Ostpreußen-Warte, Folge 02 vom Mai 1950

Seite 1   Ostpreußengeist in der Fremde. Von Prof. Dr. Götz von Seile, Königsberg, jetzt Göttingen

 Er scheint wirklich vertrieben, der ostpreußische Geist. An keiner Stelle hat er einen Platz gefunden, an dem die Dinge, um die es geht, in dem Sinne und in dem Umfange betrieben werden, wie es nottut. Wenn man sich diese dürre Tatsache einmal klar vor Augen stellt, sieht man erst, wie stark die Erschütterung gewesen ist, die 1945 über das Land ging. Gewiss sind Menschen, die von dort vertrieben sind, wieder in Amt und Brot gekommen, aber man darf die Augen nicht davor verschließen, dass die Institution als solche zerschlagen ist. In manchen Fällen, vielleicht sogar in vielen, ist der Einzelne gerettet, was aber geschieht oder geschah, was sie im Lande verband?

Indes mag es interessant sein zu wissen, wo die Träger der deutschen Kultur in Ostpreußen ge- blieben sind.

 

Da ist zunächst zu sagen, dass die Professoren der Albertina zu einem nicht unerheblichen Satz wieder in ein entstehendes Amt kommen konnten. Unter ihnen stehen wohl die Mediziner an erster Stelle. Der Hygieniker Bürgers wirkt in Göttingen, der Anatom Heiß in München, der Pathologe Krauspe in Hamburg, der Vertreter der Zahnheilkunde Meyer ist in Göttingen, der Lehrer der Augenheilkunde Rohrschneider in Münster, der Physiologe Weber in Tübingen, der Anatom Bargmann in Kiel. Bei den anderen Fakultäten liegen die Dinge nicht so günstig wie bei den Medizinern, am besten noch bei den Juristen, wo die Professoren Bockelmann, Nolle, Schnorr von Carolsfeld, Weippert, Maurach wieder Inhaber eines ordentlichen Lehrstuhls sind. Von den Angehörigen der Philosophischen Fakultät wirken die bekannten Gelehrten von Glasenapp (Indologie) und Worringer (Kunstgeschichte) in Tübingen bzw. Halle, der Historiker Schieder ist in Köln, der Literarhistoriker Borchardt in München, der Sprachvergleicher Wißmann in Berlin. Werner Philipp, Vertreter der osteuropäischen Geschichte wirkt in Mainz, Musikwisssenchaftler Engel in Marburg. Der um das ost- und westpreußische Geistesleben so hoch verdiente Walter Ziesemer lebt im Ruhestand in Marburg, zu unser aller Freude an einer ostpreußischen Literaturgeschichte arbeitend. Hoffentlich sind allmählich die immer wieder auftauchenden Schwierigkeiten beseitigt, die seiner von so vielen mit Spannung erwarteten abschließenden Ausgabe der Hamann-Briefe entgegenstanden, nachdem die große Ausgabe der Schriften Hamanns von Nadler nun wenigstens angekündigt ist. Josef Nadler, auch er einst eine Zierde der Albertina, hat soeben in einem Salzburger Verlag eine große Hamann-Biographie erscheinen lassen. Von den Naturwissenschaftlern hat der Zoologe O. Köhler wohl als erster wieder das Ordinariat erhalten können, er lehrt jetzt in Freiburg. Professor Mothes, der Botaniker, ist erst im Winter 1949 aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt und leitet jetzt ein Forschungsinstitut in Gatersleben, der Physiker Schütz, ist in Ostaschkow, der Pharmakologe Merz lehrt in Freiburg. Fast alle Landwirtschaftler sind im Universitätsamt. Allen voran Professor Lang, der in Königsberg die selbständige Landwirtschaftliche Fakultät begründete und sich nun wieder in Kiel derselben Aufgabe mit größtem Erfolg unterzog. Die Landwirtschaftliche Fakultät von Bonn verlieh ihm das Ehrendoktorat.

 

Das ist in ganz großen Zügen der Stand der Dinge, soweit sie das Schicksal der einzelnen Universitätsprofessoren betreffen. Es war ungerecht zu sagen, dass diese Entwicklung nicht ihre lichtvollen Seiten hätte - für den Einzelnen. Gewiss, viele Einzelne sind untergekommen. Was ihnen und manch einem, der hier nicht erwähnt ist, gelang, ist dazu fast ausnahmslos privater Initiative zu danken. Für die Gesamtheit aber ist nichts geschehen. Die Universität Königsberg hat freilich als einzige Hochschule des deutschen Ostens das Glück, in der Persönlichkeit ihres letzten Kurators, Dr. h. c. Hoffmann, einen getreuen Eckehart zu besitzen, der sich in vorbildlicher Betreuung aller Angehörigen der ehemaligen Albertina angenommen hat, darüber hinaus im „Göttinger Arbeitskreis" für die Erhaltung ostpreußischen und überhaupt ostdeutschen Lebens eine noch längst nicht genügend beachtete Stätte schuf. Die Einzigartigkeit dieser Leistung hat die Göttinger Universität daher veranlasst, ihm die Würde ihres Ehrenbürgers zu verleihen. Aber auch diese hohe Ehrung vermag nicht darüber hinwegzutäuschen und will es auch gar nicht, dass für die große geistige Tradition Ostpreußens insgemein nichts geschehen ist und nichts geschieht, von kleinen, bezeichnender Weise rein privaten Ansätzen abgesehen. Die Institution ist zerschlagen. Die Frage, was aus dieser Tatsache zu folgern ist, wurde bisher noch nicht einmal gestellt. Während der letzten Kriegsjahre wurde in Königsberg im Rahmen der Universität eine Einrichtung ins Leben gerufen, deren Grundgedanke im Wesentlichen die Anregung des Botanikers Professor Mothes entsprang. In einem sogenannten „Forschungskreis" waren alle Menschen zusammengefasst, die nicht auf Grund ihrer amtlichen Stellung in produktiver wissenschaftlicher Arbeit standen, für die also die Wissenschaft Liebhaberei oder Nebenamt bedeutete. Da fanden sich unter der Betreuung der Universität zusammen Männer, wie der leider nicht mehr unter den Lebenden weilende Vogelforscher Tischler oder ausgezeichnete Kenner der Spinnen Ostpreußens Casemir, der leider verstorbene vortreffliche E. Anderson, unvergessen in seiner Eigenschaft als Direktor des Städtischen Museums in Königsberg, der städtische Archivdirektor Cause, heute an einem großen historischen Werk über den deutschen Osten arbeitend. Viele Schulmänner, Museumsleute, Archivare, Bibliothekare, Gene-ologen, Naturfreunde, Volkstumforscher waren hier zusammengeschlossen. Sie alle bildeten gewissermaßen eine geistige Humusschicht des Landes, deren Pflege sich die Universität angedeihen lassen wollte. Denn das war richtig gesehen, liegen doch bei jenen Männern und Frauen Kräfte, auf die das Land nicht verzichten konnte und wollte

 

Seite 5   Maienlied, von Simon Dach

 Wir sehn sich jetzt erfreuen

Der Erden ganzes Haus,

Die schöne Lust der Maien

Lockt Dorf und Stadt hinaus.

Mein Herz beginnt zu wallen,

Wann sich das Luftvolk schwingt

Und lässt ein Lied erschallen,

Dass Berg und Tal erklingt.

 

Die Herden gehn sich weiden:

Ihr träger Hirtenmann

Hebt hoch auf grüner Heiden

Ein freies Waldlied an,

Sieht, wie in großen Haufen

Dort um der Flüsse Rand

Die Herden sich belaufen,

Und wünscht ihm gleichen Stand.

 

Indem daselbst von weitem

Ein klares Bächlein quillt,

Das sich von beiden Seiten

In Gras und Laub gehüllt

Der Scherz herrscht aller Massen,

Die Lust bezwingt das Leid,

Die Welt ist ausgelassen

Mit Lieb' und Freundlichkeit.

 

Seite 5   Ostpreußische Landschaft vor fünfzig Jahren. Von Walter Grosse

„Was ich besitze, sah ich wie im Weiten, Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.“

 Die tiefe Wahrheit dieses Goethewortes hat wohl so mancher aus der älteren ostpreußischen Generation nie so stark empfunden, wie in den Jahren der Heimatferne. Mit einer oft geradezu unheimlichen Schärfe steigen die Bilder längst entschwundener Zeiten herauf - Menschen, Landschaften und Örtlichkeiten. Und so wandern die Gedanken auch zurück in eine Zeit, die erst fünfzig Jahre zurückliegt. Fünf Jahrzehnte sind an sich noch keine übermäßig lange Spanne, und gerade diese letzten fünfzig Jahre haben so viel Umwälzendes gebracht wie früher kaum der Lauf von Jahrhunderten.  

Da ist ein kleines ostpreußisches Landstädtchen, eine Kreisstadt, wie es deren wohl an die dreißig in unserer Provinz gab. Sie ähneln sich alle in ihrem Leben, alle sind sie noch stark landwirtschaftlich orientiert. Es sind die Jahre vor 1900, eine Zeit unerhörten stetigen wirtschaftlichen Aufstiegs für das Deutsche Reich. Aber das Leben in den kleinen, industriearmen Städtchen fließt noch ruhig, behäbig in glatten Bahnen dahin. Zwar steht auch für sie die Zeit nicht still, aber doch nur allmählich, nur schrittweise erobern sich die vielgepriesenen Errungenschaften der Technik den Ort. Erst seit wenigen Jahren gibt es in den Hauptstraßen richtige Bürgersteige, „Trottoir" genannt. Und erst seit kurzem ist ein neues Schlachthaus mit Licht und Luft entstanden. Aber immer noch herrscht die Petroleumlampe, und die Wasserleitung wird noch einige Jahre Zeit brauchen: allabendlich holen die Mädchen zwei Eimer an jeder „Pede" das Wasser aus den Pumpen in den Straßenecken, und in jeder Küche steht die grün und braun angestrichene große Wassertonne als wichtiger Bestandteil des Haushaltes.  

Auf den Straßen erscheinen anstelle der früheren Hochräder die niedrig gebauten „Velozipede", aber jeder Radfahrer ist registriert. Er muss ein Nummerschild am Rade tragen und darf für seine Fahrerlaubnis alljährlich eine Reichsmark in die Stadtkasse tragen. Jedes Pferd scheut noch vor dem blitzenden Vehikel, an dessen Lenkstange sich stets eine lange Stahlgerte befindet zur Abwehr der Hunde, die das Fahrrad ebenso hassen wie die uniformierten Briefträger.  

Von einer Ausweitung des Stadtraumes ist noch nicht viel zu merken. Das Stadtbild hat sich seit Jahrzehnten nicht allzu sehr verändert. Mehr als zwei Stockwerke hat kaum ein Haus. Weder Schrebergärten mit Lauben und Sonnenblumen noch Siedlungen und Wohnstraßen mit Einfamilienhäusern schließen sich an den Stadtrand an.  

Unvergleichlich mehr als heute beherrscht das Pferd die Straße. Am Vormittag steht vor den Kolonialwarenläden Fuhrwerk an Fuhrwerk; wer länger zu tun hat, zieht unter in der „Ausspannung", die zu jedem größeren Laden gehört. Ebenso wie das gemütliche Hinterstübchen, wo der „junge Mann" oder der Lehrling das Bier vor dem „Landwirtschaftlichen" kredenzt, den guten weißen Kornschnaps, in geräumigen und auch sogar in „zweietagigen" Gläsern, je nach Wunsch. Und wenn sich dort zur Dämmerstunde die trunk- und ehrenfesten Stammgäste versammeln, so erhalten sie nach alter Tradition bis zum fünften „Tulpchen" Grog-Untersätze aus Filz. Vom sechsten bis zum zehnten solche aus Nickel. Und darüber hinaus Ehrenuntersätze aus blankgeputztem, gold schimmerndem Messing.  

Was man von Pferden und Fuhrwerken sieht, ist in der Regel anständig und gepflegt, wie es sich gehört. Die Kutscher der großen Güter, die jeder Junge kennt, sind tadellos angezogen, einige in blauen Mänteln, und viele tragen voller Stolz einen gewaltigen Vollbart. Und immer wieder fällt es uns Ostpreußen auf, wie wenig gute Anspannung und gute Fuhrwerke man doch hier in West-Deutschland zu sehen bekommt - kein Vergleich zu den damaligen Zeiten in unserer Heimat, die nun einmal das Land der Pferde war.  

Um nur eines noch anzufügen: was war das doch für ein schöner und lustiger Anblick, wenn im Winter zur Zeit der damals sehr üblichen Schlittenpartien zehn, zwanzig hübsch gebaute Schlitten mit fröhlichem, gut abgestimmten Glockengeklingel durch die sonnenbestrahlte Schneelandschaft glitten und die leuchtenden, bunten Schneedecken sich über den Pferderücken bauschten. Es will mir eher scheinen, dass damals, in den neunziger Jahren, die Winter besonders lang und streng waren; vom November bis in die ersten Märztage hinein sind wir manchmal Tag für Tag Schlittschuh gelaufen. Dieser schöne Sport spielte damals in den kleinen Städten wie auch in der Großstadt Königsberg eine weit größere Rolle als später. Auch das stundenlange Tourenlaufen mit den langen Eispickeln war auf den Flüssen und auf dem Haff bis hinüber zur Nehrung sehr im Gange.

 

Da die Politik keine Wogen schlug, so gab es auch keine großen sozialen Spannungen, wie sich denn überhaupt das ganze soziale und gesellschaftliche Leben ziemlich einfach gestaltete. Es ließen sich im Großen und Ganzen drei Gruppen unterscheiden: die sogenannten Honoratioren, die Bürger und die Arbeiter, ohne dass diese Kreise nun dauernd schroff und feindlich gegeneinander abgeschlossen gewesen wären.  

Zu den Honoratioren zählten vor allen die Akademiker, je nach ihrer Persönlichkeit und ihrem Ansehen auch einige mittlere Beamte und die größten der Kaufleute und der Fabrikanten, soweit es deren gab. An der Spitze von allen stand der Landrat, damals unbestritten der Erste im Kreise. Oft blieb er jahrzehntelang in seiner Stellung und war mitunter auch durch seine Verwandtschaft mit dem Kreise eng verbunden. Im Vergleich zu späteren Zeiten war sein Verwaltungsapparat verschwindend klein und altpreußisch einfach: In unserer Kreisstadt war mit Ausnahme des Kreisbaumeisters nur der Rentmeister im Erdgeschoss unter der landrätlichen Dienstwohnung untergebracht. Die Bürgerschaft setzte sich in der Hauptsache zusammen aus Kaufleuten, Beamten, Lehrern, den damals noch sehr zahlreichen Ackerbürgern und den Handwerkern. Zur Gruppe der Arbeiter zählten alle übrigen.

Wenn man es so nennen will, so herrschte wohl eine Art Kastengeist, aber das war von altersher so, und die wenigsten fanden etwas dabei. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sah keiner groß auf den anderen herab. Man mochte aber gerne unter sich sein und gönnte dem anderen das gleiche

Vergnügen. Unter den Kaufleuten, vor allem aber unter den alten Handwerksmeistern gab es ganz prächtige, kernige, echt ostpreußische Männer, auf die man sich verlassen konnte. Meist hatten sie Haus, Hof und Garten, verstanden ihre Sache und wurzelten fest im Leben der Stadt. Natürlich gab es in diesem Bilde auch mancherlei Schatten. Der Klatsch blühte, jenes Erbübel aller kleinen Ortschaften, wo einer dem anderen in den Kochtopf gucken kann. Es gab auch allerlei Skandale und Skandälchen, aber im Allgemeinen hielt sich das alles in erträglichen Grenzen, und der Herr Amtsrichter machte keineswegs einen überarbeiteten Eindruck.  

Für unsere Mütter war das Leben ebenfalls nicht übermäßig aufreibend, wenn auch viele der heute selbstverständlichen Einrichtungen der Hauswirtschaft noch fehlten und Gas sowie Kraftstrom erst gerade am Horizont auftauchten. Die Frage des Personals war keinerlei Problem: Am Ziehtag zu „Martini" (10. November) kamen die Mädchen mit ihren geflochtenen Reisekörben in Mengen zur Stadt. Lebensmittel wurden beinahe alle ins Haus gebracht. Kaufleute, Fleischer, Bäcker ließen morgens nach dem Tagesbedarf anfragen; Frauen vom Lande brachten „der Madamchen" ihre in Kohlblätter eingehüllte Butter, ihre Gänse und Enten, sie brachten Beeren und Pilze, Krebse und Aale und im Herbst die köstlichen Neunaugen. Eier wurden nur nach Mandel und Schock verkauft.

In den neunziger Jahren gab es noch sehr wenig Genossenschaften und auch wenig Aufkäufer für die Großstädte, und so blieb wohl meistenteils das, was im Kreise an Lebensmitteln erzeugt wurde auch im Kreise. Es war daher alles billig, jeder lebte auf seine Weise gut, und wenn man daran denkt, dass in solch einer Kreisstadt von 4 - 5000 Einwohnern außer dem Kreisphysikus selten mehr als ein Arzt und kaum je ein Zahnarzt war, so muss man wohl zu der Überzeugung kommen, dass die Menschheit weniger krank und auch nicht so wehleidig war wie heute. Es gab keinen Zahnarzt, aber fast jeder Frisör zog mehr oder weniger geschickt einen Zahn für 25 bis 50 Pfennig, je nach dem Kraftaufwand. Das möchte ich jedoch nicht als einen Vorteil der damaligen Zeit hinstellen.

Behäbige Genügsamkeit und konservative Sinne zeigten sich auch in der Kleidung, selbst bei der Damenwelt fanden die Regeln der neuesten Mode eine nur stark gedämpfte Beachtung. Man sah lieber auf solide und vor allem dauerhafte Stoffe, und wer sich einen Gehrock machen ließ oder einen Zylinder kaufte, glaubte damit für seine gesamte Lebenszeit versehen zu sein. Und vollends die Kinder trugen noch lange mit Stolz die umgeänderten Bekleidungsstücke ihrer Erzeuger oder älteren Geschwister. Andere wären auch viel zu schade gewesen für die vielen Spiele in Wald und Feld, in Kiesgruben und an den Bächen. Wobei mit am schönsten im Herbst die Kartoffelfeuer waren: Noch heute tut mir jeder leid, der sich nie eine halbgeplatzte Kartoffel aus der glühenden Asche herausgeholt und sie nach langem „Räuber- und Soldatspiel" mit berechtigtem Hunger verzehrt hat.

Die Genügsamkeit jener Jahre zeigte sich auch auf dem Gebiet des Reisens. Natürlich wurden die notwendigsten Geschäftsreisen gemacht, aber eine alljährliche Sommerreise, und sei sie auch nur bis zur Samlandküste, hielten nur ganz wenige für nötig. Allenfalls wurde einmal ein kurzes Wochenende in Cranz verbracht. Man lebte ja in den kleinen Städten noch mitten in der Natur und war am Feierabend mit wenigen Schritten in der Feldeinsamkeit. Man ging dann auch damals weit mehr außerhalb der Stadt spazieren als später. Die vielen stillen Feldwege mit ihren Blumen und Gräsern verlockten dazu, und noch heute klingt mir der eigenartige friedliche Doppelruf der Wiesenschnarre - Wachtelkönig heißt der Vogel ja wohl - in den Ohren, der an Frühlingsabenden unaufhörlich aus den mit violettem Wiesenschaumkraut und gelben Dotterblumen besäten Wiesen emporstieg.  

An schönen Sonntagnachmittagen wurden auch größere Ausflüge in die Wälder unternommen, oft in großer Gesellschaft auf Leiterwagen. Man schämte sich dieser Beförderungsart keineswegs und auch das unvermeidliche Rütteln und Schütteln tat dem Frohsinn und dem Gesang keinerlei Abbruch.

Um aber auch etwas Anteil am Leben der großen Welt zu haben, war an Sonnabenden der Bahnhof ein beliebtes Ziel. Es gab noch keine Bahnsteigsperre, man spazierte auf dem „Perron" an die Züge heran, sah, wer ankam und abfuhr, bis die große Bahnhofsglocke mit drei Schlägen das Zeichen zur Abfahrt gab.

 

Noch so vieles könnte man aus jenen Jahren berichten, von den stets durstigen Polizeiwachtmeistern, von den Nachtwächtern mit Spieß und Feuerknarre, von allerlei Kneipen, von alten Originalen, die damals noch in der Fülle ihrer Pracht herumwandelten oder auf sonnigen Bänken ihre Prise nahmen. Zwei Weltkriege und die Vertreibung aus Ostpreußen haben erschreckend aufgeräumt unter der Generation, die jene Jahre vor 1900 noch mit Bewusstsein durchlebt hat. Wer die noch kennt, wird gerne an sie zurückdenken.

 

Seite 6   Unvergessenes Ermland. Walter Sperling

 Das Gesicht der ostpreußischen Landschaft ist reich an freundlichen Zügen; eine gütige Vorsehung hat den schon hart umbrandet gewesenen nordöstlichen Winkel unseres größeren Vaterlandes reich mit Schätzen beschenkt, die das Auge entzücken und Ruhe ins Herz legen.  

So auch mit dem schönen Ermland, dessen sanfte Höhen und still atmenden Wälder sich von der Küste des Frischen Haffs bis zu den Guberhöhen und dem Alletal hinziehen. Unvergesslich sind uns die Bilder dieses gesegneten Landes . . .

 

Kleine, saubere Städtchen, rote Ordensburgen und altersgraue Kirchen lagen im Grün des herrlichen Ländchens eingestreut, in dessen Tälern silberhelle Wässerchen eilig ihrem Ziel zustreben.

Wer vom Haff her der ermländischen Küste näherkam, sah schon von weitem den gotischen Pfarrturm der um 1241 vom Deutschen Ritterorden gegründeten Hauptstadt Braunsberg, und unweit auf steiler Höhe den erhabenen Dom des Koppernikus und das Städtchen Frauenburg; beides Siedlungen mit großer geschichtlicher Vergangenheit, deren steinerne Zeugen und Überlieferungen zu uns sprachen vom deutschen Werden des Ostlandes, denn nicht immer hat im Zeitgeschehenen die goldene Abendsonne von der Frischen Nehrung her ein friedliches Bild überstrahlt . . .  

Wie Torposten hüten diese beiden Haffstädte den Eingang zum Ermland, das noch manche Städteperle barg, so das einzigartige Heilsberg im grünen Simsertal, dessen Hochschloss weit aus dem Dächergewirr der urwüchsigen Kleinstadt - mit dem unverfälschten schlesischen Gesicht! - herausragte, und das idyllische Wormditt, dessen wunderhübscher, kleiner Markt von einem überdachten, Säulen getragenen Laubengang umgeben war. Das hochgiebelige Rathaus, ein Meisterwerk gotischer. Baukunst, zu dessen Füßen sich winzige Häuschen und Verkaufsbuden drängten, barg in seinem schmucken Dachreiter die älteste Glocke des Ermlandes, die seit 1384 wohl zu manchen Nöten ihre eherne Stimme ins Land hinaus gesandt haben mag. 

Wer kennt die Schönheit des ermländischen Walschtales, in der Nähe des Städtchens Mehlsack , oder die verträumte Eigenart Guttstadts mit seinem malerischen Storchenturm? ...

In unmittelbarer Nachbarschaft dieser alten Ordenssiedlungen rauschen die Wälder, in denen man noch bis in unsere Tage Spuren vorgeschichtlicher heidnischer Opferstätten fand. Hier saß das mächtige Geschlecht der Glottiner, die dem Ritterorden einstmals blutigen und heftigen Widerstand leisteten.  

Zwischen grün schimmernden Zauberseen stehen auf sanften Hügeln die viel jahrhunderte alten Städtchen Bischofsstein, Seeburg und Wartenburg; Siedlungen, die um 1300 im Schatten wuchtiger Burgen entstanden, die der Orden den heidnischen Litauern entgegensetzte. Die Krönung aller aber bleibt die ostpreußische „Wartburg": Rössel, deren Zinnen und Türme seit 1241 ins Bartenland hinausschauen - heute noch! -, und in deren romantischen Burghof es sich so schön träumen ließ von der Ordenszeit, vom Preußenaufstand um 1260, vom Städtekrieg 1453 bis 1463 und vom Reiterkrieg (1520 - 1523), und von all den großen Bedrängnissen, die der Zeitenlauf mit sich brachte.

Feierliche Stille lag über der entzückenden kleinen Stadt und ihrer Burg, von deren Wehrtürmen nicht mehr zur nächtlichen Stunde die Pechfeuer flackerten . . . Und heute? . . . Vielleicht sind ihre Tore geschlossen; vielleicht ladet nichts mehr zum besinnlichen Verweilen ....

 

Weiter südlich, als letzter Eckpfeiler des Ermlandes steht das stolze Ordensschloss Allenstein; eines der besterhalten gewesenen Baudenkmäler des Ostens, mit seinem großen, weithin sichtbaren Rundturm und den massigen Anbauten, an deren Mauern sich die gleichnamige Stadt anschloss, die noch in neuerer Zeit Schauplatz bedeutender geschichtlicher Ereignisse wurde. Hier entschied sich nach dem ersten Kriege das einstweilige Schicksal Ostpreußens in einem einzigartigen Bekenntnis zum Deutschtum.

 

Rote Burgen, stolze Schlösser, erhabene Dome; malerische Städtchen und liebliche Dörfer; Wälder und Seen, die unseren Vorfahren heilig waren, wie von einer Riesenhand auf den grünen Teppich Ostpreußens ausgestreut, - das war unser Ermland; eine der schönsten Gegenden Deutschlands überhaupt. Es bleibt unvergessen. 

Foto: Das Ordensschloss Allenstein. Hier wirkte Nikolaus Kopernikus viele Jahre.

Foto: Der Turm der Pfarrkirche in Braunsberg, der Stadt der vielen Internate und Seminare. Links ein alter Wehrturm der Stadtbefestigung. Sämtliche Aufnahmen: Walter Sperling.

Foto: Der romantische Innenhof der Ordensburg Rössel, unweit des Wallfahrtsortes Heiligelinde

 

  

Seite 9   Familienanzeigen

 Die Verlobung ihrer Tochter Adele mit dem Landwirt Herrn Rudolf Kunze, Farm Le Roy USA, geben bekannt: Gert Freiherr von der Goltz-Compehnen und Ursula Freifrau von der Goltz, geb. von Heyking, Bode bei Ebstorf, im Februar 1950

 

Michel und Reni haben ihr Schwesterchen Ivy Lorraine bekommen. Ilse Sanderson, geb. Schulz und Major Meiville A. Sanderson. Lafayette-Indiana-USA. 914 Highland Avenue. Früher: Königsberg Pr., Am Fließ 33. 16. April 1950

 

Ich bin beim Landgericht Osnabrück und den Amtsgerichten zugelassen. Mein Büro befindet sich in Osnabrück, Neumarkt 3 (Haus der Sparkasse). Telefon: 75 49. Dr. Max Hoffmann, Rechtsanwalt und Notar früher: Königsberg (Preußen).

 

Dr. Hermann Roquette, (früher Königsberg/Pr.) Rechtsanwalt beim Landgericht Nürnberg-Fürth und Amtsgericht Erlangen. Erlangen Marquardsenstraße 4, Telefon: Sammelruf 72, App. 210

 

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Seite 9   Suchanzeigen 

Achtung! Königsberg (Pr.) Kopernikusbunker. Wer kann über das Schicksal der Insassen beim Russeneinfall am 9. April 1945 Auskunft geben. Wer weiß etwas von dem Verbleib meines Sohnes Rudolf Winkler, damals 15 ½  Jahre alt. Er war als verwundeter Volksstürmer dort untergebracht.

Für jede Auskunft herzlichen Dank im Voraus. Aug. Albert Winkler, früher Königsberg (die bekannten Winkler-Stuben) jetzt Bochum-Laer, Wittenerstraße 509.

 

Betriebsdirektor Erich Bednarski. Wer weiß etwas über den letzten Leiter der Reichsmonopolverwaltung f. Branntwein in Königesberg? Wer von den ehem. Betriebsangehörigen war mit ihm bis zur Kapitulation zusammen Nachricht an Gerhard Bednarski, Hannover, Kleiststraße 10.

 

Rechtsanwalt Dr. Rosenkrantz und Fünfstück, früher Königsberg, Junkerstraße, ges. von Martin Raabe, Berlin W 15, Pariser Straße 15.

 

Florian Stangl, Lehrer, Landsberg.Ostpr., Töpferatr. 127, zuletzt bei Inf.-Einheit bei Helllgenbeil. Nachricht an Melanie Stangl, Karlsruhe/Baden, Südendstr. 36.

 

Wolfgang Laechelin und Frau Käte geb. Coranda, Königsberg, Koggenstr.; Sabine Koch geb. Coranda, Ärztin, Königsberg, Koggenstr.; Bürgermeister Lengnig aus Laptau, ges. von Klara Selke, Oppenau/Renchtal, Vlnzentiushaus/Baden.

 

Köngisberg - Ratshof - Richterstr, Wer war beim Fall Königsberg mit dem Tapeziermeister Hermann Lange aus Labiau in der Richterstraße 25, einem Königsberger Postbeamtenehepaar und anderen in einem Keller zusammen? Nachr an Familie Lange, Offenbach/Main, Vorderwaldweg 16.

 

Bruno Tanski sowie Angehörige, Königsberg, gesucht von Erich Norkeweit, (13 b) Slmbach/Inn, Pfarrkirchnerstraße 8.

 

Gustav Bruhn und Angehörige dieser Firma werden ges. von Gertrud Norkeweit geb. Kulks.

(13 b) Simbach/Inn, Pfarrkirchnerstr. 8.

 

Naujoks, Walter, letzte Nachr. Januar 1945 Raum Nasielsk, F.-Nr. 24 241 D. Nachrichten erb. an G. Naujoks. Rotenburg/Hann., Verdener Straße 29.

 

Paula Anhut geb. Huhn, geb. 08.04.1913, aua Mawern, Kreis Heilsberg, verschleppt Februar 1945. Leo Anhut, geb. 01.02.1912 aus Mawern, Kreis Hellsberg, vermisst in Stalingrad. Nachrichten an Eduard Anhut, (22 a) Wülfrath/Rohdenhaus, Gut Thielenhaus bei Düsseldorf.

 

Wiesotzkl, Heinz, Werkmeister aus Königsberg, Rudauer Weg; Bries, Eva u. Ursula aus Pr.-Holland, K. Freiburger Str. 1, von Dr. Leo Born, Hamburg-Rahlstedt II, Nordlandweg 42.

 

Ernst Heinrich und Frau aus Radnicken-Grünhof bei Cranz, ges. von Ernst Nehrenheim. Landshut/Bayern, Innere Münchnerstraße 67.

 

Prof. Dr. Blohmke, Königsberg, Krankenhaus der Barmherzigkeit. Schwestern; Apoth. Dr. Fraude, Königsberg.; Kaufmann. Krüger, Königsberg., Bachstr.; Apoth. Rudolf, Königsberg, Sternapoth.; Th. Grünau, Königsberg, Minerva-Apoth.; Frl. Apoth. Lenz, Königsberg., Ostland-Apoth.; Frl. Apoth, Dr. Boas, Königsberg. Pharm.-Inst., ges. von Otto Köhler, Hitzacker, Elbe, Friedrich-Hain.

 

Russlandheimkehrer! Frieda Ratschkowski, geb. 06.07.1912, verschleppt 07.02.1945 aus dem Krs. Pr.-Holland; O.-Gefr. Gustav Ratschkowski, geb. 18.02.1900, aus Raunen, ges. von Paul Ratschkowski, Südhorsten 3, Krs. Schaumburg-Lippe.

 

Aust, Gustav und Grete aus Königsberg, Unterhaberberg 26 sowie Aust, Elsa aus Königsberg., Arnoldstr. 1, von Kurt Aust, Moers/Rhld., Cecilienstraße 77.

 

Familie Drescher, Königsberg, Hansaring, Polizeipräsidium, von Herta Zierulla, Karlsruhe, Georg-Friedr.-Straße 21.

 

Helene Schukkel aus Lintental, Krs. Elchniederung, ges. von Schwester Brunhilde Noah, Braunschweig-Mascherode, Stadt. Krankenhaus 11

 

Dipl.-Ing. Alfons Lübner, Direktor der Techn. Werke Braunsberg, geb. 10.08.1905, als Gefr. der Feldp.-Nr. 35 225/D am 20./21.01.1945 in der Nähe von Kreuzingen-Insterburg schwer verwundet in russ. Gefangenschaft geraten. Nachricht (gegen Vergütung d. Auslagen) erbeten an Olly Lübner, Krefeld, Rheinland, Schwertstraße 144.

 

Boehm, Heinz, Obgfr., Feldpostnummer: L 06 758. Wer war nach Auflösung der Einheit Februar 1945 in Jüterbog oder bei neuer Einheit mit ihm zus.? Nachricht an Ernst Boehm, (14 b) Stetten a. d. Donau 103, Krs. Tuttlingen.

 

Russlandheimkehrer! Wer hat meinen Mann, Rittmeister der Reserve Friedrich von Bassewitz-Fuchshöfen, geb. 29.06.1898, letzte Feldpost.-Nr. 36 100 C, nach dem Marsch in die Gefangenschaft vom Berliner Hof zur Schichauerstr. am 09.04.1945. Königsberg, lebend oder tot gesehen? Augenzeugenberichte erbeten an Carla von Bassewltz, Pronstorf üb. Bad Segeberg/Holstein

 

Legten, Ullrich, aus Sanglienen, Kreis Fischhausen, Bark, Helene aus Danzlg-Brösen. gesucht von Adolf Nickstadt, (1) Berlin-Wilmersdorf, Kaiserallee 181.

 

Brügge, Rudolf, geb. 21.03.1888, Hauptwachtm. L.-Sch.-P., Rosenau, Feldpostnummer 65 100 C, ges. von Gertrud Brügge, Klixbüll über Niebüll, Schleswig.

 

Barth, Amanda, Martha u. Elisabeth aus Königsberg, zuletzt Nasser Garten 26 bis Mitte März 1945. Salecker, Helene, Königsberg., Reickstr. und Salecker, Lisbeth, Wormditt, Bahnhofstr., ges. von P. Helmut Walsdorff, (23) Schiffdorf b. Bremerhaven.

 

Zenker, Erich und Frieda geb. Strupat, Königsberg, Samitter-Allee 45/46, gesucht von Richard u. Eva Liebich. (20 b) Braunschweig, Jägerhof, fr. Kbg., Hintertraghelm 28.

 

Oberfeldwebel Hans Majewski, Allenstein, zuletzt Leutnant, in Kurland verwundet, Angeh. der 13. Komp./I.-R. 2 u. der Fußballmannschaft Hindenburg in Allenstein, gesucht von W. Lansink, Groß-Burgwedel üb. Hannover.

 

Kameraden des Obgefr. Franz Schwarz, geb. 11.04.1911. Letzte Nachricht vom 20.11.1944 aus Blumenthal, Krs. Insterburg. Dort bei einer Heeres-Art.-Abt. eingesetzt gewesen. Nachrichten an Willi Mauruschat, Lünzen 41 Uber Soltau/Hann.

 

Krüger, Elfriede aus Königsberg, Krausallee 12, gesucht von Frieda Wallat, Darenbeck Nr. 8 über Beetzendorf, Krs. Salzwedel.

 

Anna Zakrcewski, geb. Bildhauer und Kinder Rosa und Brigitte aus Königsberg, Unterhaberberg, zuletzt in Zimmerbude. gesucht von Franz Zakrzewski, Wilhelmshaven, Paul-Hug-Straße 13.

 

Hubert Grzeski aus Bertung, Krs. Allenstein, von Anton Palmowski, Hahlen 319, Krs. Minden/

Westfalen.

 

Therese Pawelske geb. Kurschat, geb. 15.10.1878, aus Balten, Krs. Elchniederung, nach dem Samland evakuiert, ges. von Walter Pawelske, Hangelar b. Bonn, Niederberg über Siegburg.

 

Königsberger: Martha Brandt, geb. Gerlach mit Ihrer Mutter Marg. Gerlach geb. Mertens in Königsberg, Scharnhorststr, 9 a, zurückgeblieben; Elsbeth Gerlach, Königsberg, Alter Garten 30 III. Russlandheimkehrer: Feldwebel Paul Dembowski. geb. 06.07.1902 in Rastenburg, Bankbeamter, Feldpostnummer 487 88. Letzte Nachricht 01.05.1946 aus Moskau, soll 1946/47 auf dem Heimtransport vor Warschau gestorben sein. Nachrichten erbeten an Paul Brandt, (13 b) Amerang 22 über Endorf/Oberb.

 

August Radzko (verschleppt), Marie Radzko und Tochter Frieda aus Balzhöfen (Pr. Eylau) gesucht von Frl. Ida Ziembach, (20 b) Lobach 9 üb. Holzminden/Weser.

 

Schwester Franziska Lucht, geb. 09.03.1866, letzte Wohnung Elbing, Feldstr. 16. Soll in Elbing verstorben und im Garten des Diakonissenhauses beerdigt sein. Nachricht an Gertrud Hardt, München 23. Brandenburgerstraße 12. bei Kalender.

 

Seite 10   Die Neidenburger Bilderöfen. Dr. Walter Schlusnus, Icking

Foto: Kacheln eines Ofens des Meisters Johann Milk. 1804

Foto: Ostpreußische Töpferkunst – Kacheln eines Ofens vom Jahre 1794

Foto: Kacheln eines Ofens des Meisters Gottlieb Götz in Neidenburg vom Jahre 1844 

„Gottlieb Goetz in Neidenburg 1844". Wir wissen nichts vom persönlichen Leben dieses Meisters der Kachelbildnerei, für dessen Töpfererzeugnisse man vergeblich in der gesamteuropäischen Volkskunst nach etwas vergleichbarem suchen wird, das so volkstümlich echt wäre wie jene alt vertrauten südostpreußischen Bilder-Öfen. Wir haben nur seinen Namen und die eine Jahreszahl seines Lebens und Schaffens, geformt in Ton und in bunten Farben gemalt, glasiert und für die Dauer der Jahrzehnte im Feuer gebrannt.  

Wir haben sein Werk in einer hübschei Anzahl heimatlicher Ofenkacheln. Doch nein - wir hatten es, wir haben heute auch dies nicht mehr, nur noch das Bild, die Photographie, die nicht die herrlichen Farben der bunten Kachelbilder wiederzugeben vermag.

 

Das also waren unsere heimatlichen masurischen Öfen, vertraut und warm und anheimelnd, - und noch mehr: phantastisch und lustig und verzaubernd, der Sammelplatz der Familie am Winterabend, der Lieblingsplatz der Kinder und Alten in der Dämmerstunde, wenn die Großmutter am surrenden Spinnrad uns Geschichten erzählte, - so bunt und phantastisch wie die Kacheln des Ofens selber, dessen Bilder sich zu bewegen und zu tanzen anfingen, wenn die Großmutter sprach.  

Im südlichen Ostpreußen, dem westlichen Masuren, der Gegend von Neidenburg, Ortelsburg und Allenstein, waren die Neidenburger Öfen einmal reich verbreitet. Hier hatte sich, getrennt von anderen bedeutenden keramischen Werkstätten Altpreußens wie z. B. denen am südwestlichen Ufer des Frischen Haffs (von Elbing bis Tolkemitt) oder den oberländischen (Mühlhausen, Preußisch-Holland), eine eigene Töpferkunst entwickelt, die besonders in der Ofenkunst eine hohe Blüte erreichte. War die Tonbrandkunst des Oberlandes und des Frischen Haffs von holländischen Antrieben und Anregungen gefährdet, die auf dem Seewege über Danzig und Elbing wirksam wurden, so lässt sich bei der Neidenburger Ofenkunst nur schwer ein Zusammenhang mit anderen Zentren der Keramik suchen, und man muss ihr eine ausgesprochene Eigenständigkeit einräumen. Denn bis in die Neidenburger Gegend reichten nicht die Einflüsse der Seeverbindungen. Bis hierher kamen keine Schiffe, die holländische Tonerzeugnisse - meist als Ballast - von ihren Fahrten zurückbrachten. So hatte die Neidenburger Ofenkunst - abgelegen von den Verkehrsadern - ganz Eigenes geschaffen, eine in den volkstümlichen Kunstformen außerordentlich spielerische Lebendigkeit entfaltet und länger als manch anderer Bereich volkstümlicher Kunst in Deutschland alte Arbeits- und Verzierungsweisen bewahrt.

 

Mittelpunkt der masurischen Tonbrandkunst waren Neidenburg und Willenberg. Im Kreise Neidenburg hatte sich die Liebe zu den alten bildgeschmückten Ofenkacheln bis in unsere Zeit erhalten, wenn diese auch seit Einführung der maschinellen Kachelherstellung nicht mehr gefertigt wurden. So fand ich noch im Jahre 1936 in waldversteckten Dörfern vereinzelt in manchem Bauernhaus wertvolle, alte Kacheln - neu eingesetzt in Herd und Ofen als geachtete Symbole traditionellen Heimatbewusstseins wie im Hause des Bauern Kannenberg in Malshöfen, wo eine hübsche Reihe alter masurischer Kacheln den heimischen Herd zierte.

 

Die Tradition des Neidenburger Töpfergewerbes reicht bis in die Ordenszeit zurück. So wird u. a. auch in den Akten des Deutschen Ritterordens berichtet, dass der berühmte Hochmeister der Blütezeit des Ordensstaates im 14. Jahrhundert, Winrich von Kniprode, einen Neidenburger Töpfermeister nach Italien entsandt habe, um ihn in seiner Kunst weiterzubilden und ihm Anregungen zu verschaffen.

 

Nach den bis in unsere Zeit erhalten gewesenen Öfen und Bildkacheln zu urteilen, soweit sie den Brandschatzungen des ersten Weltkrieges entgangen waren und in den Heimatmuseen von Neidenburg. Orteisburg und Allenstein wie auch in einzelnen Bauernhäusern Masurens zu sehen waren, hatte die keramische Volkskunst Neidenburgs im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Blütezeit erlebt. Denn aus dieser Zeit stammten die bekanntgewordenen Zeugnisse. Man muss dabei jedoch berücksichtigen, dass gerade die Grenzgebiete fortgesetzt unter mehrfachen kriegerischen Überfällen gelitten haben. So dürfte z. B. der Tatareneinfall im schwedisch - polnischen Kriege von 1656/57 ebenso wenig von den südostpreußischen Bilder-Öfen übrig gelassen haben wie von den kostbaren ostpreußischen Bildteppichen. Erst nach dem Nordischen Kriege beginnen die preußischen Könige dem fast restlos entvölkerten, um 1700 noch von einer wütenden Pest heimgesuchten Grenzgebiet durch Neubesiedlung und Förderung des Gewerbes ihre volle Aufmerksamkeit und Fürsorge zuzuwenden.

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts muss sich jedoch die keramische Kunst in Neidenburg wieder zu beachtlicher Höhe entwickelt haben. Denn im Jahre 1759 werden auf behördliche Veranlassung die Akten der Neidenburger Töpferinnung neu angelegt, die also schon früher als Handwerkerverband bestanden haben muss. Mehrere Meister einer späteren Töpfer-Generation sind nach ihren erhalten gebliebenen Erzeugnissen bekannt geworden, und ihre Namen waren zum Teil noch von den gebrannten Kacheln abzulesen, so aus dem Jahre 1792 der Meister Pantell, Johann Milck 1804, Andreas Salewski 1833, Friedrich Kaehler 1837. Gottlieb Goetz 1844. Der Töpfermeister Friedrich Kaehler, dessen Ofenfabrik noch bis zum zweiten Weltkrieg bestand, hatte den Anfang mit der fabrikmäßigen Herstellung von Ofenkacheln gemacht. Jedoch behielt die handwerkmäßige Töpferarbeit noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts volle Geltung.

 

Erst als der Bau der Eisenbahn einsetzt, beginnt die handwerkliche Töpferkunst von der maschinellen Ofenindustrie überflügelt zu werden. Sehr bald hört die individuelle Formenentwicklung der Kachelbildnerei auf. Eine Volkskunst vielgestaltigen Inhalts stirbt plötzlich ab. Seither unterscheiden sich die in Neidenburg hergestellten Kacheln nicht mehr von anderswo üblichen.

 

Die alten, handwerklich hergestellten Bildkacheln vermitteln ein äußerst eindrucksvolles Bild vom Vorstellungsbereich und der lebendigen Erlebniskraft der Menschen Südostpreußens. Wollte man den Gehalt dieser handwerklichen Kunstwerke aus Ton und Farbe vom Zweck, den diese Öfen als Wärmespender erfüllten, abstrahieren und in Begriffe fassen, man würde der Bedeutung dieser Öfen in der Bauernstube Masurens nicht gerecht werden. Die ganze stimmungsvolle Sphäre der warmen Ofenecke in der Stube des masurischen Hauses muss in die Betrachtung der reichen und realistischen wie sinnbildhaften Ornamentik der Kacheln einbezogen werden. Wenn an den langen Winterabenden des Ostens sich in der warmen Ofenecke die Hausgenossen oder die jungen Leute der Nachbarschaft versammelten, wenn die Spinnräder der Frauen und Mädchen surrten und die Schnitzmesser in den Händen der Männer und Burschen arbeiteten, wenn in den „Zwölften", den „Schwitzkes". die ganze Nachbarschaft sich reihum in den Häusern allabendlich zum Federreißen wie zu einem Fest einfand, dann lebte das vertraute Gebilde der Ofenkacheln heimlich auf. Humor und Scherz, Spott und Spuk wurden lebendig im Munde der Alten und Jungen, und Erzählung und Witz wechselten mit Rundgesang und Kehrreim. Spielerische Phantasie erfand nicht enden wollende Lügenmärchen. und oft knüpfte sich hier das heimliche Liebesband zwischen den Geschlechtern. Die „Großchen" erzählte Kindern und Enkeln von den Schicksalen vergangener Zeiten. Die Veteranen verloren sich in ihre Erlebnisse ferner Kriegsreisen, und die jungen Männer rühmten sich ihrer Dienstzeit. All diese Erleben strahlte das Kachelgebild wie ein Zauberspiegel aus.

 

Der Reichtum der Bildmotive ist schier unbeschreiblich. Szenen aus dem Alltags- und Dorfleben wechseln mit Erinnerungsbildern des Soldatenlebens in der Stadt und in fremden Ländern. Reine Phantasiedarstellungen seltsamer Fabelwesen lösen stilisierte geometrische Blumenornamente ab. Modische Frauengestalten und seltene Vögel. Uhren und Ordenssterne - fast unerschöpflich scheint der Reichtum der Bildmotive. In der plastischen Form wie in der Mathematik sind die Kacheln ebenso unterschiedlich wie in der Farbzusammenstellung. So beliebig ein Ofen aus verschiedenen Kacheln zusammengesetzt werden konnte, so lebhaft ist die Buntheit mancher Öfen. Manche Meister beschränkten sich jedoch in der Farbgebung auf zwei oder gar eine Farbe. Bevorzugt wurden grün, gelb, braun und blau. Die Neidenburger Bilderöfen nehmen

in der ostpreußischen Volkskunst einen eigenen Platz ein. Der Fluch des Tatarenreiters, den die Kacheln ebenso abbildeten wie die bunten Blumen der heimatlichen Gärten, hat die Zeugnisse menschlicher Phantasie und Kunstfertigkeit in gleicher Weise wie die Menschen selbst erreicht - diesmal schrecklicher und grausamer als je zuvor in der harten Geschichte Ostpreußens. Aber so schnell das Blut der Menschen im Sande verrinnt, so wenig schweigt der gerechte Geist einer 700- jährigen ostpreußischen Geschichte

 

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