sich heraufziehen, so meint man. Heute erscheine ich mir klein. Aus den Unterhaltungen sehe ich, wie sich die einzelnen ein tüchtiges Fachwissen erworben haben, das mir verschlossen ist, ja, einige sind in ihrem Fach führend geworden, während ich mit meinem Wissen, das ich jahraus, jahrein meinen Schülern zu vermitteln gesucht habe, mag ich es auch erweitert und vertieft haben, in engen Grenzen geblieben bin. Und so seid Ihr mir weit über den Kopf gewachsen, und ich muss mich trösten mit der Erkenntnis, dass dies das Gesetz des Lebens, dass es der Lauf der Welt ist. So, empfinde ich heute besonders stark den Grundcharakter allen Lebens, das ein ewiges Werden und Vergehen ist.

 

Aber solche Erlebnisse wie der heutige Abend zeigen auch, dass es etwas gibt, was über alle Veränderungen triumphieren kann. Das ist der Geist der Treue und das ist der Wille das Schicksal zu überwinden. Wir haben die Heimat verloren und werden sie nur, wenn das Schicksal uns unerwartet günstig sein sollte, wiedergewinnen Aber dann wird es nicht mehr unsere alte Heimat sein. Ein neues Geschlecht wird unsern ostpreußischen Boden erst in schwerer Arbeit zu seiner Heimat machen müssen. Aber die Kameradschaft aller ostpreußischen Landsleute, in all dem, was uns alle verbindet, in der Erinnerung an unser landschaftlich so wunderherrliches Ostpreußen, mit seinen weiten Äckern, seinen Wiesen, Wäldern und Seen, seinem hellen Meeresstrand und seinen einzigartigen Nehrungen, seinen Dörfern, Gutshöfen und Städten, seinen Trutzburgen und seiner geistig so bedeutenden Hauptstadt, in dem berechtigten Stolz, den uns der Gedanke an die Bedeutung gibt, die Ostpreußen für das ganze deutsche Volk und seine Geschichte gehabt hat.

 

Und dies ist der Sinn unseres Zusammenseins nach 25 schicksalsvollen Jahren, dass wir durch diese Erneuerung und Verjüngung all der Erinnerungs- und Herzensbande zwischen uns in uns den Willen stärken, zusammenzuhalten, das Schicksal nicht Herr über uns werden zu lassen, und uns innerlich erheben zu der Erkenntnis, die alte Heimat ist nicht tot, sie lebt in uns, solange wir zusammenhalten. Und wenn Ihr nach Hause zu Euern Frauen und Kindern zurückkehrt, so grüßt sie und erzählt ihnen, wie schmerzlich und doch auch tröstlich es ist zu wissen, dass man die Heimat in sich trägt und dass Eure Kinder die heilige Pflicht haben, dieses Bewusstsein als Erbe von Euch zu übernehmen und dieses Erbe sorgsam zu pflegen.

 

Dass wir diese Stunde eines so ergreifenden und besinnlichen Wiedersehens erleben dürfen, verdanken wir vor allem unserm Wolfgang Schmidt und seiner lieben Frau. Darum gebührt ihnen unser von ganzem Herzen kommender Dank.

 

Ich erhebe mein Glas und trinke auf unsere wundervolle, geliebte, ostpreußische Heimat, auf unser altes, liebes Königsberg, auf unser stolzes Hufengymnasium, auf seine alte Schüler- und Lehrerschaft und auf einen weiteren echt kameradschaftlichen Zusammenhalt, der dauern möge, bis der letzte von uns ins Grab sinkt.

 

 

Ehemalige Lehrer und Schüler des Hufengymnasiums in Königsberg/Preußen.

Wer hat Interesse an einer Zusammenkunft gelegentlich der 700-Jahr-Feier der Stadt Königsberg in Duisburg Pfingsten 1955? Anschriften bis 01.12.1954 erbeten an Oberstudienrat Dr. Peschties, Soest/Westf. Brüderstraße 37.

 

 

Seite 10   Königsberg - ein Fremdwort

Stuttgart. — Heftig kritisierte Vertriebenenminister Fiedler von Baden-Württemberg, dass die Anordnung des Kultusministeriums seiner Regierung über die Behandlung der deutschen Ostgebiete im Schulunterricht so gut wie gar nicht befolgt werde. Fiedler erklärte, es sei eine Schande, dass viele Schüler nicht einmal wüssten, wo Breslau und Königsberg liegen. Laut Anordnung des Kultusministeriums von Baden-Württemberg sollen die deutschen Ostgebiete im Schulunterricht in gleicher Weise behandelt werden wie die Länder der Bundesrepublik.

 

An die Bundesregierung sowie die Regierungen der westdeutschen Länder bzw. Westberlins wandte sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung mit einem Aufruf, die Erinnerung an das Geistesleben der deutschen Ostgebiete in der westdeutschen Bevölkerung wach zu halten. Die Akademie schlägt vor, dass die deutschen Hochschulen sich um eine Erhaltung der Mundarten des deutschen Ostens bemühen sollen.

 

 

Seite 10   Erich Przybyllok gestorben. Ein Nachruf Wilhelm Filchners für den großen Astronomen

In Köln starb kürzlich Erich Przybyllok, langjähriger Leiter der Königsberger Universitätssternwarte. Der Forschungsreisende Wilhelm Filchner widmet dem Gelehrten und Freund diesen Nachruf.

 

Ein Mann, der zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt war, dort bestellt war, wo der Dienst an der Wissenschaft am ehesten zur Ehrfurcht vor der Schöpfung zwingt, hat die Augen für immer geschlossen. Erich Przybyllok ist nach einem erfüllten Leben in Köln verschieden. Wenn sein Name mit einer Stadt rühmlich vor anderen verbunden ist, dann ist Königsberg zu nennen. Jahrzehntelang hat er als ordentlicher Professor an der Universität und als Leiter der Universitätssternwarte in der traditionsreichen Ostpreußenstadt eine ungemein fleißige, gewissenhafte Breiten- und Tiefenarbeit in Lehre und Forschung geleistet, Unterbrochen wurde dieser Auftrag durch Kriegsdienst, den er in der Marine auf besonders verantwortungsvollem Posten versah. Nach dem Fall von Königsberg flüchtete Przybyllok mit seiner Frau nach Travemünde, um später nach Köln überzusiedeln. In Köln erlebte er noch die Freude und Genugtuung der Berufung auf den Lehrstuhl für Astronomie, aber noch vor der ersten Vorlesung fällte den Rastlosen ein Schlaganfall, von dem er sich nicht erholte.

 

Przybyllok hinterlässt zwei Schwestern und zwei Söhne. Der eine Sohn ist Schauspieler in Wiesbaden, der andere Tierarzt in den USA. Mit den Verwandten habe ich die meiste Ursache, den Tod des Gelehrten zu beklagen; denn ich bin mit ihm ein volles Menschenalter lang in gemeinsamer, fruchtbarer Arbeit und enger Freundschaft verbunden gewesen. Meine erste Begegnung mit Przybyllok liegt fast 50 Jahre zurück. Ich lernte ihn im Astrophysikalischen Institut in Potsdam kennen. Ihm verdanke ich neben Prof. Venske die Kenntnisse und Erkenntnisse und vor allem die sorgfältige Schulung in der Praxis der astronomischen Ortsbestimmungen, die mich befähigten, auf allen meinen Forschungsreisen die gesteckten Ziele zu erreichen und die Aufgaben zu lösen. Przybyllok hat das gesamte Material von astronomischen Messungen und Höhenmessungen, das ich in China und Tibet gewonnen habe, bearbeitet. Bis in sein letztes Lebensjahr hat er mit mir zusammen an einem Fachwerk gefeilt, das in Kürze erscheinen wird. Er ist mit mir in Spitzbergen und in der Antarktis gewesen, hat dort als mein unermüdlicher Mitarbeiter ergiebigste Forschung betrieben und mir darüber hinaus in schwerster Zeit als Freund und Berater unverbrüchlich Treue gehalten.

 

Dies alles will mit dem vollen Gewicht der Worte bedeuten, dass mir ein unersetzlicher Kamerad vorausgegangen ist. Dass Deutschland in Erich Przybyllok einen hervorragenden Wissenschaftler und einen seiner treuesten Söhne verloren hat, darf ich als sein dankbarer Weggefährte der Öffentlichkeit zur Kenntnis geben.

 

 

Seite 10   Landsleute bitte herhören!

Landsmann Kurt R. Axnick (24a) Lübeck, Meierstraße 24a, sucht dringend folgende Königsberger:

 

1. Kirchenrendant der Haberberger Kirche F. Jußke (Hasselstraße 5);

 

2. Standesbeamter Otto Schiemann;

 

3. Justizinspektor From;

 

4. Hermann Neumann;

 

5. Obergerichtsvollzieher Tetzlaff;

 

6. Standesbeamter Frischmann;

 

7. Lehrer Oberüber;

 

8.     Gend.-Wachtmeister i. R. Ruchatz und

 

9.     Stadtinspektor Sprötter.

 

Berichte über die Vorgenannten bitten wir direkt an den Suchenden zu senden.

 

Wir danken für die Berichterstattung im letzten Monat folgenden Landsleuten:

 

Erwin Langholz,

 

Gertrud Möll,

 

Kurt Ruschke,

 

E. Engelsohn.

 

Wir suchen und wer berichtet:

Oberbaurat Dr. Neufer,

 

Stenotypistin Hildegard Neuffer,

 

Konrektor Hugo Neumann,

 

Tierarzt Theodor Neumann (Koggenstr.),

 

Spark.-Angest, Norkeweit,

 

Maria Neumann geb. Schwarz und Sohn Ulrich,

 

Michel Naujoks (Lager Pr. Eylau),

 

Rev.-Gärtner Naujoks,

 

Gartenbauoberinspektor Gustav Naumann,

 

St.-Inspektor Hans Novakowsky,

 

Gartenmeister Erich Neuendorf (Gem.Friedhof),

 

St.-O.-Sekretärin Hedwig Olivier,

 

Elektr. Gustav Oschließer (Hafen),

 

Spark.-Hauptrendant i. R. Preuß.

 

Angestellte Pöschel,

 

Steuervollz.Sekr. Waldemar Promp,

 

Eduard Philipp (St.A. 92),

 

Hubertus Parschat (Spark. Viehmarkt),

 

H. Powels (St.A. 49),

 

Stenotypistin Martha Pyrczewski,

 

Dienststellenleiter der Obdachpolizei Petter,

 

Lehrer Horst Poschwalla.

 

Bauaufseher Pflug,

 

St.-Insp. Penkwitt,

 

Arbeiter Ernst Packheiser (Gasanstalt),

 

Arbeiter Putzer (Hafen).

 

rbeiter Paulusch (Hafen),

 

St.-Insp. Petersdorf,

 

Angest. Rudolf Prengel,

 

Eva Paetsch (Sparkasse),

 

St.-O.-Insp. Ernst Preuß (Stadtkämmerei),

 

Mittelschullehrer Maximilian Petrat,

 

Rektor Karl Podufal (Lisztschule).

 

Anträge auf Dienstbescheinigungen werden immer wieder an uns gerichtet. Ohne Personalakten, die angeblich verlorengegangen sind, können wir leider keinem Arbeitskameraden helfen. Es ist daher ratsam, dass der betreffende Arbeitskamerad sich zunächst an seinen damaligen Vorgesetzten (Stadtamtsleiter) wendet. In den Anträgen müssen genaue Angaben (Vor- und Zuname, geboren, Ort. Dienstgrad, Eintrittsdatum, Besoldungsdienstalter, monatliches Bruttoeinkommen. Versetzungs- und Beförderungsdaten usw.) gemacht werden. Es genügt nicht zu schreiben: „Ich bitte um sofortige Übersendung einer Dienstbescheinigung“. Damit kann der Kollege, der die Bescheinigung unter Eides statt abgibt, nichts anfangen.

 

Dass genügend Rückporto beizufügen ist, braucht wohl nicht immer wieder erwähnt werden.

 

Auf Grund der hier vorliegenden Anträge wird auf folgendes hingewiesen: Wer sein Aufrechnungsbuch zur Invalidenversicherung nicht mehr besitzt, wende sich sofort an das zuständige Versicherungsamt seines jetzigen Wohnsitzes. Aber nicht erst warten, bis diese wichtige Unterlage bei einem eventuellen Rentenantrag verlangt wird.

 

Anschriftensammelstelle der Königsberger Magistratsbeamten, -angestellten und -arbeiten (16) Biedenkopf, Hospitalstraße 1.

 

 

Seite 10   Dem Stadtgymnasium Altstadt-Kneiphof zum 650. Geburtstag

In den Versen, die Dr. Otto Losch in der September-Ausgabe dem Stadtgymnasium widmete, muss es in der 2. Strophe, Zeile 2 richtig heißen: „Weil deine äußere Hülle jäh vernichtet, …“

 

 

Seite 12   E Good Handel / Von Wanda Wendland

Eener mußd all ganz froh söck de Plieres ute Ooges wösche un ute Pose kruupe, wenn he eppe Laobjausch Jaohrmarkt trecht kaome wull un e wied Wedi had, wi de ohl Muleit, denn de Laobjausch Jaohrmarkt fung all an, wenn de Haohns noch sömmeleerde, ob se ook all tom drödde Maol kreeje sulle — wenijstens de Haohns wieder önne Stadt rön, denn de Haohns rund ömme Markt un anne Schossee lang, de weere jao rein all von halwe Nacht munter un karjuhlde röm, weil se kein Rauh nich kreeje von all dem Jeklapper un Jerementer, weil von alle Siedes de Waoges anjeklappert keme und dat op dem scheene Kattekoppflaster bullerd doller, als wenn de Oss ohne Emmer schitt! Na un annem Damm dicht bi, dao leej een Kiedelkaohn annem andre, gao nich to rede von alle Kaohnkes, wo all lang vär Dau un Dag dao anjelejjd hadde on ömmer eener värem andre sien Waore uutschreej un anpraohld, scheene Kuulbeersch un Stint un Zippeis und Möhre un Majeraon un wat de leewe Gottke sonst noch alles had wasse un groot wäre laote!

 

Na ons Muleit, de hadd söck von sien Ohl de Provjant önne Löschke packe laote un söck dem ömjehängt un denn dem Kalw ute Stall jeschichert: „Warscht kaome, Du Lorbaß! un hadd dem Ströck söck ömme Aorm jewöckelt un weer losmascheert all lang värem erschte Haohnekreeje. —

 

Häw Ju all eener maol e Jährling so twee oder dree Stunde lang oppe Damm lang oppe Jaohrmarkt jelett? — Eck kann Ju segge, dat ös wörklich nich e rein un puur Vajneege nich an eenem kann Tied un Wiel lang wäre daobi, wenn eener ömmer porre mott: „Na warscht nu kaome! — Na nu komm doch, Du Laudon!“ on mott annem Ströck riete un zerre, dat dat önne Aorms zinkert un eenem foorts rein de Ooges traohne! Denn de Jährling de hadd jao nu ook noch nich uutjeschlaope un dammelt nu so röm un torkelt wi e Besaopner hen un her, dat de ohl Muleit noch ömma vonne Sied stiere mußd, dat de nich noch önne Graowes rönscheiwelt. Dao kann söck eener denke, dat dat dem ohle Muleit good to Paß keem, wi he annem letzt Huus ran keem, wo all ganz wied aw vonne Derp leej, un heere kunn, wi dao de ohl Windeit möt Koose un Puscheie sien ohl Zäj ute Stall rutbugseert. Wi de nu anne Damm rankeem un dem Muleit ansöchtig wurd, bejreeßt he dem ook jliek: „Wöllkamm! Naower! — Geihst ook oppe Markt? Na dat paßt söck aower good, dat ös mi lewer als e Mutzkopp! Denn wat mien ohl Zäj ös, de häwt so äre Mucke un je öller se ward, je doller kaome de tom Värschien! Dröm wöll eck ehr jao ook verköpe, awjemolke ös se ook un bold nich mehr als ehr Ledder weert — an der ös bold nuscht nich mehr to valeere un eck war ehr man losschlaone für jedem Pries. Denn eck säd all, se häwt so ähre Mucke un wenn ehr de ankaome, denn krejst ehr nich ute Stell, denn kannst Di rein de Aorms untriete! Dröm ook bön eck bloßig froh, dat eck Di jetroffe häw! Dao könn wi ons nu ömma ömzechsch helpe! — Aower wat Du dao fär e staotsch Kalw hast —de ös jao schier wi jung Holt — dao ös jao doch kein Spierke nich to taodle! — Na, de ward Di jao e scheen Stöck Jöld bringe!“

 

„Dat mott he mi ook!“ säd nu de ohl Muleit. „Under e good Pries geit mi de nich wech! — Weest nich wehr, Naower, wat mi de Koh krank wurd, wi se dissem Kalw jekalwt hadd - dat weer mi doch e groot Schaode, wat se weender Melk jeew, un wat weer mi dat erseht fär e groot Schaode jewese, wenn se krepiert weer! Dat mot mi doch de Kalw wedder önbringe! — Un wat meenst, wat dat fär e Osserie ös möt dem Krät nu oppe Markt to ledde: kläwt all de Hemd anne Puckel un de Tung anne Himmel un wat war eck dao fär Buddels bruuke, dat eck mi wedder terkaower — un dat mott mi doch de Krät önbringe! Nä, nä, under Pries geiht mi de nich wech!“

 

Na nu formeerde se söck denn so, dat de ohl Muleit möt sienew Kalw värgaohne sull, denn sien Zäj wull bäter pariere, säd de Windeit, wenn eener värjing, he sölwest brook söck e Astke vonne Kroppwied un wull hinde nahpitsche. Wi nu de Kalw dao ehr ömma väre Näs schweiweld, dae kreej doch de ohl Zej ehre Mucke, se nehm e kort Anloop un staokert möt ehr lang Hörners dem Kalw mangke Hinderbeene, dat de bi sienem däsige Römdammele söck rein oppe Dod verschrock un heidiii! ziehdraht! lostoog wi die Diewel motten Dr. Faust. Weil doch de ohl Muleit söck dem Ströck ömme Aorm jewöckelt hadd, wurd he nu mötjeräte un mußd annem Kalw sien Sied ömma höpse wi e Popp, dat he man bloß de Balangz nich valor. Un hinde staokert de ohl Zäj un de Kalw galoppd, wat sien Pust bloß herjeew un de ohl Muleit had ömme Aorm dem Ströck un önne ander Hand dem Zaogel vonnem Kalw un maokd Höpsersch, als wenn he bi e Höpsflöj önne School jegange weer. So jing dat de ganze twe Miles bat naoh Laobjau hen, bat anne Schossee ran, wo graod e Waoge motte Koppscheller langklapperd un dem Galopp stoppd. De Man hadd jao nu wenigstens e önsehne un lood dem ohle Muleit oppe Waoge, weil de nich mehr japse un nich Him un Ham sejje kunn. Nu weer de ohl Muleit so rasch oppe Markt wi noch in sienem ganze Läwe nich un he mußde nu noch länger als e ganz Stund de ohl Zej heede, bät de Windleit ön alle Jemietlichkeit nachspazeerd keem.

 

Oppe Markt dao weer dat all e Jequirbel rein wi oppe Heemskehompel un e Jeschacher un Jekadreier un de Jänsrompe plapperde oppe Steener un de Kobbels neihde un de Keej bröllde un de Farkels guiekde un enner kunn sien eege Word nich vastaohne. Un denn duurd dat ook nich lang un eener keem un fraogd, wat de Zäj koste sull un weil de ohl Windeit ehr jestriejelt hadd un jewienert we e Bruut väre Hochtied un ehre Mucke ehr von buute nich antosehne weere, denn wurde se ook rasch handelseenig und de Windeit  toog sienem leiwedse Jöldbiedel un sackd dat scheene Jöld ön. „Naower“, säd he denn, „eck si nu praot un kunn fär mienswege bold wedder to Huus. Eck war nu noch önkeepe gaohne un mi denn önne Krooj anne Damm hucke un Kleenmöddag hoole, komm man ook bold!“ Aower dat wurd sachtkes Möddag un de Muleit stund noch ömma möt sienem Kalw, nicht dat keiner naoh em jefraojegt hadd: Det Kalw weer wörklich e rein Staot un spöckd Manchem önne Ooges, aower wenn so denn fraogde un te handle anhinge un de ohl Muleit denn bloß ömma de Ohre schlackerd: „Nä, nä — de Kalw mott sien Jöld bringe — under Pries geiht mi de nich wech!“ denn jinge de Keepersch wech un tuckde motte Schullres. Denn kem ook noch die Windeit: „Na Naower, Du steihst jao ömmer noch hier un önne Dammkrooj jöwt dat so e scheen kolt Brunbeer! Ook Jelegenheit häw eck jefunde möttofaohre bät wo ons Damm awkriezt — Adje solang, eck war dot op Di wachte!“ — Alle Waoges weere all wech un de Straoßefegersch keeme all möt ehre lange Bessems, dao wöckeld söck de ohl Muleit wedder dem

Ströck ömme Aerm un toog möt sienem Jährling längße Schossee. Dat weer aower e suur Stöck Aorbeit, denn wat de Kalw oppe Henwech to veel jerennd had, dat rennd he nu to wenig un von dem lange Staohne oppe Markt weer he ganz molsch jeworde — na un dem ohle Muleit jing dat ackraod so, alle Knaokes dede em weh un sien Aorms feeld he gaonich mehr. So keeme se denn anjeschläkle bat anne Kroppwied, wo de Windeit önne Schatte önne Gras huckd un von sien letzd Buddel Beer graods dem letzde Schluck verdröcke un söck dem Schuum ute Schnorrbaort wöschd: „Nu häw eck nuscht mehr fär Di, Naower, aower Du hast mi ook so lange wachte laote! Nu wöll wi man maok, dat wi väran kaome, eck war mi man e Astke awbräke un e böske naohpitsche - Dat weer mi aower hiede e Handel, wo ech noch lang dran denke war: So e scheen Stöck Jeld fär mien awjemolke ohl Zäj! Jo, jo, eener mott dat Handle vastaohne! Dat ös e fein Konst un Jeder kann dat nich!“

 

Daomöt had he e lang Ast awjeschneede un staokert dem Kalw mangke Hackes. De docht woll, de ohl Zäj weer wedder hinder em un he verschichert sök so doll, dat he met e groot Satz nach e Sied sprung un önne Graowe langd — rietz! leej ook de ohl Muleit önne Modder un kreej motte Hand e groot Pogg jegrawwelt, wi he e Hoolt söke wull. Na, so langsam rappeld he söck denn sachtkes wedder önne Höcht, aower dem Pogg heel he ömma noch mangke Fingersch. „Weest, Naower, Du kannst noch e bäter Handel maoke als mit Dien ohl Zäj. — Du kannst mienem feine Jährling krieje, un bruukst nuscht wieder als dissem Poog runder to schlucke!“ — „Wat — jeschenke? — Dienern Kalw sull eck jeschonke krieje?“ — „Jao, wenn Du dissem Pogg verschluckst! — Na dem Windeit, dem quulle jao foorts rein de Ooges ruut, wie he dem staotsche Jährling nu noch maol betrachd, un he fung an te gnautsche un to wärje nu to schlucke, aower so väle he ook gnautschd und wärjd, mehr als dem halwe Poog kun he nich runder krieje dao scheddert em dat wi möt Schedderfewer. „Na Naower, de Pogg schmeckt Di woll nich good?“ — Most Du Di vleicht äweerjäwe? Denn ward de Handel aower riggjängig!“

 

De ohl Muleit huckd kneckschäwig oppe Graowebord un leet siene ohle Knaokes söck verrauhe wildeß he söck begnidderd, wi jrön un jähl de lewe Naower utsöch. „Aower nä, Naower“ wärjd de nu rut, „so schlecht schmeckt de Pogg gaonich — ma bloßich e böske onjewennt ös dis Spies man doch — weest! Eck mott mi e böske Tied laote — dat mien Maoge söck gewennt, weetst!“ Nu had he dat nich mehr hill un se huckde oppe Graowebord, bat nu de ohl Muleit to porre fung: „Na, nu mott wie man gaohne, Naower, Sonst bediestre wi amend noch! — Aower dem Kalw, dem moßt Du nu ledde, denn de jeheert Di jao nu oppe Hälwt und eck häck em hen jeledd! Dat geiht denn nu sachtkes Schröttke vär Schröttke, denn alle Dree sön se nu awmaracht un de Windeit mott alle paor Schrött staohne bliewe, weil in sienem Buuk dem Pogg vleicht de Brunbeer nich bekömt. — He häwt noch ömma dem halwe Pogg önne Hand, wie sien Hüsing all ön Söcht körnt, on önne ander Hand häwt he dem Kalw „Naower“, he blöwt staohne un de ohl Muleit drelld söck öm, „Naower, oppe Hälwt jeheert mi nu de Kalw?“ — „Jao, aower Du moßt ook noch dem ander Hälwt runderschlucke!“ — „Naower, eck schenk Di mein Hälft vonnem Kalw, wenn Du dissem Hälft vonnem Pogg runderschluckst!“ Dem ohle Muleit ös all lang sien Handel leed jeworde, all lang ös sien Arjer äwer dem lewe Naower verrookt on he arjert söck rein dammlich äwer sien Dommheit, sinem scheene Kalw op so e Aort, wejen so Buntenuschte to vaspäle u nto vabottre. He grapschd nu dem halwe Pogg, stopp dem önne Muul un schluckd un wärgd, dat söck em de Ooges vadrelle, dann packd he dem Ströck vonnem Kalw un zerr dem möt Jewalt, dat de Windeit lange Beene macke mußd. An sein Hoffstell krej he dem Ärmel vom ohle Muleit to packe: „Na adje ook, Naower! On – weetst Du vleicht, towat wi eejentlich dem Pogg opjefreete haebbe?“ ---

 

 

Seite 12   Saftje Spaoßkes

Es ist Begräbnis im Dorf und das ganze Dorf versammelt, denn es sind zwei Begräbnisse und dazu von Bauern und dieses ein besonderer Fall. Die beiden Nachbarn Leid und Kempfer waren mit einem Einspännerschlitten zu Besorgungen in der Kreisstadt gewesen. Dort hatten sie wie es sich so trifft, Freunde und Bekannte getroffen und sich nach Erledigung aller Besorgungen noch in dem Gaststübchen zu einem Plausch zusammengesetzt, zu einem kleinen Skat und zu manchem Grogchen — natürlich! denn so jung kommen wir nicht wieder zusammen! Und warum sollte man dieses gemütliche Plauschstündchen denn auch so früh abbrechen? Dunkel war es draußen ohnehin an einem so kurzen ostpreußischen Wintertag, und kalt auch und nun hatte auch noch bei kleinem ein leichter Schneesturm angefangen, also kam man immer noch früh genug hinaus in die Unwirtlichkeit. Und drinnen war es so mollig und gemütlich, die Scheite knackten im Ofen und der Feuerschein tanzte auf der dunklen Täfelung. Der Wasserkessel summte und der heiße Grog von Rotwein und Rum, immer abwechselnd, rannte so wohlig hinunter und wärmte einen so recht behaglich von innen her — immer wieder, denn so jung kommen wir ja nicht mehr zusammen! Und schließlich war es denn doch wirklich recht spät geworden oder auch recht früh, wie man's nimmt, als sich unsre guten Nachbarn in den Schlitten wälzten und in die dunkle Nacht hinausfuhren. Von da ab wusste natürlich niemand genau, was geschehen war, jedenfalls stand am frühen Morgen die junge Stute zitternd vor der Stalltür, mit zerrissenen Strängen und Geschirr, und als man denn zum Suchen aufbrach, fand man an einem Chausseebaum den umgestürzten Schlitten ziemlich ramponiert, und dann ein Stück weiter, natürlich grad an der gefährlichen Stelle, wo die Chaussee hoch aufgeschüttet über einen Bachgrund führte und dazu noch blankgefegt mit verharschten Schneehumpeln war, beide kopfüber in den Grund hinabgestürzt, noch im Tode treulich vereint. Nun also wurden sie begraben und wie es sich für einen solchen besonderen Fall oder Unfall von zwei so angesehenen Bauern gehörte, war es ein Riesenbegräbnis und der Pastor, ein junger und neu hergekommener, legt sich mächtig ins Zeug und redet mit Eifer und Feuer und versteigt sich schließlich zu dem schwungvollen Schluss: „Kempfer, Du hast ausgekämpft — Leid, Du hast ausgelitten!“ — In der ergriffenen Stille, die darauf folgt, ist deutlich vernehmbar, wie der alte Bauer Schieß seiner Frau zuflüstert: „Mien Liekereed könn Ju von dem Mann aower nich haole laote!“

 

 

Seite 12   Schichau baute Deutschlands größte Flussfähre

In den letzten Augusttagen wurde an der Geeste, kurz vor der Einmündung in die Weser, Deutschlands größte Flussfähre von der aus Elbing und Danzig nach hier vertriebenen Schichau-Werft auf den Namen „Bremerhaven“ getauft. Die Taufe nahm die jüngste Tochter des Oberbürgermeisters vor. Oberbürgermeister Gullasch nannte die Fähre ein Wunderwerk, zu dem Konstrukteure, Techniker und Arbeiter gleichermaßen beigetragen hätten.

 

 

Seite 12   Landbriefträger Ernst Trostmann erzählt

(15)

Liebe ostpreißische Landsleite!

Ich hab gesiegt, aber fragen Se nich, wie! Wenn ich das voraus gewußt hädd, was der Pochel mir fier Sperenzchens machen wird, denn hädd ich mir lieberst dem großen Zeh abgehackt wie dem Pochel gekauft. Aber einer scheint ja diräkt fieres Unglick geboren zu sein, fier de andere Mennschen is Schwein und Glick dasselbe, firem armen Trostmann is es das Gegenteil. Nun muss ich Ihnen das aber alles hibsch inne Reih erzählen, denn werden Se selbst sehen, wie es einem armen Rentner gehen kann, wenn er auch mal „Schwein“ haben will. Erst hädd ich Tag und Nacht keine Ruh wegen das Geld, dass de Emma es nich womeeglich fand. Ich hädd es ja gut verklaut, aber einer kann niemals nich wissen, ob de Altsche nich dahinter kommt. Deshalb war es mir nirgens nich sicher genug, und ich suche mir jedem Tag e andres Versteck auf. Einmal inne alte Hos, dann wieder im linken Gummistiefel und innes Ofenrohr, so ging das hin und her, bis ich es in meinem Strohsack stoppd und dachd, da is es nu wirklich ganz sicher. Aber der Trostmann denkt … Jedenfalls ging ich nu ran de Bucht bauen. Ich hädd mir e paar Bretter und Nagels besorgt, und es dauerd auch gar nich lang, da hädd ich mir all zweimal mittem Hammer aufem Daumen gekloppd, dass er doppelt breit wurd und sich blaurot verfärbd wie dem Peischan seine Tuntel, wo denn de Schuljungens zu Haus immer singen taten: „Wir brauchen kein Sonnche, kein Mond und kein Stern, dem Peischan seine Nas is de beste Latern!“ Sehn Se, so war es, und ich suckeld nu an meinem armen Daumen und hoppsd rum wie bei de Polka aufem Schrumm und wolld geradzig das fimfte Mal au schreien. Aber ich kam bloß bis a, das u blieb mir all mitten inne Gurgel stecken wie e zu groß geratener Keuche, denn mit eins stand de Emma vor mir und schwenkd siegesbewusst drei leicht zersplieserte Fuffzigmarkscheine. Ich mein, da kann einem doch noch ganz was andres im Hals stecken bleiben! Ja, se hädd gesucht und gefunden, und nu stand ich da wie e Patscheimer neben es Klawiehr! Was nu machen? Mit Gewalt oder List war da nuscht zu erreichen, deshalb legd ich mir aufs Verhandeln, und nach viel Gequackel hin und her kriegd de Emma ihrem Wintermantel und ich meinem Pochel. Dass das Geld nu aber auch fier beides reicht, muss sie e billigerem Mantel nehmen und ich e kleineres Schweinche. So haben wir sich denn geeinigt, und ich bin heilfroh, dass ich geradzig beim Schreien war und nich beim Hämmern, wie de Emma kam. Sonst hädd ich mir bestimmt vor Schreck das dritte Mal aufem Daumen gekloppt, und denn hädd ich ihm vleicht gar nich wiedererkannt, weil er wie e Silzkotlett ausgesehen hädd. Aber das war nu man erst der Anfang von das bürgerliche Trauerspiel, das dicke End kam nach. Dem andern Nachmittag so gegen Uhre fimf fuhr ich mittem Bauerochse dem Pochel kaufen. Er wog 52 Pfund — wahrscheinlich hädd er gegerade gut gefriehstickt — und kosd 70 Gulden. Er quiekd wie am Spieß, aber wir stoppden ihm im Sack rein, wo wir mitgebracht hädden, und fuhren wieder zu Haus. Bis aufem Hof ging alles gut, aber wie er inne Bucht reinsolid, da passierd das große Unglick. Wahrscheinlich hädd er all unterwegens immer ieberlegt, wie er am besten aus die Bredullje rauskam, und e richtgem Kriegsplan ausgearbeit. Es dauerd e ganze Weil, bis er dem Rissel äußern Sack raussteckd und erst mal rumschniffeld, wo er nu eigentlich war. Ich tat ihm nu gut zureden, und er tat auch so, als wenn er mit sich reden ließ, aber mit eins, wie keiner ihm nuscht Beeses nich zutraud, machd er e ganz gewaltigem Satz, schmiss einem Melkeimer mit fuffzehn Lieter Milch um und entwischd durch em Bauerochse seine O-Beine äußern Hof, wo de Emma Posten stand, Die rannd er ieberm Haufen, dass se rickwärts in eine große Zinkwann reinplumsd, wo bis oben voll Seifenlaug war, und denn war er runter vonnem Hof und foorts wie weggepust! Wir nu aller hinterher, auch de Emma mit ihre nasse Röcke, aber von unserem Pochel war weit und breit nuscht zu sehen. Allmählich wurd es nu auch all e bißche diester, und da mit eins hörden wir ihm quieken. Da war er im Graben in e Drängrohr reingekrochen, wo sonst das Wasser durchläuft, hädd sich festgeklemmt und konnd nu nich vor auch nich zurick. Ich hold e Stang und fing an, ihm zu buggern, aber es nitzd nuscht, er huckd wie eingepremsd und riehrd sich nich. Wenn nicht zufällig unser Polizist mit seinem Hund gekommen wär, wo innes Nachbardorf wohnt, denn mechd der Pochel emmend jetzt noch innes Drängrohr sitzen und elendiglich verhungern. Aber nu kam es anders. Der Hund kroch ihm nach und biss ihm im Zagel. Vor Schreck nahm er noch einmal e Anlauf, und rietz, kam er annes andre End rausgeschossen. Aber nu auch wieder so plötzlich, dass keiner ihm halten konnd, weil keiner nich damit gerechent hädd. Jetz fing de wilde Jagd noch emal an, blos dass diesmal kein Melkeimer und keine Emma nich umzuschmeißen waren. Der Pochel rasd durches Dorf, wie ebend blos e wildgewordnes Schwein rasen kann und verschwand in ein Kartoffelfeld. Der Hund hinterher und jagd ihm kreiz und quer, bis dem Pochel de Luft wegblieb und er sich ergeben mißd. Nu lag er lang und jappsd, und ich zitterd um sein Leben, denn er konnd ja von die Angst und von das Rennen e Herzschlag kriegen. „Siehst“, sagd de Emma, „mein Wintermantel rennt nich weg und kriegt auch keinen Herzschlag nich. Aber du musst ja immer deinen Willen haben!“ Dabei hield se das rechte Ohr vonnes Schweinche fest, und ich das linke. Der Polizeihund beschniffeld dem vierbeinigen Verbrecher von alle Seiten, und ich hädd all immer Angst, dass er womeeglich ein Beinche hebt, aber er machd es nich. Der Bauerochse band dem Pochel e Strick um e Hinterbein, und wie er denn allmählich wieder Luft kriegd und sich aufe Fieße stelld, wurd er dreifach gesichert zu Haus geschleppt und getrieben, an ein Hinterbein und an beide Ohren. Das ganze Dorf war natierlich zusammengelaufen wie saure Milch, und jeder gab nu seinem Semf dazu. Als wenn andre Leite nich auch all emal e Pochel ausgebichst is. Aber wer dem Spaten hat, braucht fierem Schutt nich sorgen. Außerdem schimfte de Emma wie e Rohrspatz, weil ihr de nasse Klamotten umme Beine schlugen und se all Angst hädd, dass se sich verkiehlt. Auch der Bauerochse schimfd wegen die umgekippte Milch. Bloß ich war ganz still und dachd: „Wenn wir bloß erst dem Pochel sicher inne Bucht haben!“ Und wie es denn endlich so weit war, kullerd mir e großer Stein vonnes Herzen, dass einer es kilometerweit plumpsen heerd. Nu is der Pochel ganz friedlich, frisst mir de Haare vom Kopp und kickt mir mit seine kleine Schweinsaugen ganz treiherzig an, als wenn er noch niemals nich dem Milcheimer und de Emma umgeschmissen hädd. Aber raus giebt nuscht mehr, das habe ich mir fest vorgenommen denn dem Zirkus will ich nich noch emal erleben. Aber wenn ich bei dem Pochel ausmisten muss denn tut er sich immer an meine Beine schobben, als wenn er dem Ärger, wo er mir bereitet hat, wieder gut machen will. Er is doch e Seele von Tier! Kneifen Sie man dem Daumen, dass er scheen gesund bleibt und nich womeeglich Rotlauf kriegt. Dasselbe wünscht Ihnen mit viele Grieße

Ihr Ernst Trostmann, Landbriefträger z. A.

 

 

Seite 13   Eltern suchen ihre Kinder

Tausende ostpreußische Eltern und Angehörige suchen noch immer ihre Kinder, die seit der Vertreibung aus der Heimat verschollen sind. Wer Auskunft geben kann, schreibe bitte sofort an den Kindersuchdienst Hamburg-Osdorf, Blomkamp 51 unter Angabe von Namen, Vornamen, Geburtsdatum und Ort des Kindes sowie die gleichen Angaben der Angehörigen und ihre Heimatanschrift von 1939, Landsleute, helft mit, das Schicksal der Vermissten aufzuklären.

 

Gesucht werden aus:

 

Allbenber bei Wehlau, Mütterheim: Brigitte-Helga Naujoks, geb. 30.10.1944 in Georgenswalde, von ihrer Mutter: Berta Naujoks, geb. 20.10.1909. Das Kind kam am 15.11.1944 ins Mütterheim Allenberg, das eine Zweigstelle des Mütterheimes in Königsberg ist.

 

Bergau, Kreis Samland: Werner Schwarz, geb. 01.02.1933 in Königsberg und Ilselore Schwarz, geb. 30.07.1936 in Prostken, von ihrem Onkel: Fritz Gronau, geb. 17.10.1901

 

Engelstein, Kreis Angerburg: Irmgard Falk, geb. 06.02.1939, von ihrer Mutter: Lisbeth Falk, geb. 01.06.1910. Irmgard Falk befand sich im April 1946 in einem Flüchtlingslager in Dänemark

 

Girnen, Kreis Gumbinnen, bei Franz Zöllner: Heinz Müller, geb. 13.05.1936 in Matzhausen, von seinem Vater: Franz Müller, geb. 26.07.1908

 

Groß-Blaustein, Kreis Rastenburg: Helmut Krupp, geb. im Dezember 1937 und Irma Krupp, geb. im Oktober 1940, von ihrer Tante: Emma Sobietzki, geborene Schwenkner, geb. 07.10.1911

 

Groß-Pöppeln, Kreis Labiau: Margret Falk, geb. 05.06.1943, von Ernst Falk, geb. 18.08.1903

 

Heiligenbeil, Am Sportplatz 14a: Joachim Woytowitz, geb. 15.07.1938 und Brukhard Kriegsmann, geb. 03.01.1943, von ihrem Vater: Wilhelm Kriegsmann, geb. 08.07.1904

 

Königsberg, Karl-Baer-Straße 1: Karin Matekat, geb. 07.08.1944, von ihrem Großvater: Franz Sachs, geb. 25.04.1877

 

Königsberg, Heidemannstraße 23: Wolfgang Böhm, geb. 14.03.1939, von seiner Mutter: Hertha Bacher, geborene Schmidtke, verwitwete Böhm, geb. 27.06.1913. Das Kind wurde im April 1945 bei einem Schiffsuntergang in der Ostsee gerettet, die Mutter wurde verwundet, kam bewusstlos auf ein Rettungsschiff und wurde dadurch von ihrem Kind getrennt.

 

Königsberg, Monkengasse 8/9: Anita Zimmermann, geb. 1941 von ihrer Tante: Olga Schröder, geborene Zimmermann. Das Kind befand sich im Januar 1945 mit seinen Eltern in Kreutzberg, Ostpreußen

 

Königsberg, Steinmetzstraße bei Frau Kirschning: Dietlinde von Huhn, geb. 08.09.1938/1939, von ihrer Tante: Lotti Huhn

 

Kornau, Kreis Ortelsburg: Christel Kosanke, geb. 25.04.1937, von ihrer Mutter: Marie Kosanke, geborene Leymann, geb. 15.04.1916

 

Liebenfelde, Kreis Labiau: Ursula Schütz, geb. 18.07.1944, von ihrer Mutter: Ida Schütz, geborene Janz, geb. 13.05.1910

 

Moditten, Kreis Samland: Rosemarie Neumann, geb. etwa 1942, von ihrem Bruder: Heinz Neumann, geb. 25.05.1943. Rosemarie Neumann soll nach dem Tode der Mutter noch mit ihren Tanten Herta Neumann, geb. 1914 und Ruth Neumann, geb. 1923, zusammen gewesen sein.

 

Nubertshöfen, Kreis Gerdauen: Herbert Wassel, geb. 30.03.1937, von seinen Eltern: Otto Wassel, geb. 22.07.1910 und Helene Wassel, geborene Staar, geb. 06.11.1912

 

Pillau I, Kreis Samland, lustiges Flick 5: Ilona-Grita Zimmermann, geb. 02.11.1940, von ihrem Großvater: Friedrich Zimmermann, geb. 07.07.1875

 

Plibischken, Kreis Wehlau: Kurt Gerhard Schumann, geb. 13.11.1939, von Gerda Lina Schumann, geb. 11.04.1926. Der Knabe soll im Mai/Juni 1947 mit seiner Mutter in Königsberg gewesen sein.

 

Rosenfelde, Kreis Gumbinnen: Die Geschwister Edeltraut Parakenings, geb. 18.06.1937, Egon Parakenings, geb. 28.02.1939 und Manfred Parakenings, geb. 24.11.1941, von ihrem Vater: Max Parakenings, geb. 20.12.1916

 

Schönwalde bei Kuggen, Kreis Samland: Waltraut Margarete Willuweit, geb. 06.02.1940 in Poggenpfuhl, von ihrer Mutter: Anna Willuweit. Das Kind befand sich zuletzt in Königsberg-Maraunenhof, Wahlenrodstraße, Kinderheim

 

Semgallen, Kreis Angerapp, bei Familie Kieselbach: Brunhilde Pälcke, geb. 1939. Marianne Pälcke, geb. 1943 und Fritz Pälcke, geb. 1935, von ihrer Schwester: Margot Pälcke, geb. 31.05.1934

 

Waldburg, Kreis Ortelsburg: Hildegard Bischoff, geb. 16.10.1938, von Wanda Bischoff. Außerdem wird der Bruder: Helmut Bischoff, geb. 07.12.1932, gesucht

 

Wogau, Kreis Preußisch-Eylau: Erwin Flieger, geb. 06.02.1933 und Helmut Flieger, geb. 16.08.1934, von ihrem Vater: Ludwig Flieger

 

Ackermühle, Kreis Schloßberg: Erwin Reiter, geb. 03.09.1940 und Ursula Reiter, geb. 02.01.1942, von ihrem Vater: Fritz Reiter, geb. 28.01.1909. Die Kinder befanden sich im Januar 1945 in Mörlen, Kreis Osterode

 

Allenstein, Kurfürstendamm 2 – 3: Eleonore Hömpler, geb. 29.12.1939 und Gudrun Hömpler, geb. 09.04.1941, von Fritz Szillies, geb. 02.06.1908.

 

Bajohren, Kreis Memel: Willi Grauduschus, geb. 30.03.1922 und Anna Grauduschus, geb. 24.02.1935 und Anna Grauduschus, geb. 24.02.1935, von ihrem Bruder: Erich Grauduschus, geb. 11.01.1927

 

Bartenstein, Kinderheim: Klaus Bernhardt, geb. 19.05.1935 in Königsberg, von seiner Mutter: Erna Bernhardt, geb. 08.08.1912

 

Birkenhöhe, Kreis Angerburg: Hannelore Meyer, geb. 13.06.1937, von ihrer Schwester: Edith Meyer, geb. 03.01.1936. Hannelore befand sich seit 1947 im Kinderheim in Heilsberg.

 

Gehlenburg, Kreis Johannisburg, Morgenstraße 6: Klaus Skorzinski, geb. 22.04.1943, von seiner Großmutter: Frieda Skorzinski, geborene Buttwill, geb. 18.12,1895

 

Groß-Lindenau, Kreis Samland: Ursula Herrmann, geb. 11.06.1934 in Messow, von Ingeborg Schmidt, geb. 17.10.1923

 

Grudusk, Kreis Zichenau: Hans-Joachim Pastewski, geb. 12.10.1934 in Weißenberg, von seinem Vater: Bruno Pastewski. Hans-Joachim soll bis Mecklenburg gekommen sein.

 

Groß-Pelken, Kreis Tilsit-Ragnit: Gerda Meschkat, geb. 08.04.1937, von ihrer Mutter: Anna Zander, geborene Meschkat, geb. 03.02.1905

 

Königsberg, Jägerstraße 69: Jürgen Gerhardt, geb. 25.08.1936, von seiner Mutter: Frieda Gerhardt, geb. 07.10.1911. Jürgen ist im Juli 1947 in Kaunas, Litauen auf dem Markt gesehen worden. Gleichfalls wird gesucht: Siegfried Gerhardt, geb. 12.05.1932, der zuletzt im KLV-Lager Hohenstein-Ernsttal bei Glauchau, Sachsen untergebracht war.

 

Königsberg, Jerusalemer Straße 39: Liane Will, geb. 01.10.1942, von ihrem Vater: Willi Will, geb. 03.03.1911

 

Kreuzburg, Kreis Preußisch-Eylau, Siedlung 8: Siegfried Brock, geb. 31.12.1939, von seiner Tante: Berta Hinz, geborene Brock, geb. 14.03.1896. Siegfried wurde am 28.02.1945 ins Krankenhaus Kolberg eingeliefert.

 

Mehlsack, Kreis Braunsberg, Stadtberg 2: Christel Waldeck, geb. 18.08.1944, von ihrem Vater: Josef Waldeck. Christel wohnte Ende Februar 1945 mit ihrer Mutter Margarete Waldeck, geb. 15.03.1923, in Stolp, Petrikirchsteg 6, bei Familie Brosinsky

 

Pomedien, Kreis Wehlau: die Geschwister Adolf Rabe, geb. 10.10.1940, die Zwillinge Hilde Rabe und Elli Rabe, geb. 23.06.1936 und Eva Rabe, geb. 14.05.1935, von ihrer Schwester: Waltraut Rabe, geb. 04.10.1942

 

Preußisch-Eylau, Säuglingsheim: Dagobert Peklaps, geb. 13.06.1944 in Allenstein, von seiner Mutter Christel Peklaps, geb. 21.01.1921. Das Kind befand sich 1945 im Säuglingsheim Preußisch-Eylau, das geschlossen als Sammeltransport nach Königsberg kam, von wo die Weiterfahrt vermutlich nach Sachsen erfolgte.

 

Schleppen bei Tilsit, Kreis Tilsit-Ragnit: Hans Dietmar Schmitz, geb. 05.03.1943 und Gerd Schmitz, geb. 15.07.1944, von ihren Eltern: Hans Schmitz und Martha Schmitz, geborene Oginschus, geb. 11.06.1919.

 

Schönwalde, Kreis Samland: Rudi Günther, geb. 24.04.1934 in Görcken, von seinem Vater: Fritz Günther

 

Schorschehnen, Kreis Samland: Anneliese Oltersdorf, geb. 18.08.1934 in Bärwalde, von ihrem Vater: Franz Oltersdorf, geb. 29.08.1905

 

Schrombehnen, Kreis Preußisch-Eylau: Werner Gnohs, geb. 10.03.1939, und die Mutter Frieda Gnohs, geborene Hildebrand, verwitwete Werner, geb. im April 1918, von Reinhard Werner, geb. 09.04.1939 und Günter Werner, geb. 10.02.1941

 

Spiegelberg, Kreis Allenstein: Agnes Gollan, geb. 09.03.1935 und Josef Gollan, geb. 12.04.1937, von ihrem Vater: Aloysius Gollan

 

Tapiau, Kreis Wehlau, Memellandstraße 19: Heinz Schulz, geb. 25.08.1936 und Traute Schulz, geb. 05.01.1939, von ihrer Tante: Minna Kühn, geborene Kühn, geb. 12.09.1905

 

Tomoscheiten, Kreis Tilsit-Ragnit: die Zwillinge Irma Naujoks und Hilde Naujoks, geb. 1939, von Maria Szepst, geborene Rudwim, geb. 08.12.1909

 

Trutenau, Kreis Samland: Hannelore Schadwinkel, geb. 31.05.1941, und Benno Schadwinkel, geb. 21.09.1944, von ihrem Vater: Erich Schadwinkel. Hannelore befand sich von 1945 bis 1948 in Königsberg-Juditten, Waldstraße 17, bei Familie Kretschmann

 

Dollstädt, Kreis Preußisch-Eylau: Renate Bogdahn, geb. 21.03.1936 in Posmahlen, von ihrer Tante: Marie Bogdahn, geb. 14.12.1897

 

Georgenburg, Kreis Insterburg: Heinz Bergmann, geb. 1935 und Kurt Bergmann, geb. 1937, von ihrer Tante: Helene Nasarzewski, geborene Ledtke, geb. 04.07.1926. Heinz Bergmann und Kurt Bergmann wurden mit ihrer Mutter Berta Paßkarkeit, verwitwete Bergmann, nach Henkenhagen, Kreis Ruhnow in Pommern evakuiert.

 

Goldap, Angerburger Straße 56: Detlef Bresilge, geb. Oktober 1938, von Adelheid Kratz, geborene Vigoureux, geb. 30.12.1888

 

Grammen, Kreis Ortelsburg: Brigitte Kattanek, geb. 09.11.1933 in Georgensguth, von ihrer Mutter: Karoline Kattanek, geb. 18.11.1907. Brigitte Kattanek befand sich zuletzt in Zinten, Kreis Heiligenbeil.

 

Grö

nfleet, Kreis Goldap: Gerhard Genzer, geb. 07.11.1939, von seiner Tante: Elisabeth Warnecke, geborene Mathiszik. Gerhard Genzer kam im Herbst 1945 in das Flüchtlingslager Laage in Mecklenburg.

 

Insterburg, Steinstraße 2: die Geschwister Bruno Szillat, geb. 1933, Alfred Szillat, geb. 1935, Ingeburg Szillat, geb. etwa 1937 und Irmgart Szillat, geb. etwa 1939, von ihrem Vater: Karl-Heinz Szillat. Bruno befand sich zuletzt im Kinderheim in Treuburg und Alfred zuletzt im Kinderheim in Altwalde. Ingeburg und Irmgart waren mit der Mutter nach Rino bei Pribbernow, Pommern evakuiert.

 

Königsberg-Seligenfeld: Klaus Krömer, geb. Mai 1943, von seinem Bruder: Heinrich Krömer, geb. 06.07.1935

 

Königsberg, Am Bahnhofswall 4: Brigitte Wiechert, geb. Mai 1942, von ihrem Großvater: Carl Wiechert, geb. 18.07.1896

 

Königsberg, Friedmannstraße 37: Ingrid Wegner, geb. 23.11.1943, von ihrem Großvater: Bernhard Wegner, geb. 03.06.1896

 

Königsberg, Gebauerstraße 62: die Zwillinge Manfred Szigat und Ursula Szigat, geb. 17.06.1935, von ihrem Bruder: Heinz Szigat, geb. 04.02.1929

 

Königsberg, Magisterstraße 37/38: Margitta Wottke, geb. 05.05.1940, von ihrem Vater: Günter Wottke, geb. 02.01.1913. Margitta Wottke wurde im April 1947 in das Krankenhaus der Barmherzigkeit in Königsberg eingeliefert.

 

Königsberg, Neuendorfer Straße 11: Wolfgang Stemminger, geb. 03.11.1940, von seiner Großmutter: Anna Jaquet, geborene Pahlke, geb. 25.02.1888

 

Königsberg, Speichersdorfer Straße, Schlachthof: Renate Romey, geb. 05.12.1941, von Charlotte Romey, geborene Pahlke, geb. 15.06.1907

 

Königsberg, Sternwartstraße 22: die Geschwister Gert Berensdorf, geb. September 1940, Rainer Berensdorf, geb. 07.03.1943 und Karl Berensdorf, geb. März 1944, von ihrer Tante, Margarete Krohm, geborene Berensdorf, geb. 12.11.1901

 

Korehlen, Kreis Labiau: Gerhard Wittösch, geb. 18.03.1935, von Dieter Kaczauminkat. Gerhard Wittlösch war zuletzt in Dänemark in einem Lager und ist von dort nach Deutschland entlassen worden.

 

Maraunen, Gemeinde Wehlack, Kreis Rastenburg: Waldemar Kösling, geb. 06.01.1939 und Roswitha Kösling, geb. 17.01.1940, von ihrer Tante: Martha Kaffke, geb. 25.07.1924

 

Osterode: Burgi Kalinna, geb. 1940, von Erich Neumann

 

Pogauen, Kreis Samland, bei Anna Riemann: Helga-Hannelore Groneberg, geb. 18.01.1935 in Königsberg, von ihrer Mutter: Hedwig Krohn, geborene Groneberg, geb. 05.12.1915. Helga-Hannelore Groneberg soll mit der Pflegemutter Anna Riemann in Westfalen wohnen.

 

Rauschen, Ostseebad, Fremdenheim Waldhöhe: Helga Gräber, geb. 16.04.1943 in Königsberg, von ihrem Vater: Erich Gräber, ge. 08.03.1918. Die Mutter Charlotte Gräber, geborene Basmer wird ebenfalls noch gesucht.

 

Tapiau, Kreis Wehlau, Kirchstraße 5 oder 21: Klaus Jakomeit, geb. 18.05.1942, von Edith Emsden, geborene Pichler, geb. 29.10.1919. Klaus befand sich im Februar 1945 mit seiner Mutter Emmi Jakomeit in Westfalen.

 

Seewalde, Post Altkirchen, Kreis Ortelsburg: Erwin Wannagat, geb. 18.07.1941, von seinem Großvater: Eduard Wannagat, geb. 12.01.1878

 

Trempen, Kreis Angerapp: Georg Grönick, geb. 05.10.1941, von seiner Tante, Elfriede Deiwick, geborene Schwiderski, geb. 30.10.1913. Der Junge befand sich auf dem Dampfer „Karlsruhe“, der am 13. April 1945 auf der Höhe Stolpmünde gesunken ist. Ebenfalls werden die Mutter Hedwig Grönick, geborene Schwiderski, sowie die Großeltern Gottlieb Schwiderski und Marie Schwiderski gesucht.

 

Gesucht werden die Angehörigen eines Knaben, der Karl Heinz Groß heißen soll und etwa 1942 geboren ist. Er will sich daran erinnern, dass er das sechste Kind der Familie war. Ein älterer Bruder wäre Günther genannt worden. Er glaubt, dass die Mutter an Typhus gestorben ist. Der Knabe soll aus Ostpreußengekommen sein. Ob der Geburtsort Ortelsburg tatsächlich stimmt, ist fraglich. Es ist aber auch möglich, dass er ein nach Ostpreußen evakuiertes Kind ist. Bei seiner Umsiedlung trug das Kine einen schwarzen Mantel mit goldenen Knöpfen, auf denen gekreuzte Schwerter waren. Karl Heinz Groß, geboren etwa 1942, hat beim Kindersuchdienst die Kenn-Nummer 2698

 

Gesucht werden aus dem Kreis Braunsberg Angehörige eines Mädchens Brigitte Weinberg, geboren etwa 1939 Das Mädchen soll auf einer Landstraße im Kreise Wolgast 1945 aufgefunden worden sein. Brigitte Weinberg, geboren etwa 1939, hat die Kenn-Nummer 01317

 

Gesucht von Emma Loleit, geboren etwa 1910, von ihrem Sohn Traugott Loleit, geboren am 06. Juli 1942 in Goldap, Ostpreußen. Die Mutter des Kindes war zuletzt im Altersheim in Bischofsburg, Kreis Rössel, Hermannstraße, beschäftigt.

 

Braunsberg: Emma Taplick, von ihrer Tochter Renate Taplick, geb. 12.06.1941 in Braunsberg.

 

Domnau, Kreis Bartenstein: Julius Noster, geb. 21.12.1892 und Anna Noster, geb. 16.12.1899, von ihrem Sohn Horst Noster, geb. 14.12.1933. Der Bruder Edmund Noster, geb. 26.03.1924, wird auch noch gesucht

 

Erlenfließ, Kreis Labiau: Erna Ludwig, geborene Jundel, geb. 23.04.1905, von ihrem Sohn Werner Ludwig, geb. 28.12.1935 in Erlenfließ

 

Friedland, Kreis Bartenstein: Eltern oder Angehörige für Horst Großmann, geb. 30.01.1936 in Insterburg.

 

Gumbinnen, Bismarckstraße 88: Lisbeth Quade, geborene Riegert, geb. 02.10.1917, von ihren Kindern Edith Quade, geb. 28.04.1935 in Schloßberg und Waltraud Quade, geb. 13.10.1940 in Lindenhaus

 

Insterburg: Adolf Wowerat, geb. 03.04.1893, Ober-Lokheizer. Er war beim Bahnbetriebswerk in Insterburg tätig und befindet sich wahrscheinlich in Berlin-Lichtenberg.

 

Königsberg, Ostpreußen: die Angehörigen des Kindes Manfred Putzer, geb. 1939. Ein Bruder des Knaben Siegfried Putzer, geb. 1932, der zuletzt in Barby, Kreis Schönebeck, wohnhaft gewesen war, soll angeblich in Westdeutschland sein. Vermutlich hat er 1952 in Horstheide über Horst in Holstein gewohnt.

 

Königsberg: Lieselotte Stramm, geborene Müller, geb. 3twa 1922 und Heinz Müller, geb. etwa 1921, von ihrem Bruder Wolfgang Müller, geb. 08.11.1936

 

Königsberg, Rosenauerstraße 39: Elfriede Franz, geborene Hübner, geb. 30.07.1925, von Waltraud Pastan, geb. 30.09.1936

 

Königsberg-Unterhaberberg: Elsbeth Schönwald, geb. etwa 1902, von ihren Kindern Renate Schönwald und Annemarie Schönwald, geb. 08.09.1937

 

Laukitten, Kreis Heiligenbeil: Angehörige des Knaben Dietrich Kirstein, der etwa 1940 geboren ist. Dietrich Kirstein hat die Kenn-Nummer 01267

 

Memel: Angehörige für die Kinder Hildegard Schuschel, geb. 10.06.1937 in Memel und Ewald Schuschel, geb. 20.08.1938 in Memel

 

Memel, Schwanenstraße 21: Bronilawa Budginaite, geb. 06.04.1916, von ihrer Tochter Renate Budginaite, geb. 13.08.1941. Die Mutter des Kindes soll Textilarbeiterin gewesen sein.

Ortelsburg, Lehmanner Chaussee: Ida Przygodda, geborene Babiel, geb. 1902, von ihren Kindern Heinz Przygodda und Brigitte Przygodda. Frau Przygodda geriet auf der Flucht in Allenstein in Kampfhandlungen und wird seitdem vermisst.

 

Osterode, Sendenhinterstraße 13: Helene Rogozinski, von ihrer Tochter Hannelore Rogozinski, geb. 12.02.1944. Vermutlich ist die am 24.03.1903 geborene Wally Rogozinski, die angeblich am 11.03.1944 nach Fallingbostel-Lager verzog, mit der gesuchten Kindesmutter verwandt.

 

Plauschwarren, Kreis Tilsit-Ragnit: der Vater des Kindes Klaus-Dieter Walluth, geb. 01.06.1937 in Plauschwarren. Der Vater war Bahnbeamter.

 

Poselau, Kreis Samland: Ernst Trompell, geb. 15.12.1904. von seinen Kindern Gerda Trompell, geb. 12.04.1934, Joachim Trompell, geb. 07.11.1940 und Helmuth Trompell, geb. 31.07.1926, wird ebenfalls noch gesucht.

 

Schwalgendorf, Kreis Mohrungen: Gottfried Mattern, geb. 29.06.1910, von seinem Sohn Gottfried Mattern, geb. 06.03.1945.

 

Weidenfließ, Kreis Tilsit-Ragnit: Erich Weinowski, geb. 11.01.1931, Hildegard Weinowski, geb. 11.01.1931 und Ida Weinowski, geb. 05.04.1932, von ihrem Bruder: Kurt Weinowski, geb. 22.05.1933

 

 

Seite 13   Zivilgefangene

Nachrichten an den Suchdienst Hamburg, Abteilung II, Hamburg-Altona, Allee 131.

 

Gesucht werden aus:

 

Elbing, Dirscherweg 4: die Angehörigen der Charlotte Hinz, geb. etwa 1918, vermutlich geborene Reich. Der Vater war in Elbing Postbeamter

 

Bismarck, Kreis Heydekrug: August Kahnfeld, geb. 10.09.1891 in Bismarck

 

Tilsit: die Angehörigen des Fritz Paner, geb. etwa 1933, Schneider

 

Die Angehrigen des Franz Pazekeitis, geb. etwa 1923

 

Die Angehörigen des vermutlich Gerhard Fenne oder Fenohr, geb. etwa 1928

 

 

 

Seite 13   Suchdienst – Gefallene und gestorbene Wehrmachtsangehörige. Anfragen und Mitteilung zu dieser Liste sind unter Angabe des Namens und Vornamens des Gemeldeten (zweiter Name in der Suchmeldung) an den Suchdienst München, Rundfunkauskunft München 13, Infanteriestraße 7a, zu richten.

 

Gesucht wird:

 

Otto Zibrowius, aus Alt-Dollstädt, Kr. Preußisch-Holand, für Otto Zibrowius, geb. 23.12.1926 in Gelsenkirchen

 

Erna Zilian, aus Bartenstein, Schmettaustraße 2, für Willi Zilian, geb. 20.02.1915 in Bartenstein.

 

Franz Sambol, geb. 15.05.1914 in Darkehmen.

 

Eduard Wüst, aus Braunsberg, Ludendorffstraße 22, für Otto Wüst, geb. 19.10.1917 in Futschen

 

Bernhard Zimmermann, aus Darethen über Allenstein, für Walter Zimmermann, geb. 25.01.1921 in Darethen

 

Wilhelm Zimmermann, aus Gerdauen, Bahnhof, für Horst Zimmermann, geb. 05.07.1921 in Altendorf

 

Anton Zeutara, aus Grabenau, Kreis Allenstein, für Leo Zentara, geb. 08.03.1923 in Grabenau.

 

August Zentara, aus Groß-Damrau, Kreis Allenstein, für Albert Zentara, geb. 20.01.1925 in Groß-Damrau

 

Hedwig Samulowski, aus Groß-Kleeberg, Kreis Allenstein, für Albert Samulowski, geb. 22.06.1912 in Oberkamp

 

Maria Zilt, aus Guttstadt, frühere Hermann-Göring-Straße 35, für Josef Zilt, geb. 14.04.1901 in Heilsberg

 

Familie Zimutta, aus Hasenberg, Kreis Osterode, für Willi Zimutta, geb. 08.02.1920 in Ludwigsdorf

 

Frieda Zimmermann, aus Herzogswalde, Kreis Mohrungen, für Fritz Zimmermann, geb. 06.07.1899 in Herzogswalde

 

Ignatz Zientkowski, aus Hochwaldau, Kreis Zempelburg, für Ignatz Zientkowski, geb. 29.08.1923 in Hochwaldau

 

Adolf Zimmermann, aus Hüttenhof, Kreis Tilsit-Ragnit, für Arno Zimmermann, geb. 15.04.1926 in Hüttenhof

 

Familie Zickfrid, aus Johannisburg, für Heinrich Zickfrid, geb. 16.01.1914

 

Frau G. Zimmerling, aus Insterburg, Göringstraße 35, für Gustav Zimmerling, geb. 17.11.1902

 

Johann Wrobel, aus Kilianen, Kreis Treuburg, für Arno Wrobel, geb. 13.01.1924 in Kilianen.

 

Anna Zielke, aus Klutschau, Kreis Neustadt, für Hermann Zielke, geb. 23.06.1904 in Wahlendorf.

 

Familie Zimmat, aus Königsberg, Am Stadtgarten 77, für Gerhard Zimmat, geb. 13.11.1912 in Königsberg

 

Ernst Zellin, aus Königsberg, Bärenstraße 1, für Siegfried Zellin, geb. 03.08.1923 in Königsberg

 

Anna Zirbel, aus Königserg, Bismarckstraße 2, für Max Zirbel, geb. 12.10.1887 in Berlin

 

Annemarie Seibel, aus Königsberg, Brandenburger Straße 35, für Georg Seibel, geb. 16.03.1919 in Pfungstadt

 

Else Sapp, aus Königsberg, General-Litzmann-Straße 84, für Hubert Sapp, geb. 27.01.1891 in Lohmar.

 

Gertrud Salewski, aus Königsberg, Gipfelsweg 5, für Albert Salewski, geb. 25.11.1901 in Fuchshöfen

 

Johanna Seitz, aus Königserg, Hammerweg 20, für Dr. Ludwig Seitz, geb. 22.08.1906 in Holzhausen

 

Familie Runge, aus Königsberg, Hindenburgstraße 43, für Paul Runge, geb. 05.09.1918 in Königsberg

 

Wilhelmine Müller, aus Königsberg, Kärntnerweg 14, für Hermann Müller, geb. 29.08.1907 in Baydritten

 

Richard Mahleur, aus Königsberg, Lobenlichtsche Kirchofstraße 5, für Heinz Wonnsack, geb. 18.02.1917 in Königsberg

 

Frieda Seliger, aus Königsberg, Nasser Garten 122b, für Ernst Seliger, geb. 22.11.1906 in Königsberg

 

August Sahm, aus Königsberg, Nasser Garten 80, für Bernhard Sahm, geb. 06.06.1910 in Königsberg.

 

 

Seite 14   Die Siedlerschule in Katlenburg.  Ausbildungsstätte für bäuerliche Siedlungsbewerber und Siedler.

Die Siedlerschule in Katlenburg, die erste ihrer Art in der Bundesrepublik, wurde im Jahre 1952 mit wesentlicher Förderung der Niedersächsischen Landesregierung, insbesondere nach der Initiative des Bundes der vertriebenen Deutschen und des Bauernverbandes der Vertriebenen bzw. der Deutschen Jugend des Ostens gegründet und in den für diese Zwecke wohl geeigneten Gebäuden der Restdomäne Katlenburg/Harz untergebracht.

 

Diese neue Schulform, die auf die besonderen Bedürfnisse der vertriebenen Bauernschaft und der aus der SBZ geflüchteten Landwirte Rücksicht nimmt, und deren Ausbildungsweg über die landwirtschaftliche Gehilfenprüfung und eine abgeschlossene landwirtschaftliche Grundausbildung zur Siedlerreife führt, hat sich in den zwei Jahren ihres Bestandes gut bewährt und in der Öffentlichkeit durchgesetzt. Das Interesse der jungen Generation der Ostvertriebenen und Flüchtlinge an dieser Heimschule ist von Lehrgang zu Lehrgang gestiegen.

 

Das Land Niedersachsen hat sein wachsendes Interesse an dieser berufsfördernden Einrichtung durch ständige Jahresbeihilfen zur Stützung des Haushalts zum Ausdruck gebracht.

 

Die Landwirtschaftskammer Hannover hat den Besuch der Schule für jüngere Siedlungsbewerber oder für Söhne von älteren Bewerbern wiederholt empfohlen.

 

Die Schulaufsichtsbehörde hat die Grundausbildungs- und Fachlehrgänge der Siedlerschule anerkannt; sie wohnt der Abschlußprüfung, bei welcher ein Vertreter der Landwirtschaftskammer Hannover den Vorsitz führt, bei.

 

Die schulichen Erfolge waren bisher durchaus beachtlich. Die beiden ersten Lehrgänge waren von 48 Schülern im Alter von 18 bis 38 Jahren aus dem ganzen Bundesgebiet besucht. Unter ihnen befanden sich 32 Ostvertriebene, 13 SBZ-Flüchtlinge und 3 Einheimische. Den Sommerlehrgang besuchen 24 Schüler, von denen wieder 18 ostvertriebene Bauernsöhne und 4 Flüchtlinge aus der SBZ sind. Von den Schülern der ersten beiden Lehrgänge haben 35 die Abschlussprüfung mit gutem bis befriedigendem Erfolg bestanden und den Siedlereignungsschein der Siedlerberatungsstelle Hannover erhalten. 14 von ihnen legten zum Ende des Lehrgangs die landwirtschaftliche Gehilfenprüfung mit gutem Erfolg an Lehrhöfen der Umgebung ab.

 

Die Absolventen der Schule werden als Jung-Siedlungsbewerber in den Karteien des BVD-Landvolks und der Siedlungsberatungsstelle geführt. 24 von ihnen befinden sich z. Z. als Wirtschafter oder Jungverwalter in Stellungen. Die älteren verheirateten Absolventen haben Aussicht, in absehbarer Zeit eine SiedIerstelle oder eine Pachtung zu übernehmen.Bei den Eltern ehem. Sjedlerschüler, die seit längerer Zeit Siedlungsbewerber sind, bessern sich durch den Besuch der Siedlerschule die Aussichten auf eine Siedlerstelle.

 

Ein Großteil der Schüler der ersten Lehrgänge hat Beihilfen bzw. Ausbildungshilfen aus Lastenausgleichsmitteln erhalten können, die fast alle Unkosten deckten. Vereinzelte ostdeutsche Schüler werden auch durch die zuständigen Patenkreise der ostdeutschen Landkreise gefördert.

 

Der Anfangserfolg der Siedlerschule, zahlreiche Wünsche ehem. Siedlerschüler und nicht zuletzt eine gleichlaufende Anregung der Schulaufsichtsbehörde gaben dem Trägerverein Veranlassung, eine Verlängerung der Lehrgangsdauer von 6 auf 10 Monate in Erwägung zu ziehen und diesen Lehrgang in zwei Semester (6 Monate Grundausbildung mit landwirtschaftlicher Gehilfenprüfung und vier Monate Aufbaulehrgang, auch für ehemaliga Landwirtschaftsschüler, mit Siedlerreife-Prüfung) aufzugliedern.

 

Gleichzeitig sind vorgesehen, aus Mitteln des Bundesjugendplanes die Stallungen, eine Werkstätte für grundhandwerkliche Fertigkeiten (Holz- und Eisenbearbeitung) auszubauen und die Unterrichtsräume zu vergrößern und zeitgemäß einzurichten. Auch das Wohnheim, das z. Z. nur 30 Plätze umfasst, soll auf 60 Plätze erweitert werden; 25 dieser Plätze sollen einer Mädchenabteilung (ländlich-hauswirtschaftlicher Zug des Grundausbildungslehrganges) vorbehalten bleiben.

 

Die Siedlerschule ist eine Heimschule, in deren Mauern Schüler und Lehrer gemeinsam wohnen und auch außerhalb des Unterrichts zusammenarbeiten. Der auch auf sozialkundliche, ostkundliche und agrarpolitische Fragen ausgerichtete Lehrplan ist geeignet, auch die Landgesinnung der Schüler fühlbar zu festigen und damit die Landflucht wesentlich einzudämmen. Die gemeinsamen Bemühungen der Siedlerschule, des Bundes der vertriebenen Deutschen und verschiedener Siedlungsträger und die Eingliederung der Absolventen gibt auch den Schülern eine gewisse Gewähr, durch die Schule beruflich vorwärts zu kommen und ihrem Ziel, einmal eine eigene Siedler- oder Hofstelle oder eine Pachtung zu übernehmen, näher zu rücken.

 

Die Siedlerschule findet mehr und mehr auch in den anderen Ländern, so in SchleswigHolstein, in Nordrhein-Westfalen, in Hessen und neuerdings auch in Rheinland-Pfalz Beachtung. Sie ist am Wege, eine Siedlerschule für das Bundesgebiet zu werden.

 

Lage und Entwicklung der Siedlerschule in Katlenburg berechtigen zu der Hoffnung, dass die Anstalt zu einer für das junge Landvolk und für eine künftige Wiederbesiedlung Ostdeutschlands wirklich bedeutsamen Einrichtung wird.

 

 

 

Seite 14   Deutsche Auswanderer in Brasilien. Von Ernst Schollmeyer.

Von den Chancen, die deutschen Auswanderern in Brasilien gegeben sind, machen sich in Deutschland viele Interessierte falsche Vorstellungen — in positiver wie in negativer Hinsicht. Unser Mitarbeiter Ernst Schollmeyer, der jetzt aus Südamerika zurückkam, schildert deshalb die Situationen, in denen er Deutsche angetroffen hat, die ihr Glück in Brasilien versucht haben, das immer noch das Ziel der Sehnsucht vieler auswanderungslustiger Deutscher ist.

 

„Ich bin als Handwerker fast in allen Ländern Europas gewesen“, erzählte mir ein Breslauer Zimmermann in Sao Paulo. „Aber ich habe dort keine so zuvorkommende Behörde gefunden wie hier die Arbeitsvermittlungsstelle des Einwanderungsministeriums. Ich brauchte nicht lange zu warten, bis ich drankam, man war höflich und sprach sogar deutsch mit mir, es gab keine bürokratische Schikane — was in Brasilien selten vorkommt —, und zwei Tage später hatte ich bereits eine Stelle für 3500 Cruzeiros in Sao Paulo. Aber die erste Zeit war für mich doch ziemlich hart. Zunächst einmal das Klima. Ich war zuerst ganz benommen von der sommerlichen Hitze und lief in den ersten Wochen herum, als hätte ich ein Brett vor dem Kopf. Später gewöhnt man sich allmählich daran, aber man leistet doch etwa nur ein Drittel von dem, was man in Europa arbeiten konnte. Dann mein Zimmer. Es war ein dunkles, heißes Loch mit Bett, Tisch und Stuhl, für 500 Cruzeiros im Monat. Nicht einmal ein Schrank war vorhanden. Dazu kamen die Sprachschwierigkeiten. Ich konnte kein Wort Portugiesisch und musste die Zeichensprache zu Hilfe nehmen. Ich hätte sonst eine viel bessere Stellung bekommen können“.

 

Ähnlich berichten auch die anderen europäischen Einwanderer über ihre Anfangsschwierigkeiten. Man braucht gerade in den ersten Monaten einen wirklich eisernen Willen zum Arbeiten und zum Durchhalten. Man muss noch mehr leisten als in Europa, hat aber andererseits nicht die soziale Sicherheit. Krankenkasse, Sozialversicherung oder Arbeitslosenrente sind Dinge, die für den Einwanderer — zumindest während der ersten Wochen — nur auf dem Papier stehen.

 

Hinzu kommt die oft quälende Isolation und das Heimweh. Selbst wenn die sprachlichen Schranken einmal gefallen sind, wird der Deutsche auch bei guten brasilianischen Freunden ein Gefühl der Fremdheit nie verlieren. Man kennt hier nicht die Grauen des Krieges und der darauf folgenden Jahre, ein Erlebnis, das viele Europäer doch stark geformt hat und untereinander verbindet. Man hat hier völlig andere Interessen. Das Geld ist der Maßstab aller Dinge. Wer etwas besitzt, ist etwas.

 

Zum Gefühl der Isolation trägt auch bei, dass der Brasilianer ungern einen Freund zu sich nach Hause einlädt. Man geht zusammen ins Restaurant, dort trinkt oder isst man gemeinsam, aber in die Familie wird man äußerst selten eingeführt. Und ist dies wirklich der Fall, so muss man sich an zwei Dinge gewöhnen: einmal an den Mate-Tee und zweitens das Warmwerden mit einer Brasilianerin.

 

Es ist für einen Europäer äußerst schwierig, eine Brasilianerin kennenzulernen. Ansprechen auf der Straße oder am Strand ist noch mehr verpönt als in Europa. Und sonst tauchen junge Mädchen nur unter der sorgsamen Bewachung irgendeines Familienmitgliedes in der Öffentlichkeit auf. Gelingt trotzdem eine Bekanntschaft, so werden auf brasilianischer Seite ernsthafte

Absichten vorausgesetzt, und man ist sehr rasch verlobt oder verheiratet. Daher ist es immer noch am besten, bei brasilianischen Freunden eine junge Schönheit kennenzulernen. Einfacher ist es mit dem Mate-Tee. Wenn er einem auch zu Anfang nicht recht munden mag, man gewöhnt sich sehr schnell daran. Ja. man trinkt ihn sogar sehr bald aus Überzeugung, denn wo bliebe die Gesundheit, wenn Mate-Tee nicht wäre. Es gibt einfach keinen Deutschen, geschweige denn einen Europäer, dessen Magen sich so schnell auf südamerikanische Mahlzeiten umstellt. „Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre“, sagte mir ein Thüringer, der seit einem Jahr in Brasilien lebt, „wenn es keinen Mate geben würde. Anfangs habe ich Mate abgelehnt, als ich ihn bei brasilianischen Freunden als eine Art Gastfreundschaftsgetränk vorgesetzt bekam. Aber sehr bald habe ich seine Qualitäten schätzen gelernt und möchte ihn nicht mehr entbehren. Bei der sehr eintönigen und abwechslunglosen Kost, an die sich jeder Europäer erst gewöhnen muss, erfüllt Mate sozusagen einen gesundheitspolizeilichen Zweck. Er enthält alle die Vitamine, Eiweißstoffe und Kohlehydrate, die zur lebensnotwendigen, richtigen Ernährung einfach unentbehrlich sind. Ganz abgesehen davon, dass Mate anregt und erfrischt“. Die allgemeine Vereinsamung, die ungewohnten Lebensbedingungen und vielleicht noch Intrigen seitens der Kollegen am Arbeitsplatz, denen das Tempo des deutschen Neulings unsympathisch ist, veranlassen so manchen Auswanderer, wieder die Heimreise anzutreten. Aber die meisten halten doch durch, und mit etwas Glück und beruflichem Können kommen sie in Brasilien wesentlich rascher voran als in Europa. Da Brasilien rasch von seinem Export, hauptsächlich Kaffee, Baumwolle, Kautschuk und Mate, unabhängig werden will, baut es seine Industrie in einem geradezu fieberhaften Tempo auf. Hier findet der europäische Techniker, Spezialist oder hochqualifizierte Arbeiter leicht eine Arbeitsmöglichkeit, besonders in der Metall- sowie der chemischen Industrie und im Baugewerbe. Durchschnittslohn etwa 3000 - 5000 Cruzeiros. Weibliche europäische Arbeitskräfte werden vor allem für den Haushalt (1200 - 1500 Cruzeiros), in Friseurgeschäften (cirka 2500 Cruzeiros) und als Schneiderinnen gesucht (2500 - 4000 Cruzeiros). Wenn eine Schneiderin aber eigene Modelle entwerfen kann, darf sie mit ungefähr 5000 bis 7500 Cruzeiros rechnen. Für Sekretärinnen oder auch männliche kaufmännische Angestellte bestehen praktisch keinerlei Arbeitschancen. Bei allen Verdienstangaben muss man allerdings bedenken, dass — gemessen am deutschen Preisniveau — 1000 Cruzeiros nur die Kaufkraft von DM 70,-- haben und dass die brasilianische Teuerung ständig fortschreitet. Dafür ist die Steuerbelastung allerdings sehr viel geringer als bei uns. Bis zu 35 000 Cruzeiros Jahreseinkommen werden überhaupt keine Steuern erhoben, und auch bei höherem Einkommen kann man als Familienvater soviel absetzen, dass praktisch Steuerfreiheit bis zu einem Jahreseinkommen von 100 000 Cruzeiros besteht.

 

„Das ist ja alles ganz gut und schön“, meinte ein alter Deutsch-Brasilianer, „aber wenn ich das alles früher gewusst hätte, was mir hier bevorsteht, so wäre ich in Deutschland geblieben, denn Mate-Tee und seine Qualitäten hätte ich auch in der Heimat kennenlernen können, dazu hätte ich nicht erst nach Brasilien auszuwandern brauchen. Mate ist das einzig Gute, was ich in Brasilien kennenlernte“.

 

 

 

Seite 14   Suchanzeigen

Wer kann über folgende Personen Auskunft geben: 1. Gefreiter Gerhard Reuser, geb. 25.01.1905 in Königsberg, vermisst seit 04.09.1944 im Raum Heuchin; 2. Magdalene Lingnau, geborene Reuser, geb. 13.11.1923 in Königsberg. Letzte Nachricht aus UdSSR, Lager 7533/7; 3. Anna Zeuch, geb. Thiede, geb. 07.02.1888 in Königsberg, letzte Wohnung daselbst, Sackheimer Kirchenstraße 3b. Soll im April 1945 noch in ihrer Wohnung gewesen sein. Bitte, wer etwas weiß, Nachricht an Eugen Reuser. S.-Lebenstedt, zu geben. Unkosten werden, erstattet

 

Wer kennt Frau Hellwig aus Mekienen bei Bartenstein (Ostpreußen) und wer weiß ihre Anschrift? Frau H. ging Ende Januar 1945 auf den Treck. Nachricht erbittet Frau Marianne Schorsch. geb. Fengler, (22a) Dinslaken 3. Kirchstraße 15.

 

Frau Faenger, früher Siedlung Quednau bei Königsberg/Pr., (Hundezucht) gesucht von Frau Meta Rasch, früher Postamt Maraunenhof, jetzt 20b Emmerborn bei Stadtoldendorf.

 

Wer kennt das Schicksal meiner Mutter Anna Neumann, geb. 25.07.1869. aus Lyck, Hindenburgstraße 12, nach den Unglückstagen dieser Stadt. Um Nachricht bittet Erich Neumann b. Helmut Gronen, 20a) Celle, Hugoweg 2.

 

Gesucht werden folgende Königsberger: Gertrud Hildebrand gesch. Drescher, geb. Wiertulla, geb. 15.05.1900 in Königsberg/Pr. Ingeborg Bahr, geb. Drescher, geb. 19.11.1920 in Königsberg. Cilly Drescher, geb 16.05.1925 in Königsberg. Carl Bernhard Ehlers, geb. etwa 1900, letzter Inhaber der Weinhandlung C B. Ehlers. Königsberg. Fritz Tiltmann u. Frau Margarete Tiltmann, geb. Neumann, beide etwa 1893/1894 geboren, Friseurmeister in Königsberg, Rich.-Wagner-Str. 31. Nachricht erbeten an Alfred Drescher. (13a) Bruck/Oberpf.

 

Achtung Königsberger! Wer kann Auskunft geben über den Verbleib des Straßenbahnschaffners Gustav Sorkowski, Königsberg. Jägerstraße 47a. Familie Bockhaus, Kbg., Blücherstraße 1 sowie Famlie Frieda Nitsche, Königsberg, Bismarkstraße 10c. Meldung erbeten an Frau Helene Hensel, geb. Fuhlert. Broskum 222, Kr. Diepholz/ Hannover.

 

Gesucht wird Herr Kurt Schiffmann, geb. am 12.02.1904 In Königsberg, Hausbesitzer im Löbenicht u. Händler auf dem Altstädtischen Markt, zuletzt wohnhaft auf den Mittelhufen bei Lehrerwitwe Frau Auguste Peppel. Nachricht erbeten Gustav Steffler, Norden i. Ostfr., Neustadt, Königsberger Straße 20

 

Wer weiß die Anschrift der Firma W. Jander vormals Bagger, Inhaber August Jander. Kulturingenieur aus Königsberg (Pr.), Haverbeckstraße 8. — Gesucht wird Andreas Wippich, geb. 29.11.1889, aus Wonneberg, Kreis Rößel (Ostpreußen). Zuletzt beschäftigt bei obiger Firma, letzte Nachricht vom 04.10.1944 aus Gawesen bei Libau, und Hugo Wippich, geb. 22.081928, aus Wonneberg Kreis Rößel, am 01.02.1945 nach Russland verschleppt. Nachricht erbeten gegen Unkostenerstattung an Paul Wippich, Lambrecht / Pfalz Gartenstraße.

 

Wer kann Auskunft geben über den Verbleib unseres Sohnes Ewald Herrmann, geb. den 10.05.1924 in Potritten, Kreis Rößel, Ostpreußen. Letzter Dienstgrad: Obergefreiter – Feldpostnummer 36 781 D. Erlernter Beruf: Schmied. Letzte Nachricht 1945 im Januar vom großen Weichselbogen – Warschau. Gesucht von den Eltern: August Herrmann, Geraberg – Klara Zetkin-Straße 10, Kreis Ilmenau, Thüringen.

 

Gesucht wird Schlachtermeister Max Hennig, Alter 73 Jahre. Am 26.01.1945 aus seinem Hause in Schönwalde, Post Kuggen, Kreis Königsberg, Preußen, verschleppt. Wer kann über den Verbleib des Gesuchten Auskunft geben? Nachricht erbittet Herbert Plaumann, Hannover-Linden, Weckenstraße 9

 

 

Seite 15   Todesanzeigen

Ehrentafel und Mahnmal des Männer-Turn-Vereins Lyck.

Wir hatten einst ein schönes Heimatland. – Masuren!

Für dich, geliebtes Vaterland, opferten sich deine besten Söhne.

Heimat! Sie starben für dich, um dich zu erhalten;

Für uns, damit wir dich im Herzen weiter tragen.

Es verbindet uns Treue und Dankesschuld.

Ihr starbt als tapfere Soldaten und Turner!

 

Georg Block

 

Kurt Dannenfeld

 

Helmut Drubba

 

Siegfried Friedrich

 

Kurt Frank

 

Ernst Goebel

 

Werner Goertz

 

Adalbert Jenzio

 

Ernst Karrasch

 

Karl-Heinz Kastner

 

Kurt Koewius

 

Kurt Kowalewski

 

Heinz Kropp

 

Hugo Lüneberg

 

Erwin Lütge

 

Werner Mlodoch

 

Fritz Neubauer

 

Bruno Nickel

 

Kurt Nittka

 

Richard Smoydzin

 

Winter

 

Erwin Witt

 

Es sind noch vermisst – wir hoffen und harren –

 

Waldi Hoyer

 

Hans Kohn

 

Heini Kukowski

 

Horst Lojewski

 

Rudolf Neubauer

 

Ernst Schmidt

 

Aus Dankbarkeit legten für Euch und die toten Helden von 1914/1918 ostpreußische Mütter im Namen des Lycker Männer-Turn-Vereins 30 Blumensträuße am Ehrenmal in Göttingen nieder. Mögen die Namensschleifen bald einen würdigen Ort in einer Patenstadt finden. H. G.

 

Wir betrauern tief das Ableben unserer lieben Corpsbrüder: Dr. jur. Paul Josupeit, aktiv SS 1911, gestorben am 07.09.1954 zu Braunschweig an den Folgen einer 9-jährigen sowjetischen Gefangenschaft. Dr. med. Gerhard Calinich, aktiv WS 1921/1922, gestorben am 10.09.1954 zu Gelnhausen. Der Altherrenverein des Corps Masovia. Das Corps Palaiomarchia-Masovia Kiel. Frankfurt (Main), 16. September 1954

 

 

Seite 16   Hermann Löns – Der Westpreußen

Am 26. September 1914 fiel bei Loivre vor Reims der Dichter Hermann Löns. Er war ein weithin bekannter Verfasser; von da an sollte er der volkstümlichste werden. Sein Werk verdient völlig sachlich die Verbreitung und den Ruhm, die sie gefunden haben. Vierzig Jahre nach seinem Tode lässt sich überschauen, was von Hermann Löns besteht: Ohne ihn kein Lesebuch, seine Lieder sind Volkslieder, seine Bücher sind in Millionen verbreitet, die Auflage seiner Gesamtausgabe wird von keiner Gesamtausgabe eines Zeitgenossen erreicht; seine Werke sind der Kanon der Jäger und der Naturfreunde, der Heimatliebe und des Heimatschutzes, sie stehen fast einzig da als eine große Lobpreisung des Bauerntums.

 

Löns stammt aus westfälischem Blute, ist aber (als Sohn eines Gymnasial-Oberlehrers am 29. August 1866) zu Kulm in Westpreußen geboren und wuchs bis zu seinem 18. Lebensjahr zu Deutsch-Krone in der Grenzmark, auf. Obzwar er noch jung in die Stammesheimat zurückkehrte, zeigt er sich vom Osten geprägt; sein Deutschtum ist bewusst und wachsam. Dies und seine gemeindeutschen Eigenschaften, besonders seine Naturliebe und sein Eintreten für die Art seines Volkes haben ihn im Osten besonders volkstümlich gemacht.

 

Löns ist in einer Zeit der literarischen Experimente und der Überfeinerungen bis zur Auflösung der Form ein vorbildlicher Stilist, ein charaktervoller Handwerker aus der Verwandtschaft der Gotthelf, Hebel, Gottfried Keller. Eine gewisse Gebundenheit an das Zeitalter des Dekorativen gibt seiner Sprache und Darstellung einen Reiz, der, wie sich zeigt, die Zeit überdauert. Welche Wohltat, des Dichters Bilder zu genießen, ihre Natürlichkeit, ihren Einklang mit dem Vorausgegangenen und dem Folgenden!

 

Hermann Löns hatte eine gute Schule: er machte Zeitung, und gute Zeitung ist gute Schule für den Schriftsteller.

 

Als Journalist wurde Löns in vielerlei Dingen gewandt. Deshalb übersah man oft und gern, wie ernst er dem Besten und Bedeutendsten zugestrebt hat; Vielseitigkeit wird in Deutschland bei Ausländern beneidet, bei Deutschen verdächtigt. Wir sollten Löns auch als Klassiker der Zeitung schätzen, der manche Möglichkeit erschlossen und viel Vorbildliches geleistet hat. Man sollte seiner Anschaulichkeit und Volkstümlichkeit nichts wie nacheifern, diesen klaren Sätzen, welche lauter zu Ende gedachte Gedanken wiedergeben. Abhandlungen aus allen Wissensgebieten weisen Löns als einen der gescheitesten Verfasser seiner Zeit aus; seine Studie über Napoleon liest man mit Bewunderung, bezieht man sie auf Hitler, mit Grauen. Die Stücke des Bandes „Die Häuser von Ohlenhof“ und viele andere kann nur ein Menschen- und Volkskenner von höchsten Graden verfasst haben, auch nur ein Meister der Sprache und der Darstellung. Dieses Buch, das Letzte, das Löns vollendet hat, beweist auch, dass er noch nicht am Ende war, sondern eher am Anfang: an dem einer großen Form für große Gegenstände, über die Meisterschaft des „Letzten Hansburen“ und auch des „Wehrwolfs“ hinaus.

 

Ob der Soldatentod des achtundvierzigjährigen Kriegsfreiwilligen Löns gesucht war? Dem näher Unterrichteten fällt es schwer, dieser Behauptung zu glauben. Ob es ein „rechtzeitiger“ Tod war? Nein; denn es sprechen wie gesagt Gründe dafür, dass Löns sein Bestes erst geschaffen hätte. Sein Tod war ein deutscher Verlust.

 

 

Seite 16   Wiedersehensfeier der 121. Infanterie-Division

Das zweite Wiedersehenstreffen unserer Division führte am 4. und 5. September 1954 etwa 500 Ehemalige in Bielefeld zusammen. Im Westfalenhaus am Kesselbrink, wo auch die große Suchdienst- und Bildausstellung des Deutschen Roten Kreuzes aufgebaut war, versammelten sich im Laufe des Nachmittags die Kameraden aus allen Teilen des Bundesgebietes, Mitteldeutschlands und Berlins. Beim Beginn der Divisionsversammlung war der große Saal des Westfalenhauses bis auf den letzen Platz gefüllt. Nach der Begrüßung durch Kamerad Meinecke (Gr. Rgt. 407) gab der Sprecher des Traditionsverbandes, Kamerad Gehrs, einen Rechenschaftsbericht. Die Zahl der erfassten Kameraden konnte auf mehr als 2500 gesteigert werden. Die noch in Kriegsgefangenschaft befindlichen Divisionsangehörigen werden laufend unterstützt. In einer großen Anzahl von Fällen konnte die Kartei des Traditionsverbandes den 131-ern bei der Nachweisung von Dienstzeiten usw. behilflich sein. Sehr eng wurde in dieser Zeit mit dem Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes zusammengearbeitet.

 

Zu dem Divisionsabend waren neben Vertretern von VdS, Kyffhäuserbund, VdH usw. auch der Vertreter des Oberbürgermeisters und des Rates der Stadt, Bürgermeister Vogler erschienen, der in seinen Begrüßungsworten die alten ostpreußischen Soldaten in Bielefeld willkommen hieß. Er brachte zum Ausdruck, dass die Ziele des Traditionsverbandes jeder Unterstützung wert seien. Nachdem ein Ende vorigen Jahres aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrter Divisionsangehöriger über die furchtbare seelische Not unserer immer noch in sowjetischer Hand befindlichen Kameraden berichtet hatte, schloss der offizielle Teil mit dem Deutschlandlied.

 

Alles, was folgte, stand unter dem einen Wort: „Kamerad weißt du noch?“ Es war viel zu früh, als um 3 Uhr zum Zapfenstreich geblasen wurde. — Am 5. September um 11 Uhr war der Höhepunkt des Treffens, die Gedenkfeier auf der Sparrenburg, bei der unter Mitwirkung eines Posaunenchores der evangelischen Gemeinde Bielefeld-Schildesche der evangelische und katholische Feldgeistliche der Division von dem Sinn und der Größe des Opfers der Gefallenen und Vermissten sprachen. Abschließend nahm der erste Kommandeur der Division, General der Artillerie Kurt Jahn, das Wort. Er ermahnte seine Kameraden, sich von niemand in der Staatstreue und in dem Dienst für das Vaterland übertreffen zu lassen. Die Kränze der Division und der verschiedenen Abordnungen der befreundeten Verbände wurden am Ehrenmal des 2. (lothringischen) Infanterieregiments 131 niedergelegt.

 

Im Westfalenhaus wurde auch der neue Vorstand gewählt, der sich wie folgt zusammensetzt: 1. Vorsitzender: General der Artillerie Kurt Jahn, 2. Vorsitzender und Geschäftsführung: Fritz Gehrs (Gr.Rgt. 407). — Divisionsstab: Sprecher P. Koehn; Gr. Rgt. 405: 1. Sprecher Kam. Helle, 2. Sprecher Kam. Lenz; Gr.Rgt. 407: 1. Sprecher Kam. Meineke, 2. Sprecher Kam. Taube; Gr. Rgt. 408: 1. Sprecher Kam. Canders, 2. Sprecher Kam. Schielke; Ar.-Rgt. 121: Sprecher: Kam. Vormbrock, Pionier-Batl. 121: Sprecher Kam. Funk; Nachrichten-Abt. 121: 1. Sprecher Kam. Jansen, 2. Sprecher Kam. Rohnke; Panz. Jg. Abt. 121: 1. Sprecher Kam. Herrmann, 2. Sprecher Kam. Stahl; Divisions-Nachsch. 121: Sprecher Kam. Dannehl. – Die Anschrift des Traditionsverbandes bleibt Engehausen über Schwarmstedt. Das Deutsche Rote Kreuz war mit dem Ergebnis des Suchdienstes besonders zufrieden, da es gelang, mehr als 60 Fälle aufzuklären bzw. ihrer Aufklärung näher zu bringen.

 

 

Grenadier-Regiment Friedrich der Große (3. Ostpr.) Nr. 4

Alle ehemaligen Regiments-Angehörigen werden gebeten, zum Zwecke des kameradschaftlichen Anschlusses ihre Anschrift der Kameradschaft unseres ehemaligen Traditions-Regiments, Inf.-Regt. 2, z. Hd. Kam. W. Bannuscher, Hamburg-Harburg, Hoppenstedtstraße 57, mitzuteilen. Mit kameradschaftlichem Gruß gez. Wetzel, General der Inf. a. D.

 

 

Seite 16   Koreaner in Ostpreußen

In dem von den Polen verwalteten Regierungsbezirk Allenstein sind während des Sommers gefangene Südkoreaner eingetroffen, die als Zwangsarbeiter auf den Kolchosen eingesetzt werden. Aus dem sowjetisch verwalteten nördlichen Ostpreußen verlautet jetzt auf Grund von Heimkehrerberichten, dass in Insterburg und Gumbinnen bereits im Mai ein Zug mit Südkoreanern einlief. Die Sowjets sollen diese Gefangenen in Samland beim Bau von Flugplätzen verwenden. Von polnischer Seite wird behauptet, es handele sich bei diesen Menschen um Nord- und Südkoreaner, die zumeist jugendliche Waisen seien und die in Polen industrielle Fähigkeiten erlernen sollten. In Ostpreußen befindet sich jedoch keines der aus den Volksdemokratien bekannten koreanischen Kinderinternate. Es fehlt dort ebenfalls an Industrie.

 

 

Arbeitstagung junger Ostforscher

Das Herder-Institut führte eine Arbeitstagung für junge Ostforscher und Studenten unter der Leitung von Professor Schlenger durch. Probleme Osteuropas, wie die Völkerrechtsauffassung der Sowjetunion, der völkerrechtliche Status der baltischen Staaten nach 1938, das sowjetische Außenhandelsmonopol und soziologische Themen aus den Satellitenstaaten standen im Mittelpunkt der Tagung. In einer Reihe von Vorträgen wurden auch die wirtschaftlichen Verhältnisse in der sowjetischen Besatzungszone behandelt.

 

 

„Das Haus der ostpreußischen Heimat“

in Berlin beginnt im Oktober mit der traditionellen Reihe seiner Kulturveranstaltungen, in deren Rahmen zahlreiche ostpreußische Dichter und Autoren zu Wort kommen werden. Den Auftakt gab eine Lesung des baltischen Dichters Werner Bergengruen am 4. Oktober, ihm folgt am 24. Oktober der westpreußische Schriftsteller Dr. Ottfried Graf von Finkenstein. Der Historiker Kurt Pastenaci hält am 29. Oktober einen Vortrag über die „Vor- und Frühgeschichte des Memelgebietes“. Außerdem werden im „Haus der ostdeutschen Heimat“ die gemeinsam mit der Hochschule für Pädagogik veranstalteten „Ostdeutschen Singstunden“ mit der 6. Sinfonie im Oktober fortgesetzt.

 

 

Seite 16   Wir gratulieren!

Die nachstehend aufgeführten betagten Mitglieder der Landsmannschaft Ostpreußen in Flensburg können im Monat Oktober  1954ihren Geburtstag feiern:

 

Am 01.10.1954:  Frau Anna Freywald, Gerhart-Hauptmann-Straße 33, früher: Königsberg (Pr.), Zimmerstraße 4/5, 75 Jahre.

 

Am 03.10.1954: Herr August Borowski, Ochsenweg 36, früher: Migehnen, Kreis Braunsberg, 84 Jahre.

 

Am 05.10.1954: Herr Karl Drechsler, Norderstraße 85, früher: Bischofsburg, 81 Jahre.

 

Am 06.10.1954: Frau Luise Lange, Waldstraße 30, früher: Insterburg, Tunnelstraße 4, 72 Jahre.

 

Am 07.10.1954: Frau Wilhelmine Migge, Burgstraße 9, früher: Karpauen, Kr. Angerapp, 71 Jahre.

 

Am 08.10.1954: Frau Martha Slottke, Flurstraße 21, früher: Danzig-Ohra, Boltengasse 22, 81 Jahre.

 

Am 09.10.1954: Elise Labjon, Karlstraße 6, früher: Schippenbeil, Kreis Bartenstein, 71 Jahre.

 

Am 09.10.1954: Herr Albert Witt, Ziegeleistraße 9, früher: Neuhäuser, Kreis Samland, 70 Jahre.

 

Am 13.10.1954: Frau Frieda Schemel, Schilfbrückstraße 6. Früher: Königsberg, Luisenhöh 1. 71 Jahre.

 

Am 14.10.1954: Frau Marianne Prange, Fruerlundlücke 13, früher: Königsberg (Pr.), Auguste-Viktoria-Allee 12, 70 Jahre.

 

Am 16.10.1954: Frau Johanna Neth. Husumerstraße 1, früher: Zinten, Wasserstraße 10, 70 Jahre.

 

Am 17.10.1954: Herr Paul Boretius, Moltkestraße 14, früher: Gut Bertaswalde, Kreis Samland, 72 Jahre.

 

Am 19.10.1954: Frau Marie Segatz, Lager Kielseng, 74 Jahre.

 

Am 20.10.1954: Herr Johann Kensbock, Burgstraße 16, früher: Allenstein, 75 Jahre.

 

Am 21.10.1954: Herr Hugo Weinberg, Friesische Straße 113, früher: Neidenburg, Feldstraße, 74 Jahre.

 

Am 23.10.1954: Frau Auguste Markgraf, Blücherlager, früher: Pillau, Gr. Fischerstraße 10, 84 Jahre.

 

Am 24.10.1954: Frau Johanna Kuhr, Apenrader Straße 7, früher: Königsberg (Pr.), Vogelweide 6, 73 Jahre.

 

Am 25.10.1954: Anna Gerlitz, Glücksburger Straße 88, früher: Königsberg, Löben. Langgasse 8, 73 Jahre.

 

Am 26.10.1954: Herr Gustav Rittner, Ballastbrücke 5, 77 Jahre.

 

Am 26.10.1954: Frau Louise Paugstadt, Lager Westerallee, früher: Königsberg, Oberlaak 20a, 72 Jahre.

 

Am 26.10.1954: Herr Johann Tomeit, Mützelburglager, früher: Memel, 74 Jahre.

 

Am 29.10.1954: Frau Berta Lach, Flensburg-Weiche, Lager II, früher: Ilgenhöh, Kreis Osterode, 75 Jahre.

 

Am 29.10.1954: Frau Emilie Lau, Klaus-Groth-Straße 7, früher: Hermsdorf, Kreis Heiligenbeil, 71 Jahre.

 

Am 30.10.1954: Frau Henriette Matzat, Lager Strandweg. 76 Jahre.

 

Am 30.10.1954: Frau Emma Porr, Südergraben 73, früher: Lötzen, Gymnasialstraße 8, 72 Jahre.

 

Am 31.10.1954: Frau Berta Simoleit, Harris-Leer-Straße 89, früher: Rastenburg, Hindenburgstr. 89, 72 Jahre.

 

Der Vorstand der Landsmannschaft Ostpreußen, Kreisverein Flensburg-Stadt, und die ganze Ostpreußenfamilie gratuliert allen ihren Geburtstagskindern aufs allerherzlichste! Armoneit.

 

Am 11. Oktober 1954 begeht Herr Oberregierungsrat, Geheimrat Hugo Dau, früher: Königsberg-Metgethen, jetzt Hamburg-Wellingsbüttel, Am Pfeilshof 4, seinen 90. Geburtstag.

 

Am 15. Oktober 1954 begehen die Eheleute Oberregierungsrat, Geheimrat Hugo Dau, und seine Gemahlin Jenny geb. von Sehmnann ihre diamantene Hochzeit. Sie leben seit der Flucht aus Königsberg-Metgethen bei ihrer jüngsten Tochter in Hamburg-Wellingsbüttel, Am Pfeilshof 4, und erfreuen sich bester Gesundheit.

 

Frau Elina Schischke, geb. Schelonka, aus Braunsberg Ostpreußen, jetzt in Seesen a. Harz, Bornhäuserstr. 4 wohnhaft, wird am 26. November 1954, 77 Jahre alt.

 

Am 12. Oktober 1954 vollendet Herr Eugen Reuser, aus Königsberg (Pr.) sein 78. Lebensjahr. Er wohnt jetzt in Salzgitter-Lebenstedt, Am Bauerngraben 4.

 

 

Seite 16   63-jährige Witwe reiste neun Jahre durch Russland.

HOF. „Mutter!“ stammelten zwei Junge Frauen auf dem Bahnhof des kleinen Ortes Schwarzenbach im Landkreis Hof. Dann versagten ihnen die Stimmen. Tränen liefen ihnen in Strömen über die Wangen. Die vom Schicksal gezeichnete alte Frau, die sie behutsam in die Arme schlossen, hatten sie noch vor ein paar Monaten für tot erklären lassen.Auf Krücken humpelte nun die 63 Jahre alte Witwe Herta Abramson das letzte Stück ihres Leidensweges.

 

Am 30. Januar 1945 hatte dieser Leidensweg begonnen. Damals wurde sie zusammen mit ihrem Mann von eindringenden Sowjetsoldaten aus ihrem Heimatort Medenau bei Königsberg nach Tilsit verschleppt. Von ihren beiden Töchtern wurde sie getrennt. Bei dem Treck des Elends zogen alte Männer an Stelle von Pferden die Wagen. In Tilsit verhungerte ihr Ehemann. Wenige Tage später schlich sich Frau Abramson bei klirrendem Frost des Nachts in ihren Heimatort zurück. Aber dort führten Sowjetsoldaten ein Schreckensregiment.

 

Tagsüber arbeitete Frau Abramson auf einer Kolchose, nachts verkroch sie sich aus Furcht vor den Russen in eine Höhle. Zwei Jahre führte sie buchstäblich ein Hundeleben.

 

Im Winter 1947 hielt sie es nicht länger aus. Sie versuchte bei Nacht über das vereiste Haff zu fliehen. Da wurde sie grell von dem gebündelten Licht großer Scheinwerfer erfasst. Wenige Minuten später wurde sie von polnischer Miliz verhaftet. Man übergab sie den Sowjets.

 

Ein Gericht verurteilte sie wegen „staatsschädigender Umtriebe“ zu fünf Jahren Zwangsarbeit. Drei Monate rollte sie dann in einem überfüllten Gefangenenwagen quer durch Russland nach Sibirien. Um sie herum starben die Häftlinge wie die Fliegen. In Sibirien wurde Frau Abramson bei Landarbeiten eingesetzt. Wenige Monate vor Ende ihrer Strafzeit brach sie sich das Kniegelenk. Nach ihrer Entlassung kümmerte sich niemand mehr um die Verletzte. Aber Frau Abramson gab nicht auf.

 

Zwei Jahre lang flickte sie den Mongolen in Kurpansk nahe der chinesischen Grenze die Wäsche. Sie fristete ein ärmliches Leben, legte aber von dem Wenigen noch zurück und verkaufte ihre letzten Habseligkeiten.

 

Am 1. September löste sie mit dem ersparten Geld eine Fahrkarte nach Moskau und fuhr auf eigene Faust los. Tatsächlich gelangte sie unbehindert in die sowjetische Hauptstadt.

 

Auf der dortigen Botschaft der „Sowjetzonenrepublik“ erhielt sie eine Fahrkarte nach Deutschland und 100 Rubel für Lebensmittel.

 

Die Berliner Vermisstensuchstelle hatte Frau Abramson bereits in sibirischen Gefängnissen mitgeteilt, dass ihre beiden Töchter in Schwarzenbach an der Saale leben, aber die Töchter erfuhren nichts von dem Schicksal der Mutter. Im März dieses Jahres ließen sie sie in Schwarzenbach für tot erklären.

 

Dieser Ort war nun aber die Endstation des Leidensweges für die vom Schicksal schwer geprüfte Frau Abramson, der sie in neun Jahren zweimal quer durch Asien geführt hatte.

 

 

Seite 16   Archiv für Grundbesitz

Auf der Hauptversammlung des Archivs für Grundbesitz e. V., die am Samstag den 9. Oktober nachmittags 14.30 Uhr im Sitzungssaal des Deutschen Museums in München stattfindet, wird Ministerialrat Dr. Kunisch vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, zum augenblicklichen Stand der gesamtdeutschen Probleme sprechen.

 

Alle Mitglieder des Archivs für Grundbesitz e. V. sind hierzu eingeladen, auch Gäste sind willkommen.

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